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Zu “Das Duell” von Volker Weidermann


Das Duell Die Geschichte vieler Autor*innenbiographien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist mit seinem Namen verwoben, manchmal nur in ein-zwei Fädchen, manchmal elementar: Marcel Reich-Ranicki, Kritikerpapst, Chef des literarischen Quartetts, selbsternannter Kanon-Verwalter, Urteilssprecher über die deutsche Literatur von einst bis in die Gegenwart. Mit einem Autor hat er sich ganz besonders gebalgt, hat viele seiner Bücher verrissen und doch unermüdlich den Glauben an sein Talent beteuert: Günter Grass.

Ich war sehr erpicht darauf, dieses Buch von Volker Weidermann zu lesen: gab es da noch unerzählte pikante Details, konnte die Beziehung zwischen den beiden denn sonst überhaupt genug Material für ein ganzes Buch liefern? Meine Hoffnung auf Enthüllungen wurde jedoch größtenteils enttäuscht, denn das Buch ist, was die Beziehung Grass-Reich-Ranicki betrifft, mehr ein Revue-passieren-Lassen der bekanntesten Geschichten und Zerwürfnisse, ergänzt um die Kenntnis und Erkenntnisse aus Briefverkehr und Aufzeichnungen aller Art, die jedoch zumeist nichts Spektakuläres an sich haben.

Dass das Buch dennoch sehr lesenswert ist liegt zum einen daran, dass es gut geschrieben ist, mit dem gerade richtigen, noch nicht überzogenen Gespür für Spannung und Dramatik, die Weidermann an den richtigen Stellen einstreut, als hätte noch niemand vor ihm diese Geschichte erzählt. Zum anderen ist das Buch gelungen, weil letztlich tatsächlich niemand die Geschichte der beiden Größen in der deutschen Nachkriegsliteratur so erzählt hat, wie Weidermann es tut.

Statt sich nämlich nur und von Anfang an auf die konkreten Überschneidungen und Berührungspunkte zu konzentrieren, ist das Buch eine Doppelbiographie vor dem Panorama einer Zeit, eines Jahrhunderts, das beide Protagonisten prägte (und das sie prägten, sowie sich gegenseitig). Die ersten hundertdreißig Seiten werden ihre Lebenswege getrennt voneinander und in unterschiedlichen Kapiteln geschildert: Grass Jugend in Danzig, Kriegszeit, Soldatenzeit, dann Anfänge als Schriftsteller – Reich-Ranickis Jugend in Polen und Berlin, dann Krieg, Warschauer Ghetto, Flucht und Überleben in einem Keller, Intermezzo beim polnischen Geheimdienst und später Rückkehr nach Deutschland, Anfänge als Kritiker.

Erst mit dem ersten Zusammentreffen führt Weidermann die Stränge zusammen und erzählt von da an ihre jeweiligen Lebensgeschichten nebeneinander, immer auch vor dem Hintergrund ihres Verhältnisses zueinander. Natürlich ist das eine kluge Entscheidung, denn in beiden Fällen ist die biographische Vorgeschichte wichtig für das Verständnis der Persönlichkeit, ihres Schaffens und ihrer jeweiligen wunden Punkte, liefert das Dekor für den Raum, in dem sich viele zentrale Szenen abspielen werden.

Der Titel allerdings erscheint dadurch zunächst etwas reißerisch und klingt auch am Ende noch etwas überzogen (in meinen Ohren – obgleich ich verstehe, warum er seine Berechtigung hat). Meiner Ansicht nach beschreibt der Untertitel des Buches viel besser, worum es vor allem geht: nicht um das Freund-Feind-Verhältnis und die Frage nach dem Sieger des Duells, beides sorgt lediglich dann und wann für die Ausschläge auf dem Spannungsbarometer, sondern um die beiden Persönlichkeiten.

Zu kurz kommt ihre affaire compliquée, ihre nicht zu scheidende Ehe dennoch nicht. Jedoch sollte jedem/r potenziellen Lesenden klar sein, dass es sich bei diesem Buch nicht vorrangig um einen Bericht über literarischen Klatsch handelt (auch wenn er durchaus vorkommt) , auch nicht um einen bestechenden literaturhistorischen Essay, der Werke und Meinungen unmittelbar ins Visier nimmt und/oder ausführlich kommentiert (vielmehr bezieht Weidermann sehr dezent, dafür umso souveräner, Stellung zu einzelnen Ereignissen, Disputen). Sondern eine Doppelbiographie, die sich im zweiten Teil auf eine besondere Verflechtung konzentriert.

Wer ein gut lesbares Stück deutscher Literaturgeschichte erwartet, mit Fokus auf die Biographie der beiden Figuren, wird nicht enttäuscht werden. „Das Duell“ ist gut geschrieben, mitunter hat es etwas Mitreißendes, geschickt abgeschöpft, Längen hat es eher nicht.

Zu Doris Anselms “Hautfreundin”


Hautfreundin „Herr und Frau.
Eigentlich, fällt mir heute ein, sind diese Anredeformeln überhaupt nicht seriös. Im Gegenteil. Sie weisen ständig darauf hin, dass Geschlechtsteile anwesend sind.“

Nach etwas fünfzig Seiten muss ich mich ermahnen, dass auf dem Cover des Buches „Roman“ steht. Denn das erzählende Ich in Doris Anselms „Hautfreundin“ ist so konsistent und tritt so unverstellt und direkt auf, dass man meinen könnte, „Hautfreundin“ sei ein tatsächlicher Erfahrungsbericht, die Autobiographie eines echten Körpers und seines Begehrens, und keine Fiktion.

Ein klassischer Roman ist das Buch allerdings auch nicht, denn statt eine lückenlose Geschichte aufzuführen, besteht das Buch aus längeren für sich stehenden Einzelgeschichten, Episoden im Leben der Erzählerin, die sich von ihrer Jugend über ihre jüngeren Erwachsenenjahre bis zu einem Zeitpunkt im mittleren Alter erstrecken, der als ungenaue Gegenwart Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist (außerdem gibt es noch eine Episode, die in einer technologisch noch weiter entwickelten Zukunft spielt, wobei unklar ist, ob das Szenario der Episode ein Traum, eine Fantasie oder eine wirkliche Vorausschau darstellt). Im Zentrum der Episoden steht meist eine Begegnung, oft sexueller Natur, unterschiedlich aufbereitet.

Den Anfang macht die Episode „Das Wort“, in der die Erzählerin, zunächst nur als Stimme, noch nicht als Körper, über das Wort für ihr Geschlechtsteil nachdenkt.

„Ein Wort, das viel Scham aufgenommen hat, das hundert Jahre oder länger nur flüsternd gesagt wurde, mit niedergeschlagenen Augen, ohne Stolz, ohne Freude, kann sehr schwer sein. Es wird nicht ausgetauscht, weil offiziell ja alles in Ordnung ist mit ihm. Aber es fühlt sich anders an als andere Wörter.“

Natürlich steht diese Reflexion über Sprache nicht zufällig am Anfang und nicht zufällig ist in dieser Überlegung das ganzes Dilemma der weiblichen Lust schon ausgebreitet: wie eine positive Geschichte weiblicher Sexualität erzählen, wenn schon die Begriffe, die Worte, mit Scham behaftet sind und eine Stimmung erzeugen, die lust- und genussfern ist, in der das Unzureichende dominiert, das Schwierige, das einen in die Unzulänglichkeit zwängt, statt Möglichkeiten zu bieten, aus sich herauszugehen?

In den darauffolgenden knapp 250 Seiten hat Doris Anselm genau das versucht. Ihr Buch ist ein Roman über Sex und über Lust, aber vor allem ein Buch, das versucht, die Geschichte einer positiven Selbsterfahrung, als Körper, als Frau, als sexuelles Wesen, zu erzählen. Und für so eine Geschichte eine Sprache zu finden ist schwer. Schließlich gibt es auf der einen Seite nur die pornographische Sprache mit all den männergeprägten Frauenbildern, auf der anderen Seite vor allem die süßlich-schwüle Romantik von Groschenheften und die liberal-verklemmte, komische Erotik von Hollywoodfilmen.

Anselm sucht dazwischen einen Mittelweg, der aber natürlich nicht einfach jenseits der bisherigen Sprachverhältnisse ganz neu beginnen kann. Ihre Sprache hat daher einen leicht wiegenden Touch, der entfernt der glatten Oberfläche von Pop-Romantik gleich und in der Beschreibung von sexuellen Tätigkeiten eine Langsamkeit, die an die Detailfixierung von pornographischen Texten erinnert. Aber nebst diesen Anleihen hat ihre Sprache in vielen Fällen wichtige zusätzliche Qualitäten: sie ist anschaulich, intensiv und geht Risiken ein, probiert aus, und kann in den richtigen Momenten von tiefer Involvierung auf distanzierte Analyse umzuschalten (und umgekehrt).

Manchmal wirkt sie dennoch etwas manierlich, manchmal etwas platt, aber mindestens genauso oft bietet sie überraschende Einblicke, hält feinsinnige Umschreibungen und starke Bilder parat. Gleich im zweiten Kapitel beschreibt die Ich-Erzählerin ihr erstes Mal und auch ihre erste Penetration:

„Dann herrscht eine Zeit lang das Bild von etwas Fremdem in meinem Körper. Es könnte alles möglich sein, es gehört nicht zu mir. Ich atme. Wir sehen uns an und er hält still. Auf dem Himmelsplakat verblasst eine weiße Kondensspur. […]
Da umklammere ich ihn mit den Beinen, und als die weiße Spur vom Himmel verschwunden ist, gehört alles, was in mir ist, mir. […] Wir gleiten umeinander. Ich muss lächeln.“

In dem darauffolgenden Kapitel die spontane Erregung bei einer Begegnung mit einem anziehenden Menschen:

„Irgendwo neben uns zieht ein Drucker seufzend Papier ein. Jemand beendet ein Telefonat und legt auf.
Wir sehen einander in die Augen. Wir stehen da, zwei Erwachsene in ihrer jeweiligen Rolle, und dann dehnt sich der Moment über uns aus, wölbt sich, schillert, zerplatzt.“

Oft sind Emotionen stark vertreten in dieser Sprache. Und das ist auch gut so, denn selbst wenn dergleichen manchmal schwärmerisch oder eben manieristisch rüberkommt, ebnet Anselm damit hoffentlich an einigen Stellen den Weg für nachfolgende Autor*innen, die über Lust schreiben wollen und aus ihren Fehlern lernen, und ebenso von ihren Ideen, von ihren Ansätzen profitieren werden.

Ein weiterer Vorteil der emotionsdurchzogenen Sprache ist (neben der Nähe, die sich zur Ich-Erzählerin als Figur einstellt), dass nicht nur Geschichten von Handlungen erzählt werden (wie es in der klassischen Pornographie meist der Fall ist – Emotionen werden dort lediglich aus den Handlungen abgeleitet), sondern vor allem von Gefühlen, Zuständen, die den Handlungen vorausgehen, ihnen auch widersprechen, sich schnell abwechseln, changieren. Wir erleben Anselms Protagonistin in den unterschiedlichsten Momenten, verschiedensten Lagen, begleiten sie bei geilen Erfahrungen, meditativen Augenblicken und tief hinein in ihre Unsicherheit, z.B. in Gesprächssituationen, mit Reaktionen, die von Wut bis Verzweiflung reichen.

„Wenn du das wirklich glaubst, denke ich, wenn du glaubst, dass ich für etwas, das ich will, zu schade bin, glaubst du in Wirklichkeit, dass es egal ist, was ich will.“

„Damit, dass er mir so gefallen würde, habe ich nicht gerechnet. Ich hatte bloß gehofft, dass er mir genug gefallen würde. Genug, um mir etwas mit ihm vorstellen zu können: etwas Neues, etwas Spezielles, etwas Dunkles. Ich hatte gehofft, dass er für meine Neugier ausreichen würde. Über mich selbst habe ich gar nicht nachgedacht.“

Trotz dieser breiten Gefühlspalette ist das Buch zunächst vor allem die Geschichte eines sexuell erfüllten Daseins, einer von Neugierde und Glück geprägten Lust an Körpern, dem eigenen und den fremden. Erst im weiteren Verlauf und vor allem gegen Ende realisiert die Protagonistin, dass sie Glück hatte mit ihrem Lebensweg, ihren Erfahrungen, und dass die sexuelle Biographie vieler Frauen nach wie vor (und vor allem früher) viel mit den Umständen zu tun hat(te), also damit, an welche Menschen (vor allem Männer) man gerät und was einem passiert, wenn man jemandem seinen Körper anvertraut oder einfach einen Körper hat und von diesem Körper etwas erwartet wird.

Gerade dieser letzte Turn hat mich noch einmal sehr beeindruckt, weil das Buch dadurch beides in sich trägt: Utopie und Realität, Wunsch und Wahrheit. Es wird gezeigt, wie es gehen könnte – und warum es so noch immer nicht läuft, zumindest leicht anders laufen kann. „Hautfreundin“ ist die Geschichte einer Erfüllung, die am Ende in einen Abgrund der Verletzungen und Ängste schaut, dem sie, wie durch Zufall, entronnen ist. Die ganze Geschichte, so wird am Ende klar, hätte auch in jeder Episode ganz anders aus- und weitergehen (oder auch enden) können (hier scheint durch, wie sinnvoll die Struktur des Buches ist).

„Ich habe mal gehört, dass echte Nächstenliebe meistens holprig daherkommt, wenig elegant, weil jemand, der sie gibt, vorher nicht lange überlegt.“

Anselm ist über weite Strecken eine großartige introspektive Darstellung gelungen. Ich persönlich habe selten eine so intensiv-feingliedrige Schilderung von Begehrensstrukturen gelesen (egal ob von einem Mann oder einer Frau), die aber nicht ins detailgetriebene oder ins erotisch-versessene abdriftet. „Hautfreundin“ ist kein female-friendly Porno, kein neues „Feuchtgebiete“. Es ist ein Buch darüber, wie eine erfüllte Sexualität für jemanden (der/die sie ausleben will), aussehen kann, die Geschichte einer Entdeckung und Eroberung des eigenen sexuellen Terrains. Und ein Buch darüber, wie dieser Wunsch auf verschiedenste Arten mit einer Welt interagiert, kollidiert, verschmilzt, in der wir heute leben (könnten).

Zu William Boyd “Eines Menschen Herz”


Eines Menschen Herz Man sollte vorsichtig sein mit Superlativen, aber “Eines Menschen Herz” ist eines der fesselndsten Bücher, die ich je gelesen habe. Dabei bin ich gar kein großer Freund von dicken Wälzern. Aber ähnlich wie in den besten Büchern von John Irving ergibt sich auch in diesem Buch aus dem Mix von Spannung und allmählicher Vertrautheit mit den Figuren ein Sog, ein epischer Bogen, der einen nach einer Weile nicht mehr loslässt und einen letztlich mit den simpelsten Wendungen und Szenen direkt ins Herz treffen kann, weil das Schicksal der Erzählung daran festgewachsen ist.

Auch ich habe mich, wie wohl manche/r, am Anfang mit der Form schwer getan – das fiktive Tagebuch eines Schriftstellers, das klingt schon ziemlich plakativ. Und in manchen Momenten, in denen Boyd seinen Protagonisten mit großen Namen zusammentreffen lässt (Hemingway, Picasso, Herzog von Windsor, Pollock, etc.) ist das Buch auch nah dran, plakativ zu sein.

Aber gerade in diesen Momenten zeigt sich auch Boyds Klasse, den meist wirken das Zusammentreffen und die Umstände ganz natürlich und klugerweise verlagert Boyd nie das Zentrum des Geschehens auf die populären Namen und Ereignisse, sie geben lediglich Gastspiele in dem Leben, das ansonsten hauptsächlich im Umfeld der Freund*innen & Beziehungen stattfindet. Es liegt ein Funken echter Eleganz in der Art, wie Boyd seine Erzählung immer wieder neu strukturiert, justiert und doch bei aller Weltgewandtheit, immer wieder auf das Wesentliche des einzelnen Lebens zurückkommt.

Es gibt ein paar schwächere Episoden in dem Buch, aber keine dauert sehr lange. Mit seinem langen Atem gelingt es Boyd, einem wirklich Tür und Tor zur Seele seines Protagonisten zu öffnen, ein paar geschickte Unterbrechungen und Zwischenspiele, Takt- und Ortswechsel sorgen für die nötige Authentizität und auch für die nötige Dynamik. Am Ende war ich atemlos, bewegt, erschüttert und zu gleichen Teilen entsetzt und beglückt davon, wie ein Leben im Zeitraffer vorbeiziehen kann, wie es sich füllt und doch immer kleiner wird. Für diese Erfahrung in Buchform bin ich William Boyd sehr dankbar.

 

Zu Julian Barnes “Der Lärm der Zeit”


lärm der zeit Julian Barnes beste Romane, zu denen auch “Der Lärm der Zeit” zählt, sind oft eigenwillige Kompositionen. Man merkt ihnen aber an, dass es Barnes dabei nicht um Formexperimente geht, sondern darum eine Geschichte genau auf die Art und Weise zu erzählen, die die wesentlichen Motive und Stimmungen, die hervorgehoben werden sollen, am besten trägt und für die Lesenden greifbar macht.

In “Der Lärm der Zeit” ist diese Form ein Gedankenstrom, ein Monolog, der einen sprunghaften, anknüpfenden und wabernden Erinnerungsprozesses simuliert. Der sich da erinnert, war einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Von drei Zeitpunkten ausgehend, werden seine Lebens- und Gedankenwelten vor uns ausgebreitet, immer wieder von wiederkehrenden, variierten Motiven durchzogen, wie bei einem Musikstück.

Das erste Mal: 1936 – gerade ist Schostakowitsch beim Regime um Stalin in Ungnade gefallen und rechnet jeden Moment mit seiner Verhaftung, weshalb er mit gepackten Koffern beim Fahrstuhl auf die Beamten wartet, Nacht für Nacht. Es geht um seine erste Oper, die in der größten russischen Zeitung verhöhnt und als westlich-dekadent gebrandmarkt wurde. Er droht dem Wahn der Denunziation und den großen Säuberungen Stalins zum Opfer zu fallen
Das zweite Mal: 1948 – nach dem großen Krieg und seiner Etablierung in der UdSSR kehrt er gerade aus den USA von einer Friedenskonferenz zurück. Er ist wiederum teilweise in Ungnade gefallen, sein Name ist von der Partei und dem Regime nie gänzlich reingewaschen worden. Er fürchtet, dass alles wieder von vorne beginnt, weiß immer noch nicht, wie er sich gegen das Regime wehren soll.
Das dritte Kapitel erstreckt sich dann nicht wie die vorangegangen hauptsächlich rückwärts, sondern von 1960 bis zu seinem Tod.

In allen Kapiteln sind die gewählten Momente und die räumlichen Festlegungen (das erste Kapitel heißt “Auf der Treppe”, das zweite “Im Flugzeug”, das dritte “Im Auto”) nur Ausgangspunkte für die Rückschau auf die vor den Kapiteln liegenden Jahre und die Schilderungen der Verstrickungen und Auseinandersetzungen zwischen Schostakowitsch und dem jeweiligen sowjetischen Regime. Er will vor allem Musik machen, muss sich aber immer vor den jeweiligen Herrschenden verantworten, wird von ihnen gefordert, bedroht, gehätschelt oder getadelt. Ständig lebt er mit dem Rücken zum Abgrund.

Barnes Roman ist das meisterhafte Porträt eines Künstlers in den schwierigen Wassern des 20. Jahrhunderts. Mit Schostakowitsch hat er sich dabei einen Charakter, einen Menschen ausgesucht, der weder ein großer Dissident, noch Anhänger einer Ideologie oder Politik war. Er war auch kein klassischer Mitläufer und kein unbequemer Geist im eigenen Haus. Das Buch zeigt auf, wie die jeweilige politische Macht sein Leben bestimmt und wie er versucht, zumindest seine Liebsten, zumindest seine Integrität und am Ende zumindest seine Musik zu retten. Er wird nicht ermordet, nicht eingesperrt, nie wirklich angegangen. Aber Stück für Stück zermürbt das System auch ihn, begleitet ihn zumindest immer, egal wo er hingeht. Er, der als Mensch gern der Musik gehören würde, seinen eigenen Gefühlen, den Menschen, denen er sich anvertrauen, mit denen er zusammen sein will, gehört doch letztlich immer dem Staat, in dem er lebt.

Das Großartige an diesem Buch ist, dass es den Menschen Schostakowitsch nicht nur darstellt, nicht nur seine Biographie einfühlsam wiedergibt. Sondern dass es eines dieser Bücher ist, denen es gelingt, den Lärm der Zeit, die profanen Kräfte der Politik und des Weltgeschehens spürbar zu machen, aber währenddessen vor allem über das menschliche Wesen, das menschliche Glück, die menschliche Würde zu sprechen, davon Zeugnis abzulegen. Barnes Schostakowitsch ist keine historische Figur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut und bleibt es von der ersten bis zur letzten Seite; er wird nicht als tragisches Beispiel inszeniert – Barnes verleiht seinem Leben wirklich eine Stimme, eine unverwechselbare. Diese große Leistung, die man leicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen könnte, macht das Buch zu etwas Besonderem.

Zu Konstantin Weckers neuer Biographie “Das ganze schrecklich schöne Leben”


Schrecklich schöne Leben „In den letzten Jahren habe ich zwei Autobiographien geschrieben („Die Kunst des Scheiterns“ und „Mönch und Krieger“). […] Vieles aus all diesen Büchern würde ich heute anders schreiben – nicht weil ich glaube, dass es falsch oder schlecht wäre, sondern einfach, weil ich es anders sehe.“

Obwohl vorn auf dieser Biographie nur Weckers Name steht, ist diese Biographie ein Gemeinschaftsprojekt: einige Kapitel sind von Wecker selbst verfasst, andere von Günter Bauch, einem beinahe lebenslangen Freund und Wegbegleiter, und einige von dem Journalisten Roland Rottenfußer, ebenfalls ein enger Freund und Betreuer von Konstantin Weckers Webmagazin „Hinter den Schlagzeilen“.

Dass eine lebende Person wie Wecker seine Biographie in dieser Weise präsentiert ist ungewöhnlich, aber auch spannend. Dem Buch ist eine besondere Dimension eigen, die aus dem Zusammenspiel der sehr persönlichen, auch bekenntnishaften und kritischen Töne von Wecker und den etwas allgemeineren, aber trotzdem lebensnahen Schilderungen von Bauch, sowie den analytischen, zeithistorischen Passagen von Rottenfußer entsteht. Man bekommt alle drei Spektren: einmal das Empfundene, zweitens wie es von anderen erlebt wurde und drittens wie es sich im Kontext der Öffentlichkeit darstellte und sich im Werk niederschlug.

„Meine Biographie ändert sich ständig. Je nachdem, was ich an Neuem dazulerne, erfahren habe, erlebt und erlitten habe, verwandelt sich mein Gedächtnis. […] In den Augen der einen bin ich heute ein Sturkopf, der sich an seine 68er-Ideale klammert und nichts dazugelernt hat, für die anderen vielleicht gerade deshalb ein aufrechter Künstler, der seinen Idealen treu geblieben ist.

Diese Mischung ist für eine Biographie nahezu ideal, in jedem Fall aufschluss- und abwechslungsreich. Manchmal stört diese Abwechslung den Lesefluss etwas, weil intensive und informative Passagen dicht aufeinanderfolgen, aber wenn man weiß, worauf man sich einlässt und außerdem erkennt, dass diese Dynamik auch immer wieder neue Perspektiven hervorbringt, ist das kein wirkliches Manko.

Was gäbe es sonst noch zu sagen? Ich werde hier keinen Kursabriss von Weckers Leben geben, dafür ist die Reise, die man mit diesem Buch unternehmen kann, viel zu spannend. Ich finde Wecker ist einer der eindrucksvollsten deutschen Liedermacher überhaupt und obwohl ich mit seinen spirituellen Einschlägen fremdle, sprechen viele seiner Lieder meinen Kopf und mein Herz an. Die Biographie hat mich noch mal darin bestätigt, dass dieser Doppeltreffer kein Zufall ist, sondern aus der großartigen Persönlichkeit herrührt, die Höhen und Tiefen bewusst erlebt und verarbeitet hat.

Zu Gabriele Katz “Liebe mich!” über Erich Maria Remarque und seine Beziehungen zu Frauen


Liebe mich! „Entgegen landläufiger Interpretationen war Remarque kein Don Juan. Es ging ihm nicht um die Eroberung möglichst vieler Frauen. Es ging ihm um das mit ihnen geteilte und durch sie gesteigerte Gefühl der Lebensintensität, der Lebenssicherheit.“

Wie sich seines Lebens vergewissern, ist doch der Tod das einzig gewisse und dazwischen tasten wir uns in tiefer Dunkelheit oder grellem Licht voran. Womit ist das Leben anzufüllen, das man bequem darauf liegen, die Reise mit möglichst viel Vergnügen hinter sich bringen kann. Ist Liebe die Antwort oder die Frage nach Liebe die Antwort?

Für Erich Maria Remarque, Bestsellerautor und Lebemann, war Liebe Essenz und Fluchtmittel, eine Vorstellung, ein Wunsch, in der/m es sich für ihn gut leben ließ – und gleichsam schlecht. Denn der Liebe Launen machten ihm (wie wohl allen, die gern darin leben würden) zu schaffen: mal scheint sie bestätigt, um dann plötzlich zu zerrinnen; mal wirkt sie wie ein Versprechen, entpuppt sich als Lüge; mal glänzt sie aber der Abglanz reicht nicht bis in die eigenen Untiefen.

Gabriele Katz hat in „Liebe mich!“ Remarques Liebesleben portraitiert, die einzelnen Stationen (also die einzelnen Frauen) bilden das dramaturgische Gerüst. In Teilen ist es natürlich auch eine Biographie seiner Werke und Ideen, vor allem aber eine gekonnte Seelenbiographe. Die Selbstauskünfte und Dokumente sind klug gewählt und die Schlüsse, die Katz daraus zieht, lassen Remarques Geisteswelt oft gestochen klar hervortreten.

„»Nicht mehr geliebt zu werden schmeißt mich in die Ängste der Kindheit zurück … Die Todesangst. Das ›Alles dran setzen‹, es zu retten. Unter allen Umständen, Demütigungen. Die langen Jahre des Immer noch drauf Wartens. Nur durch eine neue Liebe abgelöst u(nd) ablösbar, schien es …«“

Ein bisschen schade ist, dass die einzelnen Frauen zumeist sehr blass bleiben. Sie werden zwar beschrieben, charakterisiert, erscheinen aber relativ unbelebt, zumal ihre Emotionen oft nur in ihrem Verhältnis gegenüber Remarque angesprochen werden, ansonsten werden ihre Karriere und ihre Stellung in den Gesellschaft hervorgehoben, nicht aber ihre eigene Tragik.

Alles in allem ist „Liebe mich!“ dennoch ein lesenswertes Buch, mitreißend mitunter, klug und sensibel in den richtigen Momenten.

Schlicht ein Meisterwerk: Robert Hilburns Johnny Cash Biographie beim Berlin Verlag


Johnny Cash Manche biographischen Werke sind Verklärungen und manche sind entzaubernd, was beides immer ernüchternd ist. Auch eine gute, erschöpfende Recherche macht noch keine fesselnde Biographie. Es braucht noch eine Prise Magie, eine gute Dynamik, selbst wenn man eigentlich versucht, den Menschen in all seinen wirklichen Facetten, mit allen Tatsachen, abzubilden, nachzuzeichnen.

Robert Hilburn ist das Kunststück geglückt, eine erschöpfende und menschliche Studie des Menschen und Künstlers Johnny Cash vorzulegen, ohne den Mythos, der mit dieser Figur verbunden ist, zu demontieren. Es wird zwar über vieles aufgeklärt, aber Bewunderung und Momente der Schönheit werden nicht unterbunden. Entstanden ist so nicht nur eine redliche, sondern eine beeindruckende Arbeit, ein schlichtes Meisterwerk. Und eine Lektüre, die einem teilweise unter die Haut geht.

Auf besondere Weise unter die Haut geht, wohlgemerkt. Denn das wirklich Großartige an diesem Buch ist, dass sich in Hilburns Darstellung von Cashs (Innen-)Leben eine so tiefe Dimension auftut, die geradezu sinnbildlich für das Hadern, Scheitern und die Zerrissenheit jeder menschlichen Existenz stehen könnte.

Ohne auf Tränendrüsen zu drücken oder hochtrabende Apelle zu starten, führt uns Hilburn detailliert die Szenen, Erlebnisse und Geschichten dieses ganzen Lebens vor Augen – und stetig, über die Lektüre der 800 Seiten, setzt sich aus der Fülle dieser Details, der Kommentare und Ausführungen, eine Vorstellung zusammen, ein Kosmos, der den Kern eben jenes widrigen Umstandes umreißt, den man schlicht Dasein nennt.

Cash-Biographien gibt es einige, er selbst hat sogar zwei geschrieben. Diese hier ist trotzdem eine der besten, vielleicht die beste: Eine berührende, reiche, in alle Richtungen laufende und doch sehr gut komponierte Lektüre. Times a wastin. Aber nicht mit diesen 800 Seiten!

Zu “Giuseppe Mazzini” von Eva Wegensteiner-Prull


Giuseppe Mazzini “Es ist mir ein Bedürfnis über diesen Mann in seiner schicksals-schweren Zeit zu schreiben. Es soll keine wissenschaftliche Abhandlung und kein reines Geschichtswerk sein, von denen es zumindest in italienischer Sprache genügend gibt.”

Stattdessen soll es um das “abenteuerliche Leben” von Giuseppe Mazzini & dessen Stationen und immer wieder um seine Liebe zum Menschen, zur Literatur und zur Einheit Italiens gehen – ein durch und durch geglücktes Unternehmen, wenn man auch hier und da den Eindruck hat, dass die Geschichte in manchen Episoden allzu schnell vorbeisaust, was bei einem Buch diesen Umfangs aber unvermeidlich ist. Die Begeisterung, die Eva Wegensteiner-Prull dabei anbringt, entschädigt für vieles und erinnert in Teilen an die fast schon hautnahen und zutiefst humanistisch-emotionalen Geschichtswerke von Stefan Zweig (wie etwa “Castellio gegen Calvin” oder “Joseph Fouché”).

Als einziges Manko ließe sich anführen, dass das Buch sehr unkritisch gegenüber seinem Objekt, der Person Mazzinis, ist – was aber wiederum nicht zu stark ins Gewicht fällt, da es erstens die erklärte Absicht des Textes ist, die Vision Mazzinis und sein Leben, nicht aber dezidiert seine Erfolge und Verfehlungen zu beschreiben und auch keine kritische Biographie angestrebt wird, und zweitens da Mazzinis Lebensweg anscheinend wenig Beanstandenswertes enthält, zumindest was seine politischen Lösungen und Taten angeht. Gerade bei Freiheitskämpfer*innen wird das Pathos ja schon mal gerne weit entfernt vom Ethos aufgebaut. Bei Mazzini scheint dies selten der Fall gewesen zu sein, auch wenn er durchaus daran glaubte, dass man für die Freiheit kämpfen und also auch töten muss.

Ich habe dies kleine Büchlein, das schön, aber zumeist zweckdienlich und nicht übermäßig, illustriert ist (zum Beispiel mit einer Landkarte Italiens anno 1815, Portaits, etc.) gern gelesen und war teilweise überrascht, dass mir der Name Mazzini bisher kein Begriff war, trotz all seiner Schriften und Ideen. Einiges von dem, was er schrieb, weist ihn als einen der frühsten Vordenker eines Europas der verbündeten Nationalstaaten aus – eine Idee, die noch die Feuer zweier Weltkriege brauchte, um aus dem Schatten jahrhundertelanger Rivalitäten und Herrschaftsansprüche zu treten.
Die Entbehrungen, die er zu Lebzeiten ertragen musste, sind zwar nichts Neues in den leidensreichen Breiten der Geschichte, wo oft die engagierten Menschen in ungemütlichen Unterschlüpfen ausharren müssen, aber sie rühren doch im Angesicht seines Glaubens an seine hehren Ziele.

Alles in allem ersetzt dieses Buch selbstverständlich keine Biographie, dafür gelingt ihm gekonnt eine Illumination der Person Mazzinis. Lesenswert!