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Zu “Die verborgene Bibliothek” von Alberto Manguel


Die verborgene Bibliothek

Als Diodorus Siculus im 1. Jahrhundert Ägypten besuchte, las er über dem in Ruinen liegenden Eingang der alten Bibliothek den eingravierten Schriftzug »Klinik der Seele.« Vielleicht ist das das höchste Ziel einer jeden Bibliothek.

Nicht viele Lektüren gibt es, die Geborgenheit verheißen. Jede begeisterte Leserin/jeder begeisterte Leser kennt und besitzt wohl solche Bücher, die ihn nicht nur unterhalten oder inspirieren, sondern ihr oder ihm das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein in der Welt, nicht allein zu sein mit seinen Gefühlen, Vorlieben, Hoffnungen und Wünschen.

Alberto Manguel – ein Autor, dessen ganzes essayistisches Werk ums Lesen, um die Bandbreite der Erkenntnisse und Freuden die in Begegnungen mit Büchern liegen, kreist – hat einige Bücher geschrieben, die mir ein Gefühl von Geborgenheit geben, die die Zuneigung, die ich Büchern entgegenbringe, beflügeln und meine Überzeugungen zu Themen wie Humanität und den Glauben an die wichtige Funktion, die das Geschichtenerzählen in unserer Kultur einnimmt, widerspiegeln. Manguel schreibt:

Schon immer haben Bücher für mich gesprochen.

und das ist eine Erfahrung, die ich nur allzu gut kenne. Und die er meisterhaft heraufbeschwören kann.

Sein neustes Buch ist im Prinzip ein Mix aus den Motiven seiner früheren Bücher (gruppiert um einen biographischen roten Faden). Ausgangspunkt ist das Verpacken seiner Bibliothek, die über Jahre, wie er selbst, in Frankreich zu Hause war und jetzt in dutzenden Kartons zwischengelagert wird. Wie es dazu kam und wie dieser scheinbare Abschied dann doch einen neuen Anfang markierte, schildert er in dem Hauptstrang des Textes; der ist sowohl Lebensbilanz als auch, wie immer, ein Bekenntnis zur Schönheit und Kraft der Literatur.

In zehn Abschweifungen greift er außerdem verschiedene Themenkomplexe auf, die immer wieder die Idee der Bibliothek streifen, aber auch andere kulturelle, ethische oder historische Abzweigungen nehmen. Manguel besitzt die erstaunliche Fähigkeit, in derselben Passage ein Thema zu erörtern und eine Geschichte zu erzählen, eine Eigenschaft, die seinen Texten eine ganz bestimmte Art von Faszination verleiht, wie ich sie sonst nur aus den Texten von Jorge Luis Borges oder Joseph Brodsky kenne.

Literatur, Lesen und Schreiben, sind eine einsame und zugleich universelle Angelegenheit. Literatur ist etwas, dass sehr viel mit uns als Individuum zu tun hat und uns doch die Möglichkeit gibt, mit anderen Menschen viel zu teilen. Auch dieser Widerspruch, der die tiefsten Gründe unserer Existenz mitbedingt, ist immer wieder Thema in Manguels Erörterungen.

Wir suchen zeitlebens voller Sehnsucht nach unserer anderen Hälfte. Und doch sind all das Händeschütteln und Umarmen, alle akademischen Debatten und Kontaktsportarten nicht genug, um die Individualität, zu der wir verurteilt worden sind, aufzubrechen. […] Wir sind verdammt zur Singularität.
Jede neue Technologie birgt in sich auch die Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Auch unsere neuen digitalen Technologien konnten dieses Versprechen (das sie noch deutlicher als alle Technologien vor ihnen zu proklamieren schienen) nicht halten. Auch die Literatur kann nicht für immer die Grenzen zwischen uns und anderen einreißen. Aber sie kann kurze Übergänge, störungsfreie Übertragungen, Austausch und Einbezug ermöglichen, anregen.

„Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt“ schrieb Ilse Aichinger und die Literatur, die Kunst, hat sich dieser Aufgabe von jeher angenommen.

Und die Kunst, speziell die Literatur, hat in Manguel längst einen ihrer wundervollsten Fürsprecher, Verteidiger und Idealisten gefunden. Das neue Werk ist wieder voller wunderbarer Zitate, Anekdoten, Erläuterungen und Anregungen; es erschafft und öffnet wieder Türen und Fenster.

Ich bekenne ganz ohne Scheu: ich habe mich auch in dieses neuste Buch wieder vernarrt, in seine Verbindung aus Menschlichkeit und Gelehrtheit, aus Melancholie und Begeisterung. Lesen Sie Manguel! Es gibt nur wenige Schriftsteller*innen, die einen so gastfreundlich aufnehmen und kaum welche, die man mit so viel Hoffnung und neuen Ideen wieder verlässt.

Ein Jahr vor seinem Tod traf Kafka während einer Kur in Müritz seine Schwester Elli und ihre drei kleinen Kinder. Eines der Kinder stolperte und fiel. Die anderen beiden wollten schon laut loslachen, doch um zu vermeiden, dass sich das Kind für seine Tollpatschigkeit schämte, rief Kafka ihm in bewunderndem Ton zu: »Wie toll du fallen kannst! Und wie gut du wieder aufgestanden bist!« Vielleicht können wir (wenn auch wohl vergeblich) darauf hoffen, dass eines Tages jemand kommen und auch diese erlösenden Worte sagen wird.

Zu Bernd Fischerauers “Neumann”


Neumann “Da lag sie jetzt und es war alles aus und vorbei. Ihr ganzes, langes, beschissenes Leben, das nur aus »man muss«, »man wird«, »man würde«, aus Angst und Obrigkeitsdenken bestanden hatte, aus angeblicher Wahrheit und Selbstbetrug, und sie kam mir noch kleiner vor, als sie ihr Leben lang gewesen war.”

Es ist sehr traurig, dass Bernd Fischerauer nie wieder einen Roman schreiben wird. Und irgendwie auch wieder auf seltsame Weise passend, denn um das Unwiederbringliche geht es in diesem Buch, das ein Buch des Abschieds ist, angereichert mit Beschreibungen von Zuständen, Gefühlen, Erlebnissen, Perspektiven, die einem ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr begegnen werden und aus denen sich doch das eigene Leben rückblickend zusammensetzt – die Erinnerungen, die Karriere, die Erfahrungen, die Erkenntnisse, das Bild der eigenen Person.

Der Protagonist Friedrich Neumann ist über Siebzig und gerade ist seine Mutter, fast einhundertjährig, im Altenheim gestorben. Sie hatten keine glückliche Beziehung, ja, er fragt sich, ob sie ihn überhaupt je geliebt hat. Ob sie überhaupt geliebt hat. Hundert Jahre und was blieb am Ende übrig? Der Tod der Mutter und der Aufenthalt in seiner Heimatstadt Graz setzen eine Erinnerungsschleife in Gang, das Rekapitulieren des eigenen Lebens, angefangen bei der Tristesse des Elternhauses.

Der Vater ist überzeugter Nazi und muss sich bis zur Generalamnestie versteckt halten. Sobald er wieder da ist, kehren Zucht und Ordnung ein. Friedrich und seine Schwester entziehen sich dieser Tyrannei jeweils auf ihre eigene Art: Sie »flieht« im wahrsten Sinne des Wortes nach Frankreich, heiratet den Sohn eines reichen Industriellen; Friedrich geht zum Studium der Staatswissenschaften nach Wien. Aber eigentlich interessiert ihn nur eines und das Studium ist nur Vorwand: er will schreiben, Romane, Theaterstücke.

Mit einer die Wucht des Lebens beschwörenden Dichte springt Fischerauer in Neumanns fiktivem Lebenslauf vor und zurück. Während Neumann die wenigen Tage, in denen er die Angelegenheiten seiner Mutter klären muss, vor allem im Hotel verbringt, sinnt er seinen Lebensinhalten nach: den Beziehungen, vor allem die zu seinem besten Freund Franz und zu den Frauen seines Lebens. Und natürlich: zu den Eltern. Den Versuchen der Annäherung, der Vergebung. Die wiederholten Katastrophen, die sich daraus ergaben. Wie er den Horizont seiner Eltern einfach nie verstehen konnte. Und doch wieder begriff.

“Mir war schon damals klar, dass sie nur so waren, weil ihr ganzes Leben verpfuscht war. Das Tausendjährige Reich hatte ja nur acht Jahre gedauert und danach waren sie, was sie waren.
Nämlich nichts. Nichts und allein mit ihrer Schuld, die sie nicht zugeben konnten. Nicht zugeben durften. Sonst hätten sie ja zugeben müssen, dass ihr ganzes Leben ein einziger Fehler war.”

Erfolge und Tragödien, berufliche und private, ruft er auf. Die Holzwege und die überraschenden Glücksgriffe. Manches wird kurz angerissen, um erst später ausführlicher erzählt zu werden – und so überrascht einen der Text immer wieder, nur um dann wieder sehr ruhig vor sich hinzugleiten. Langsam setzt sich alles zusammen, jeder neue Erinnerungsgang liefert ein weiteres Stück: manche Motive sind von vorneherein zu erkennen und müssen nur komplettiert werden, manche werden erst mit dem letzten Teil erkennbar.

Fischerauer ist ein wunderbares Buch gelungen, ein Werk über die Stürme des Lebens und den Moment des Alters, wenn alles da ist und doch dieses Alles kurz vor dem Nichts steht. Ein Buch, das nicht auftrumpft, sondern vielmehr mit einer sensiblen Melancholie, Nostalgie daherkommt, die aber nie langatmig ist, sondern die Lebendigkeit von tiefen Erinnerungen besitzt. Lesenswert!

“Einen Vorwurf konnte ich weder den beiden noch mir daraus machen. Fehler waren da, um gemacht zu werden. Nicht um aus ihnen zu lernen. Sonst könnte man das Leben ja gleich bleiben lassen.”