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Vom Verhältnis der Intelligenzen bei Mensch und Maschine


Ramge KI

„Auf den kommenden rund 100 Seiten versuche ich […] der Frage nachzugehen, warum es uns so schwerfällt, Entscheidungen zu treffen, und wie maschinelle Entscheidungsassistenz uns genau in einem solchen Fall dabei helfen könnte, unsere menschliche Entscheidungsintelligenz zu erhöhen.“

Maschinen wissen immer, was zu tun ist. Menschen nicht. Diese Feststellungen sind das Fundament für die Glaubensgrundsätze/Ausgangslagen in einer großen Anzahl von dystopischen Sci-Fi-Filmen und Büchern, in denen es um das Verhältnis von/den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, Berechnung und Intelligenz, Verstand und Gefühl geht.

Oft die zentrale Frage: können Maschinen (vor allem KIs) bessere Entscheidungen treffen als wir? Der Mensch ist Geist, aber auch Körper, mit Bedürfnissen, Trieben, Ängsten, Abhängigkeiten, etc., die allesamt unsere Entscheidungen in einem hohen Maß bedingen, vielleicht sogar mehr als unsere intellektuellen Kompetenzen. Im Prinzip ist eine KI die Vision eines Geistes ohne Körper; Verstand, der durch nichts mehr von seiner Kernkompetenz abgelenkt wird.

In all diesen Filmen und Büchern haben die KIs meist beeindruckende Fähigkeiten im Bereich der Berechnungen, aber auch der selbstbestimmten Entscheidungen erlangt. Fast immer kommt es dann zur Katastrophe, weil es ihnen trotzdem an sozialer Kompetenz mangelt. Hat soziale Kompetenz Auswirkung auf die Qualität von Entscheidungen?

„Wer eine Entscheidung trifft, macht sich angreifbar. Wenn alles klar ist, treffen wir keine Entscheidung, sondern setzen eine logische Schlussfolgerung um. […] Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Thomas Ramge Buch ist im Prinzip eine mit Beispielen unterfütterte Erläuterung des Entscheidungsverhaltens von Menschen und Maschinen, und wie dieses, kombiniert oder voneinander lernend, verbessert werden kann. Er machte im Verlauf des Textes aber auch ein paar interessante Definitionsunterschiede fest, z.B.: was Entscheidungen sind und wo der Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Entscheidungen liegt.

In Ersteren sind Maschinen, KIs und Algorithmen besser, denn dort geht es vor allem darum, auf einen bestimmten Feld, das klar definierten Funktionen und Parametern unterliegt, eine große Datenmenge zu überblicken, zu analysieren und statistische Wahrscheinlichkeiten daraus abzuleiten. Bei komplexen Entscheidungen wiederum, ist der Mensch (tendenziell) besser, weil es hier oft darum geht, auch außerhalb von bestimmten Parametern zu denken, die Dinge nicht nur unter einem Gesichtspunkt zu betrachten. Es braucht eben doch soziale Kompetenz um komplexe, das Menschliche betreffende Entscheidungen zu fällen. Oder wie Ramge es formuliert:

„Das Leben ist aber nicht kompliziert. Es ist kein Schachspiel. Das Leben ist komplex. Es ist ein Fußballspiel. […] Maschinen haben mit Exponentialfunktionen freilich keine Schwierigkeiten, nicht einmal Taschenrechner. Doch verfügen wir Menschen im Unterschied zu fast allen ausgefeilten KI-Anwendungen über die Fähigkeit, logische Systeme zu wechseln, wenn wir merken: Die Situation ist anders als erwartet. Dann ziehen wir aus unserem Erfahrungswissen Rückschlüsse auf bis dahin unbekannte Situationen.“

Ramge weist des Weiteren darauf hin, dass KIs und Algorithmen die Welt nicht nur durchschaubarer, sondern gleichsam undurchschaubarer gemacht haben:

„Unser Leben im Allgemeinen und wirtschaftliche Abläufe im Besonderen sind dank der Rechenkraft im Zeitalter der Daten im Wortsinn berechenbarer geworden. Und zugleich bewirkt die Digitalisierung das genaue Gegenteil. Sie macht die Welt viel unberechenbarer, weil sie die Rahmenbedingungen für ihre Berechnungen destabilisiert.“

Auch wenn Ramge einiges Interessantes aufmacht, wiederholt und verzettelt er sich hier und da und springt manchmal allzu schnell von Beispielen zu Erläuterungen zu Zusammenfassungen, etc. Er argumentiert trotzdem gut, warum KIs und Algorithmen mit ihrer Rechenkapazität, vor allem in geschlossenen und klar definierten Systemen, wertvolle Arbeit leisten können, die, kombiniert mit unserer eigenen natürlichen Intelligenz, eine effektive Steigerung von Prozessen herbeiführen kann. Auf absehbare Zeit aber, wird keine Maschine uns das Denken abnehmen oder uns darin überflügeln können. Immer wieder, so Ramge:

„sehen [wir] uns zurückgeworfen auf die Kernkompetenz menschliche Intelligenz: herauszufinden, was zu tun ist, wenn wir nicht wissen, was zu tun ist.“

Zu “Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez


Unsichtbare Frauen

Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Beginnend mit der Theorie vom Mann als Jäger räumten die Chronisten der Vergangenheit der Frau in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht viel Platz ein. Stattdessen galten männliche Lebensläufe als repräsentativ für alle Menschen. […] Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. […] Die von Männern nicht berücksichtigten frauenspezifischen Faktoren betreffen die verschiedensten Bereiche. Dieses Buch wird jedoch zeigen, dass drei Themen wieder und wieder auftauchen: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen.

Wenn es um die Sicherheit bei Autounfällen geht, werden die dazugehörigen Vorrichtungen abgestimmt auf Körpertypen, die auf männlichen Modellen beruhen; ebenso ist es bei verschiedenen besonderen Kleidungsstücken wie etwa schusssicheren Westen. Regale werden so konstruiert, dass ein durchschnittlicher männlicher Körper das oberste Brett erreichen kann. Räumdienste in Städten räumen priorisiert die Straßen frei, statt die Fußgänger- und Fahrradwege, die sehr viel öfter von Frauen frequentiert werden.

Dies sind nur einige anschauliche Beispiele, fast noch harmlos. Zu ihnen gesellen sich die großen Ungleichheiten bei der Bezahlung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf männliche und weibliche Körper in der Öffentlichkeit und, auf einer abstrakten Ebene, das generelle Fehlen eines weiblichen Faktors in den Erhebungen von Daten zu jeglichem Thema. Dabei wird nicht nur die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen systematisch unterschlagen, sondern elementare und nachweislich feststellbare Bedürfnisse von Frauen bleiben unberücksichtigt. So kommt es zu der Welt in der wir leben – einer Welt, die für Frauen ein wesentlich problematischerer und unzureichend eingerichteter Ort ist als für Männer. Und auch das allgemeine Narrative dieser Welt, mit allen darin zusammengeführten Geschichten von Erfolg, Glück, etc. ist meist männlich.

Die Folge dieser zutiefst männlich dominierten Kultur ist, dass männliche Erfahrungen und Perspektiven als universell angesehen werden, während weibliche Erfahrungen – also die Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als, nun ja, Randerscheinung wahrgenommen werden. […] Deshalb auch ergab 2015 eine Studie über Wikipedia-Einträge in mehreren Sprachen, dass Artikel über Frauen Wörter wie »Frau«, »weiblich« oder »Dame« enthalten, während Artikel über Männer nicht »Mann«, »männlich« oder »Herr« umfassen (weil das männliche Geschlecht stets unausgesprochen unterstellt wird).

Gerade was die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrifft, haben wir meist die männliche Geschichte und die Errungenschaften für die Männer vor Augen – Frauen haben von der Athener Demokratie ebenso wenig profitiert wie von Renaissance und Aufklärung, trotzdem werden sie als übergreifende Errungenschaften gefeiert (die emanzipatorischen Bewegungen gelten dagegen dezidiert als Errungenschaften nur für Frauen). Diese aufs Männliche fixierte Weltsicht wird, wie Criado-Perez sehr umfassend darlegt, für universell gehalten, während eine weibliche Perspektive meist als ideologisch (!) aufgeladen gilt und mit diesem Argumente auch oft beiseitegeschoben wird.

»Unsichtbare Frauen« erzählt, was geschieht, wenn wir die Hälfte der Menschheit einfach vergessen. Es zeigt, wie die geschlechtsbezogene Datenlücke Frauen im Lauf eines mehr oder weniger normalen Lebens schadet – hinsichtlich der Stadtplanung, der Politik oder der Arbeitsplätze.

Es ist in der Tat ein Mammutwerk, das die Autorin hier vorgelegt hat, und das mit jeder vorgebrachten Statistik, mit jedem neuen Themengebiet, auf das Criado-Perez zu sprechen kommt, fundamentaler wird. Man kann es, so behaupte ich, nicht ohne teilweises Entsetzen und Erschrecken lesen. Dass die Macht- und Bezahlstrukturen in unseren Gesellschaften ungerecht sind, ist bereits in einer breiteren Öffentlichkeit angekommen. Dieses Buch aber zeigt, wie tief die Wurzeln, Vorstellungen und Mechaniken, die diese Strukturen stützen und von ihnen hervorgebracht wurden, in alle Winkel des Alltags reichen. Von den einfachsten Wahrheiten bis zu den komplexesten Diskriminierungen ist dabei alles enthalten – viele Geschichten über die repräsentative Abwesenheit von Frauen in allen (für sie) wichtigen Bereichen.

Jede/r sollte zumindest einen Blick in dieses Buch werfen. Vor allem Männer und besonders die, die glauben, sie lebten nicht in einer sexistischen Welt und hätten einen objektiven Blick auf die Dinge (oder ein objektiver Blick würde ihnen täglich präsentiert).

Studien haben gezeigt, dass die Überzeugung, man selbst sei objektiv oder nicht sexistisch, zu weniger Objektivität und mehr sexistischem Verhalten führt.