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Zu “Vögel – 70 Arten entdecken und bestimmen”


70 Arten Vögel Viele kennen diese Verlegenheit, in die man gerät, wenn man mit einem Kind spazieren geht und es auf einen Vogel, der den Weg kreuzt, deutet und fragt: was ist das für ein Piepmatz/Vögelchen/Vogel? Wenn es sich nicht gerade um eine Amsel handelt, bin zumindest ich in den meisten Fällen überfragt und kann das nur kompensieren, in dem ich aus meinem Gedächtnis irgendwelche Vogelnamen herauskrame (Amsel, Drossel, Fink und Starr … Zaunkönig … Rabe oder Krähe? … Lerche oder war das der Baum?) und die Zuschreibung dann mit einigen Geschichten ausschmücke, damit sie auch für mich den Anschein von Richtigkeit bekommt.

Dieses kleine Büchlein im Taschenformat könnte mit der Zeit meiner Verlegenheit Einhalt gebieten, erweist es sich doch als gelungene Kombination aus Einführung und Übersicht. Nicht nur die versprochenen siebzig Arten werden geboten, die Auftakttexte des Buches widmen sich zusätzlich Fragen wie etwa: Wie beobachtet man Vögel? Mit was darf man sie füttern? Wie geht man mit einem verletzten Vogel um? Es gibt auch eine Darstellung, auf der die Bezeichnungen der Körperteile von Vögeln aufgelistet und zugeordnet sind.

Die einzelnen Vogelarten werden dann jeweils auf einer Doppelseite kompakt dargestellt, unterteilt sind die Portraits in die drei Kapitel „Parks & Gärten“, „Wald & Wiese“, sowie „Gewässer“. Das Aussehen der Tiere ist jeweils auf der rechten Buchseite sehr schön in Szene gesetzt, auch eventuelle Abweichungen bei Weibchen oder Unterarten werden mit abgebildet; zusätzlich ist ein kleiner Kalender mit der Brutzeit abgebildet und ein QR-Code, über den man zu einer Sounddatei des Gesangs gelangt.

Auf der linken Seite finden sich Informationen zur Durchschnittsgröße und dem herkömmlichen Verhalten, es gibt eine zusätzlichen Beschreibung des Aussehens und genauere Ausführungen zum Lebensraum + ein bisschen Trivia; manchmal werden auch Arten genannt, mit denen die dargestellte Art oft verwechselt wird. Symbole geben Aufschluss, ob die Tiere auch in Vogelhäuschen wohnen und ob sie gefüttert werden können/dürfen.

Das Buch kann natürlich keine Enzyklopädie ersetzen und dürfte durchaus noch Fragen offenlassen, ist aber für den Einstieg wunderbar geeignet und punktet vor allem durch seinen liebevollen Touch und seine Kompaktheit und regt dazu an, es mit sich herumzutragen und es gleich bei einem ersten Spaziergang zum Einsatz zu bringen.

 

Zu Richard Brautigans “Forellenfischen in Amerika”


Im Sommer 1942.
Der alte Säufer hat mir vom Forellenfischen erzählt. Wenn er imstande war zu reden, dann beschrieb er Forellen so, als seien sie eine Art kluges, vernunftbegabtes Edelmetall.
Silbrig ist kein gutes Adjektiv, wenn ich beschreiben sollte, was ich in mir spürte, als er mir vom Forellenfischen erzählte.
Ich möchte es ganz genau ausdrücken.
Vielleicht Forellenstahl. Stahl, der aus Forellen gewonnen wird. Und der klare Fluß mit seinem Schmelzwasser dient als Gießerei und Schmelzofen.
Denken sie an Pittsburgh.”

Ich bin ein großer Fan des amerikanischen Autors Richard Brautigan; ich mag die Unbekümmertheit seiner kurzen Kapitel und der legeren Handlungsführung, gleichzeitig die feine Tragik, die er in allem ausstreut, was in das helle Licht seiner Prosa getaucht wird. Seine Narrative beinhalten sehr viel Glück und sehr viel Trauer, ohne hohe Töne anzuschlagen, sie sprudeln ganz still aus seinen Geschichten hervor. Das, was erzählt wird, schwirrt herum, sprunghaft, aber in all dieser Ungenauigkeiten werden ein paar Gewissheiten und Zweifel sorgsam, fast unmerklich bearbeitet. Und immer wieder sind die Texte auf wunderbare Weise komisch:

“Der Abwasch kann warten”, sagte er zu mir. Betrand Russell hätte es nicht besser sagen können.

und unerhört poetisch, mit ungewöhnlichen, geradezu funkensprühenden Bildern, Schilderungen, Vergleichen:

und wir fuhren wieder aus der Schafherde hinaus, so wie ein Flugzeugt aus den Wolken fliegt.

Forellenfischen in Amerika ist so etwas wie eine lose Chronik. In zahlreichen kurzen Kapiteln umkreist der Erzähler die Erinnerungen, die irgendwie mit Forellen oder Forellenfischen zu tun haben. Es gibt ein-zwei stärkere Stränge, die sich irgendwann herauskristallisieren und immer wieder Bezüge, aber keinen festgelegten Plot.

In den Erlebnissen und Figuren wird immer wieder das Streben nach paradiesischen Umständen thematisiert; der Versuch einfach die Schönheit und Glückseligkeit aufzugreifen, die in den Dingen liegt und in jedem Schicksal zu finden sein müsste. In Brautigans Büchern fühlt man sich dann und wann in eine profanen, liebenswerte Herrlichkeit versetzt, wird an die Großartigkeit des Daseins, wie es sich einfach vor uns auftut, erinnert – und doch: der Boden ist sehr dünn. Brautigan weiß um die Hässlichkeit und Monstrosität, die hinter den menschlichen Horizonten, den menschlichen Momenten liegt und sehr viel größer ist als alles, was wir einander reichen können. Einmal heißt es:

und er machte sich auf nach Amerika, das oft ein Ort ist, der nur im Kopf existiert.

Amerika als Imagination, als Fata Morgana der unbegrenzten Freiheit, ein weiteres Thema des Buches.

Es lohnt sich Brautigan zu lesen, allein schon wegen der Poesie, die in seinen Romanen liegt und dem Witz, dem Kult. “Forellenfischen in Amerika” ist ein guter Start, aber sehr empfehlen kann ich auch den “Tokio-Montana-Express” und die wunderbare, parabelhafte Erzählung “In Wassermelonen Zucker”.

Doris Runges gesammelte Gedichte


“meine flügel ließ ich dir
du rupftest sie
für unser daunenbett
nun träume ich nachts
vom fliegen”

Still heißt nicht automatisch: sanft. Es gibt auch eine Stille, die noch wertfreier, neutraler ist, so still, dass sie schon gar nicht mehr still ist, sondern stattdessen alle Geräusche, sonst unhörbar, zulässt, hervorholt. Geräusche, die eigentlich nur Eindrücke sind, Verbindungen zwischen diesem und jenem, unter tausend oberflächlichen Stimmungen, Flexionen, Einteilungen und Tatsachen verborgen – und nur im Gedicht, in der Sprache, bekommen sie ein plötzliches, tiefgreifendes Geschick. Von dort aus erfasst die Sprache aber wiederum erstaunlicherweise auch die Neigungen unserer Wahrnehmung, füllt sie auf, bis zum Überlaufen.

“das war ein blutsturz von rosen
der heiße rücken der erde
es war ein altmodischer sommer
aus einem anderen leben
ich will nicht abschied nehmen
von dort wo ich nie war
von der tafelrunde grüner blicke”

Drei Jahrzehnte Gedichte. Bei diesem Ausmaß kann einen schon mal die Ehrfurcht packen. Doch weil es Gedichte sind, gilt: umso größer der Zeitraum, desto feiner die angesammelte Gedichtmenge im Vergleich zum Phänomen – gestreckt und doch eingefallen – der Zeit (wie Paul Valery sagte: Gedichte sind das Rauschen, nicht das Meer). Gesammelte Gedichte, sämtliche Gedichte – solche Sammlungen erreichen schließlich, wonach sich jedes Gedicht auf gewisse Weise, einzeln, sehnt: ein Loslösen von der Zeit, von Bestimmungen. Das Eingehen in den zeitlosen Raum, in dem alles, was von ihm ausgeht, eine besondere, kleine Erfahrung ist.

Während die Jahre wachsen, wächst der Dichter in sich hinein; jedes Gedicht eine Wurzel, tief in der Erde, in der all die Wendungen und Wahrheiten liegen. Mit jedem Gedicht wird der halt größer und doch ändert sich sonst nahezu nichts. Denn jedes Gedicht steht für sich, unerklärt, verdankt sein Dasein einer nicht aufzudeckenden Gleichung, welcher weder bekannte, noch unbekannte Variablen zuzuordnen sind. Und die Menge der nicht geschriebenen Gedichte ist im Vergleich zu jeder Ansammlung einzelner Poesien so groß, das Verhältnis zwischen diesen beiden Mengen so ungewiss, dass jedes Gedicht, jede weitere Seite in so einer Sammlung, einem Geschenk gleicht, in welchem die Loslösung vom Nichts noch enthalten ist.

“licht aus
belaubtem stein
heiter
wie jenseitig”

Warum dies alles zu Doris Runges Gedichten schreiben, Gedichte, die mehr Wegstreifen, Gräsertau, Fächerlicht und flüchtige Instanzen sind, als Werke mit großer Epik? Nun, da mag ich jetzt scheitern, wenn ich diese Frage mit Worten aus meiner Hand beantworten will und nicht einfach sagen kann: Lesen sie diesen Band. Das mich diese Gedichte zu den obigen Auslassungen inspiriert haben, mag vielleicht niemanden für diese Texte gewinnen – was aber sonst? Eine Erörterung, eine Hinterfragung? Eintausend Zitate?

Nun, ein kleiner, weiterer Versuch kann sicher nicht schaden. Ansonsten nehme man einfach zur Kenntnis, dass die Gedichte ihre anfängliche Unscheinbarkeit sehr schnell in das genaue Gegenteil kehren: in eine flüchtige Essenz, die Tatsachen und Dinge überragt, wie ein einziger, kühner Moment alle Möglichkeiten zu überragen pflegt.

“gras
wie grün den toten
das haar wächst
für den wind”

In Doris Runges Gedichten spielt die Natur, die heimatliche, eine große Rolle, zweifellos. Auch das Vergehen und das Bleiben, wie es jeden Dichter beschäftigt, hat seinen festen Platz, in Kombination mit Liebe oder einfach nur wenn es um Zustände geht, um Fragen und vermeintliche Antworten (wobei jede neue Frage eine Antwort wie nichts erscheinen lassen kann, eine Antwort sich jedoch mit jeder Frage schwertut – auf diesem Gebiet, so scheint es oft, kann gerade die Lyrik aber noch etwas vollbringen).
Und dann als Hauptelement ist natürlich: das nicht abzustreifende Bild, die Impression, das, was Poesie vordergründig zusammenhält und ausmacht, die Wendungen, mit denen Dichter Realität in Sprache überspielen, in einen Klang, wobei die Realität durch die Sprache hindurch gewinnt.

Aber da ist – vor all dem, in all dem – vor allem eins: Kürze. Kaum ein Gedicht ist länger als eine Seite. Kaum eine Zeile länger als ein kurzer Satz. Und wie ein Blatt an einem Ast, ein Grashalm, steht die Sprache, stehen die Gedichte von Doris Runge niemals still. Weiter, weiter, flüstert es darin, ein Weiter, das jedoch nicht schneller wird. Eindrücke, vorherrschend, wie Wind und Lichtstrahlen und alles was sie einfangen, in Bewegung halten. Aber diese Bewegungen bleiben Stille.

Und eine weitere Schicht wird erkennbar: das taxierende, das bestimmende Element, das Bilder und Natürlichkeit, Assoziationen und Wendungen wie Hüte, tief ins Gesicht gezogen, trägt; fast wie eine Maske.

Im Wind der Sprache also gleichsam die Bewegung der Flagge, das Erhabene und das Klirren der Stange, das “andere” – in unnachahmlicher Symmetrie und Symbiose. Kaum mehr, fast nichts anderes. Aber dies auf so viele Spielweisen, in so vielen Untiefen und Dasein, dass es wie ein breiter Raum voll unzähliger Lichtstrahlen wirkt. Wie große Kunst.

“mein liebster
diesseitger
engel

bald werde ich
fliegen
bald ist der fisch
mein schatten”

Und darin: diese Bilder, diese Filigranität, diese Zärtlichkeit. Wie ohne Gedanken tauchen die Gedichte auf, sie denken nicht, sie sind, ein Vollzug der kleinsten Welt. Würde man ihre kleinen Wunder Gedanken nennen, wäre das eine eindeutig Abstufung.

Es gibt Bücher, um sie ans Herz zu pressen, um sie eines Tages zu lesen und diesen Tag zu vergessen, aber das Lesen nicht, als hätte das Lesen den Tag vereinnahmt und überdauert, nunmehr ewig in seinem Wesensgehäuse. Dieses Buch empfinde ich als ein solches Erlebnis. Man muss die Texte wie kleine, komprimierte Elegien lesen, nicht zu rasch, auf keinen Fall zu hastig. Hier heben Bäume ihre “blutgescheuerten geweihe”, hier “wärmt haut wie tee/ in kleinen Schlucken”, hier gibt es keine Stopptaste, nur die Musik, abgeschaltet, die sich in der Welt noch eine Weile fortsetzt. Gedichte, sehr nah am Verschwinden – und knapp davor – triffst du endlich mit ihnen zusammen.

“rauch
wer oder was
wird geopfert
was schleicht sich ein
was geht vorbei
was radelt mit
blattgold
in den speichen
war das
die zeit”

Zu Walle Sayers Band “Strohhalme, Stützbalken”


„Katzentapser und wie es auf Mülltonnen schneit.
Fern werden Nachttresore geleert und Kummerkästen.”

Es gibt Dichter, die dich bei der Hand nehmen, bei denen das Begegnen in jeder Zeile vorhanden ist und stattfindet, in etwa wie an einem stillen Frühlingsmorgen für einige Augenblicke alles erfahrbar ist und jeder Eindruck nach einem anderen geschieht und erst im Nachhinein zu dem Frühlingsmorgen als Ganzes verschmilzt. Solche Dichter warten in ihren Gedichten auf die Aufnahme des Lesers in ihre Geste, jede Zeile ist Ankunft und nicht Abfahrt; in diesen Gedichten ist oft etwas enthalten, das über verschiedene Gedanken und Ansichten hinweg ein luzider Begriff ist, eine Idee dessen, woraus Momente im Leben gebaut sein könnten.

“Der am äußersten Ast aufgehängte Meisenknödel
pendelt eine Winterfrage aus.”

Walle Sayer schreibt seine Gedichte, wie man Kerzen, eine nach der anderen, ausbläst, mit leichter Traurigkeit, aber auch einer Gewissheit, in welcher schon das in Formung begriffene Bleiben geschwenkt wird – das Außen wird zum Bild, das Innere übernimmt die Bewegung des Außen in Gefühl und Erinnerung hinein.
Im Angesicht eines Gedichts sehen wir oft erst, wie stark wir selbst Resonanzkörper sind, unser Erlebniswiderschein der Welt ihre Tiefe gibt.

Sayers Gedichte bestehen ganz aus einer Unwillkürlichkeit, die sich so niederschlägt wie eine kleine Ewigkeit. Ihre Kürze machen sie in der Länge des Miteinanders, dass der Leser empfindet, wett; zum Beispiel wenn er sehr behutsam eine gleichsam quicklebendige und starre Erinnerung auferstehen lässt, zu der viele bestimmt ein eigenes Äquivalent kennen:

“Die Stelle, wo die Umkleidekabine stand.
Ein Bretterverschlag in seiner Verschwundenheit.
Allein das Astloch, das verblieb.
[..]
In der Rückwand der Luft.”

Die Fähigkeit des Menschen aus der Zeit heraus in die Erinnerung einzutreten und sich die physische Welt als Raum zu bewahren, der auch alte Züge annehmen und mit ihnen ausstaffiert werden kann, anknüpfend an Gefühle und Gerüche, Erlebnisse unseres Lebens, ist eine wesentliche Magie unseres Daseins. “Vielfältig wie die Tönungen eines Herbstwaldes”, wie Chesterton sagen würde, treiben Gedichte alte Wahrnehmungen als neue Pflänzchen hervor; und auf dem Papier lassen sie sich immer wieder lesen, sind präsent als Tür und Tor zu dieser uns so einmalig erschienenen Nähe. Walle Sayer hat in seinen besten Gedichten sehr viel von dieser Nähe, von den Verbindungen zu unserer Wahrnehmung gesammelt und in knappen Worten aufleuchten lassen, aber auch wo er nur ein Bild schafft, ist das Ergebnis beeindruckend.

“Ein Eiszapfen
träufelt Augentropfen
in das Starren der Tonne.”

Hätten Momente Initialen, würden sie, ins Gefühl übersetzt, oft wohl so aussehen, wie Sayers Gedichte. Man kann seinen neuen Band sehr gut nur für ein-zwei Gedichte zur Hand nehmen, nur um sich in aller Ruhe am sonnenfleckigen Wind einer kurzen Chiffre für unser Dasein und dadurch unseres ganzen inneren Lebenswertes zu erfreuen. Poesie ist in keiner Form wirklich kompliziert, eigentlich muss man nur immer Tranströmers Worte beherzigen: “Es ist wie ein Gebet zur Leere./ Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu/ und flüstert:/ Ich bin nicht leer, ich bin offen”. Walle Sayer sind auf besonders schöne und klare Weise offen. Und deswegen sind sie sehr lesenwert.

“Und jede Weltreise beginnt auf einem Dreirad,
eine staubige Hauptstraße hinunter,
an drei Misthaufen vorbei.”

Walt Whitmans großartige Grashalme


“Bleibe nur diesen Tag und diese Nacht bei mir, und du
sollst den Ursprung aller Gedichte erfassen!
Du sollst das Gut der Erde und der Sonne haben (Millionen
von Sonnen sind noch übrig),
du sollst die Dinge nicht mehr aus zweiter oder dritter
Hand nehmen, auch nicht durch die Augen der
Toten sehen und dich nicht nähren von den
Gespenstern in Büchern;
Du sollst auch nicht mit meinen Augen sehen, noch die
Dinge von mir empfangen,
Du sollst Horchen nach allen Seiten und sie alle durch dich selbst filtrieren!”

Ein Freund von mir (danke Holger!) brachte mich dazu noch einmal nach langer Zeit zu diesem Werk zu greifen.

Borges meinte einmal, dass jeder große Schriftsteller ein Symbol geprägt habe und auch prägen müsse, weil es ansonsten ganz unerheblich sei, ob er gut schriebe oder nicht, er würde dann die Zeit nicht überdauern: Kafkas Labyrinthe; Cervantes Gestalt Don Quijote, mitsamt Gefährte Sancho Pansa und den Windmühlen; Melvilles weißer Wal Moby Dick. Doch Borges nennt stets auch ein Ausnahme: Wald Whitman, der kein Symbol geprägt habe (außer vielleicht das Bild der Grashalme), sondern selbst zu einem geworden sei.

“Ochsen, die ihr mit dem Joch und der Kette rasselt oder
unter schattigem Blätterdach haltet, was ist es, das
ihr in euren Augen ausdrückt?
Es scheint mir weit mehr als alles Gedruckte, das ich in
meinem Leben gelesen.”

Whitman ist ein Rufer des Lebens. Dies, was uns durchpulst, unser Maß, doch aus der Aufmerksamkeit geputzt, oft verbannt aus unserer Mitte, benutzt, analysiert, systematisiert und verbogen, will er uns wieder nahebringen. “Das Alles” ruft er uns aus seinen Zeilen zu, ist das Leben, alles was an Wunderbarem zu greifen ist, in unser Nähe geschieht, jedes noch so kleine Wunder, das uns kurz umgibt, jede noch so einfache oder schwierige Tätigkeit, jeder Name, jede Periode unseres Lebens und der Ewigkeit. Whitman steht außerhalb jeder literarischen Tradition, weil er in der Tradition des Lebens wandelt.

“Alle Wahrheiten harren in allen Dingen,
sie haben’s nicht eilig mit ihrer Befreiung, noch
widerstehen sie ihr,
Sie bedürfen nicht der Zange des Geburtenhelfers.
Das Unbedeutende ist mir so wichtig wie irgendetwas.
(Was ist weniger oder was ist mehr als eine Berührung?)”

Die Grashalme sind Musik, sind Hymne, aber auch philosophischer Sturm, in dessen Wind das Flüstern der kleinen Wahrheiten und die große Potenz der Wirklichkeit an unser Ohr schwebt: “Die Uhr zeigt die Minute – aber was zeigt die Ewigkeit?”
Pathos ist bei solchen Gesängen ja eigentlich schwer zu umgehen; aber, o Wunder, gerade das würde man nie über die Grashalme sagen, dass sie pathetisch seien, zu sehr erkennt man sich selbst in der einen oder anderen Liebe, in dem ein oder anderen Halm. Es bleibt das Gefühl einer natürlichen, nie zu schnellen, nie zu langsamen Bewegung, die immer in die eigene Erweckung schreitet, hierhin zeigt, dies aufdeckt, jenes nacherzählt.

“Meinst du, ich möchte Erstaunen erregen?
Erregt denn das Tageslicht Erstaunen? Oder der
frühmuntere Rotschwanz, der durch die Wälder
zwitschert?
Errege ich mehr Erstaunen als diese?”

Die von mir zuletzt gelesene Ausgabe beim Anaconda Verlag umfasst einige Gedichte aus den “Trommelschlägen” (dies Impressionen aus den Jahren des Bürgerkriegs, z.B. ein in Worten gemaltes Bild von Kavallerie, die ein Furt durchquert); dann, über 60 Seiten, also ein Drittel des Buches, einen Ausschnitt aus dem gewaltigen “Gesang von mir”, einem Text, halb Gesang, halb Erzählung, voller Ansichten und Verherrlichungen, voller Schönheit und immer wieder sinnlich-geistreich; des Weiteren noch viele andere, auch kleine Gedichte, meist ein-zwei Seiten lang, aus dem Spätwerk, die meist neben dem “Gesang von mir” entstanden.

“Hier oder fortan, mir ist es gleich, ich vertraue der Zeit unbedingt.
Sie allein ist ohne Unterbrechung, sie allein rundet und
vollendet alles,
Dies Mystisch verwirrende Wunder allein vollendet alles.”

Vielleicht ist dies die letzte Botschaft Whitmans: Alles vollendet sich von selbst, es hat keinen Sinn Krieg zu führen, zu hetzten, sich von irgendetwas auffressen zu lassen. Letztendlich geht das Leben seine Wege und man sollte ihnen folgen, man sollte sein Glück machen, die Augenblicke haben – seine Stimme flüstert: Das Leben ist dies alles, was versuchte außerhalb zu sein, sich davor zu retten, sich darin zu verstecken, es gibt nur dies und das ist das Großartige! Es gibt die Welt, die Welt als das Ding, dass sie ist, Geheimnis ist sie und doch so wach, so wach ist das Geheimnis, das sollten wir erkennen: und wir gehören dazu.

“Seht ihr, o meine Brüder und Schwestern?
Es ist nicht Chaos oder Tod, es ist Form, Einheit,
Bestimmung, ist ewiges Leben – ist Glückseligkeit.”