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Zu “Das babylonische Wörterbuch” von Joaquim Maria Machado de Assis


Das Wörterbuch babylonisch Als Fan (und Besitzer der S. Fischer Gesamtausgabe) von Jorge Luis Borges, habe ich jahrelang Texte gesucht, die zumindest einen ähnlichen Ton wie seine Erzählungen und Gedichte aufweisen, angefangen bei vielen Autor*innen in der von Borges Lektüren und Empfehlungen inspirierten Reihe Bibliothek von Babel, über andere südamerikanische Autor*innen wie Silvina Ocampo, Julio Cortázar und Gabriel García Márquez, bis zu den Verfasser*innen von phantastischen (und enzyklopädischen) Texten aus anderen Weltteilen wie etwa Stanislaw Lem (siehe „Die vollkommene Leere“) oder Italo Calvino.

Dann stieß ich glücklicherweise vor kurzem auf die Erzählungen von Joaquim Maria Machado de Assis, einem brasilianischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert, erst 2018 neu veröffentlicht in der Übersetzung von Melanie P. Strasser und Marianne Gareis. Auf dem Einbanddeckel dann auch direkt ein Zitat von Salman Rushdie – „Hinter García Márquez steht Borges und hinter Borges als Quelle und Ursprung von allem Machado de Assis“ –, das mich frohlocken ließ.

In der Tat kann man Machado de Assis in vielerlei Hinsicht als einen wichtigen Vorläufer von Borges betrachten. Schon der Titel der Erzählsammlung (und einer Erzählung darin) erinnert an „Die Bibliothek von Babel“ oder „Die Lotterie von Babylon“. Auch was das Einstreuen und gleichzeitige Verfremden von enzyklopädischen Anspielungen und die (offenen und versteckten) Verweise auf viele andere Literaturen angeht, haben die Texte beider Autoren viele Dynamiken gemein, hinzu kommt die Faszination für das Biblische und Exotische.

Auf der anderen Seite neigen Borges Erzählungen dazu, labyrinthisch und verschlungen zu werden, die Elemente Ironie und Spannung ein wenig zu zersetzen, während Machado de Assis seine Geschichten mit beschwingter und vollendeter Eleganz, und viel feinem Witz, aufbereitet. Man merkt, dass er vor Borges kam, denn er hat noch mehr Vertrauen in die Kraft der Fiktion, des Geschichtenerzählens, während Borges Ingredienzen aus Fiktion und Wirklichkeit auf unnachahmliche Weise vermischt, dem Potenzial der reinen Fiktion misstraut.

Alles in allem ist „Das babylonische Wörterbuch“ für mich eine tolle Entdeckung. Während mir die Romane von Machado des Assis immer ein bisschen verplaudert erschienen, sind einige seiner Erzählungen wunderbar vielfältig instrumentierte Kleinode, manchmal etwas gestrig, aber doch eigenwillig genug, die Distanz zum Heute mit ihren Faszinationen zu überbrücken.

Zu Denis Schecks “Kanon”


Schecks Kanon Wieder jemand, der unbedingt mit einem Kanon auf Spatzen schießen will oder besser gesagt: auf die Zugvögel, die die Menschen heute sind, ziehend von Eindruck zu Eindruck und wenig interessiert am Verweilen vor dem Buch, geschweige denn dem Klassiker, was immer das jetzt wieder sein soll? Dennis Scheck ist aber schon mal so clever nicht von „dem“ Kanon, sondern lediglich von seinem eigenen zu reden und überzeugt im Vorwort durchaus mit hehren Absichten.

Weder will er, so schreibt er dort, sich in Geschmacksfragen verirren und wichtige Bereiche der vielfältigen literarischen Landkarte dabei unterschlagen, noch will er es sich nehmen lassen, vor allem und allein seine Lieblinge auszustellen. Klingt schon sehr nach der Quadratur des Kreises, doch am Ende von Schecks Liste mit 100 Büchern sieht das, was sich da entfaltet hat, tatsächlich sowohl einem Kreis als auch einem Quadrat nicht unähnlich.

Denn in der Tat berücksichtigt er in seinem Kanon nicht nur viele Autorinnen, sondern auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“ und Ngũgĩ wa Thiong’os großartiges Werk „Der Herr der Krähen“, „Omeros“ von Derek Walcott, Sei Shonagons „Kopkissenbuch“ und einige andere Bücher aus nicht westlichen Kontexten. Zusätzlich bricht Scheck noch Lanzen für ausgewählte Vertreter verschiedener Genres, darunter Comic (Tim und Struppi, sowie Donald Duck), Fantasyroman (Herr der Ringe), SciFi (Ursula K. Le Guin) und Kinderbuch (Karlsson vom Dach) (wobei er auch anmerkt, das Unter-Genres ihm meist eh wenig einleuchten).

In Summe ist dann aber doch sehr viel Klassisches dabei: „Die Odyssee“, „Faust“, „Krieg und Frieden“, „Verbrechen und Strafe“, Ovid, Shakespeare, Flaubert, Cervantes, Kafka, Proust, etc. – mal geht Scheck diese Klassiker durchaus erfrischend an, manchmal durchaus gebräuchlich. Trotzdem gibt es genug zu entdecken und Scheck kann immer wieder mit charmanten und anschaulichen Darstellungen punkten, manchmal verzettelt er sich aber auch und der Text dreht sich etwas zu wenig um das Buch selbst und etwas zu viel um etwas anderes, das Scheck erzählen will (überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Qualität der Texte gegen Ende etwas abnimmt).

Von James Tiptree Jr. über Hypatia bis zu Lu Xun gibt es dennoch, wie gesagt, einiges Neues zu entdecken und manche Klassiker werden durch Scheck auch anschmiegsamer, klingen lesenswerter, spannender. Zu einigen Büchern wird man unweigerlich greifen wollen, andere kann man vielleicht endgültig ad acta legen. Letztlich ist dieses Buch vor allem ein Genuss, wenn man Spaß daran hat, einem großen Buchfreund beim frei von der Leber-Reden zuzuhören.

Zur neuen Ausgabe der “Göttlichen Komödie” beim Manesse Verlag


Göttliche Komödie Immer wieder habe ich in verschiedenen deutschen Übersetzungen von Dantes Göttlicher Komödie gelesen und eines ist klar: schöne Übersetzungen gibt es viele. Die Dante-Gesellschaft zählt bis heute 52 vollständige Übersetzungen, beginnend 1767 mit Lebrecht Bachenschwanz Prosaübertragung und endend bei den Prosa-Übersetzungen von Kurt Flasch und Hartmut Köhler in den letzten Jahren (2011 bzw. 2012). Die ganze Liste kann hier eingesehen werden: http://dante-gesellschaft.de/dante-alighieri/divina-commedia/

Ida und Walther von Wartburgs Übertragung aus den frühen 60er Jahren gilt durchaus als eine der klassischsten. Einen großen Vorteil bietet die Manesse-Ausgabe mit dieser Übersetzung allerdings vor allem wegen des sehr umfangreichen Kommentars, den Walther von Wartburg zu jedem Einzelnen der 100 Gesänge verfasst hat und der einen mit Erläuterungen, Hinweisen und Hintergründen versorgt. Während ich bei der Übersetzung nicht immer sicher war, welche ich vorziehen soll und welche am adäquatesten (oder schlicht schönsten) ist, hat sich dieses tausendseitige Ausgabe aufgrund des Kommentars als die beste Art und Weise erwiesen, sich Dantes Meisterwerk zu nähern.

Ich denke nicht, dass man zur Commedia selbst etwas sagen muss. Es ist ein einmaliges, in vielen Belangen großartiges Werk, das an einigen Stellen eine berauschende Schönheit, an anderen eine überzeitliche Klugheit besitzt. Wer sich dem Werk nähern und sich zur Lektüre angeregt sehen will, dem kann ich Roberto Benignis „Mein Dante“ oder die wunderbaren Essays in Jorge Luis Borges „Letzte Reise des Odysseus“ empfehlen. Auch einige Abschnitte aus Alberto Manguels „Geschichte der Neugierde“ drehen sich um dieses epische Gedicht, das im Übrigen die italienische Sprache zur Schriftsprache machte und vom Latein loseiste.

Wer sich dieses Buch noch nicht vorgenommen hat, bei wem es nicht zumindest auf der Longlist steht, an den möchte ich auf jeden Fall appellieren: schaut mal rein. Oft schlägt einen das Buch schon mit dem Prolog in seinen Bann oder beim Lesen in einem x-beliebigen Kapitel. Für wen Terzinen nichts sind, der kann zu einer der Prosa-Übersetzungen (bspw. die von Flasch) greifen, wer es pompös mag, dem würde ich zu einer Ausgabe mit der Übersetzung von Philalethes raten. Und wer sich nicht ohne Beiwerk herantraut, dem sei diese Ausgabe hier wärmstens empfohlen.

Zu “Die verborgene Bibliothek” von Alberto Manguel


Die verborgene Bibliothek

Als Diodorus Siculus im 1. Jahrhundert Ägypten besuchte, las er über dem in Ruinen liegenden Eingang der alten Bibliothek den eingravierten Schriftzug »Klinik der Seele.« Vielleicht ist das das höchste Ziel einer jeden Bibliothek.

Nicht viele Lektüren gibt es, die Geborgenheit verheißen. Jede begeisterte Leserin/jeder begeisterte Leser kennt und besitzt wohl solche Bücher, die ihn nicht nur unterhalten oder inspirieren, sondern ihr oder ihm das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein in der Welt, nicht allein zu sein mit seinen Gefühlen, Vorlieben, Hoffnungen und Wünschen.

Alberto Manguel – ein Autor, dessen ganzes essayistisches Werk ums Lesen, um die Bandbreite der Erkenntnisse und Freuden die in Begegnungen mit Büchern liegen, kreist – hat einige Bücher geschrieben, die mir ein Gefühl von Geborgenheit geben, die die Zuneigung, die ich Büchern entgegenbringe, beflügeln und meine Überzeugungen zu Themen wie Humanität und den Glauben an die wichtige Funktion, die das Geschichtenerzählen in unserer Kultur einnimmt, widerspiegeln. Manguel schreibt:

Schon immer haben Bücher für mich gesprochen.

und das ist eine Erfahrung, die ich nur allzu gut kenne. Und die er meisterhaft heraufbeschwören kann.

Sein neustes Buch ist im Prinzip ein Mix aus den Motiven seiner früheren Bücher (gruppiert um einen biographischen roten Faden). Ausgangspunkt ist das Verpacken seiner Bibliothek, die über Jahre, wie er selbst, in Frankreich zu Hause war und jetzt in dutzenden Kartons zwischengelagert wird. Wie es dazu kam und wie dieser scheinbare Abschied dann doch einen neuen Anfang markierte, schildert er in dem Hauptstrang des Textes; der ist sowohl Lebensbilanz als auch, wie immer, ein Bekenntnis zur Schönheit und Kraft der Literatur.

In zehn Abschweifungen greift er außerdem verschiedene Themenkomplexe auf, die immer wieder die Idee der Bibliothek streifen, aber auch andere kulturelle, ethische oder historische Abzweigungen nehmen. Manguel besitzt die erstaunliche Fähigkeit, in derselben Passage ein Thema zu erörtern und eine Geschichte zu erzählen, eine Eigenschaft, die seinen Texten eine ganz bestimmte Art von Faszination verleiht, wie ich sie sonst nur aus den Texten von Jorge Luis Borges oder Joseph Brodsky kenne.

Literatur, Lesen und Schreiben, sind eine einsame und zugleich universelle Angelegenheit. Literatur ist etwas, dass sehr viel mit uns als Individuum zu tun hat und uns doch die Möglichkeit gibt, mit anderen Menschen viel zu teilen. Auch dieser Widerspruch, der die tiefsten Gründe unserer Existenz mitbedingt, ist immer wieder Thema in Manguels Erörterungen.

Wir suchen zeitlebens voller Sehnsucht nach unserer anderen Hälfte. Und doch sind all das Händeschütteln und Umarmen, alle akademischen Debatten und Kontaktsportarten nicht genug, um die Individualität, zu der wir verurteilt worden sind, aufzubrechen. […] Wir sind verdammt zur Singularität.
Jede neue Technologie birgt in sich auch die Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Auch unsere neuen digitalen Technologien konnten dieses Versprechen (das sie noch deutlicher als alle Technologien vor ihnen zu proklamieren schienen) nicht halten. Auch die Literatur kann nicht für immer die Grenzen zwischen uns und anderen einreißen. Aber sie kann kurze Übergänge, störungsfreie Übertragungen, Austausch und Einbezug ermöglichen, anregen.

„Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt“ schrieb Ilse Aichinger und die Literatur, die Kunst, hat sich dieser Aufgabe von jeher angenommen.

Und die Kunst, speziell die Literatur, hat in Manguel längst einen ihrer wundervollsten Fürsprecher, Verteidiger und Idealisten gefunden. Das neue Werk ist wieder voller wunderbarer Zitate, Anekdoten, Erläuterungen und Anregungen; es erschafft und öffnet wieder Türen und Fenster.

Ich bekenne ganz ohne Scheu: ich habe mich auch in dieses neuste Buch wieder vernarrt, in seine Verbindung aus Menschlichkeit und Gelehrtheit, aus Melancholie und Begeisterung. Lesen Sie Manguel! Es gibt nur wenige Schriftsteller*innen, die einen so gastfreundlich aufnehmen und kaum welche, die man mit so viel Hoffnung und neuen Ideen wieder verlässt.

Ein Jahr vor seinem Tod traf Kafka während einer Kur in Müritz seine Schwester Elli und ihre drei kleinen Kinder. Eines der Kinder stolperte und fiel. Die anderen beiden wollten schon laut loslachen, doch um zu vermeiden, dass sich das Kind für seine Tollpatschigkeit schämte, rief Kafka ihm in bewunderndem Ton zu: »Wie toll du fallen kannst! Und wie gut du wieder aufgestanden bist!« Vielleicht können wir (wenn auch wohl vergeblich) darauf hoffen, dass eines Tages jemand kommen und auch diese erlösenden Worte sagen wird.

Zu Eliot Weinbergers “Vogelgeister”


Vogelgeister Blau ist ein Klang.

Amy Beach sagte, ein as sei blau. Rimsky-Korsakov sagte, ein eis ist blau. Franz Liszt, der 1842 in Weimar probte, flehte das Orchester an, ein wenig mehr Blau zu spielen.

Scriabin sagte, sowohl Ges-Dur als auch ein fis seien strahlend blau, das h normal blau und e himmelblau.

Bis ich dieses Buch in Händen hielt, kannte ich Eliot Weinberger nicht. Ein Freund sah mich damit und sagte: Das ist wirklich was für dich, der ist ein bisschen wie Borges. Pustekuchen, dachte ich. Und: Niemand ist wie Borges. Oh, ich irrte.

Schon das erste, was Eliot Weinberger und Jorges Luis Borges gemeinsam haben, ist die breite Auffassung in Bezug auf Genres. Essays nennt Weinberger die Stücke in “Vogelgeister” (und dem Vorgängerband “Das Wesentliche”), doch sie haben keinen argumentativen, Schlüsse anstrebenden Verlauf, sondern setzen sich zu großen Teilen aus lyrischem, nacherzählendem, aphoristischem und fragmentarischem Text zusammen. Schnell hat mich das Buch tatsächlich an Borges Band “El hacedor” erinnert, ein Buch mit Kurz- und Kürzestprosa und Gedichten voller essayistischer und gedanklicher Sprengsel.

Ähnlich wie Borges hat Weinberger anscheinend ein enzyklopädisches Wissen, fußend auf einer vielfältigen und obsessiven Lektüre. Indien und Asien, der Reiz der fernen und verschollenen Mythologie, der Zauber von Abgeschiedenheit und Sagenumwobenen, sind wiederkehrende Orte und Themen in seinem Werk, wie auch bei Borges. Manche Texte sind Aufzählungen von Gegebenheiten und Aufzeichnungen aus den Chroniken bspw. von China – eine z.B. über einen Mann, der immer Gedichte mit seinem Cousin schrieb, der aber eines Tages nicht kommen konnte und kurz darauf träumt der Mann ein Gedicht:

Frühlingsgras wächst am Ufer des Teichs,
der Garten ist voller singender Vögel.

Hsieh Ling-yün war überzeugt, er habe diese Zeilen mit göttlicher Hilfe geschrieben.

Natürlich unterscheidet Weinberger sich auch in einigen Punkten klar von Borges. Bei ihm verschmelzen Sinnlichkeit und Sinn, Geist und Körperhaftes, Empfinden und Denken noch mehr ineinander, untrennbar verwoben geradezu. Es hat etwas Meditatives seine Auslotungen zu lesen, die von einer großen, übervollen Welt wundersamste Tropfen abschöpfen und sie einzeln in das Gefäß der Aufmerksamkeit fallen lassen. Manche Texte fließen wie die Flussfahrten von denen sie handeln.

Im 10. Jahrhundert wurde in der T’ai-p’ing-Sammlung festgehalten, Chang Cho, ein Student, habe geträumt, dass sein Körper mit Wolken bedeckt war. Es wurde erwähnt, dass er in den Prüfungen den ersten Platz belegte.

Alte albanische Gesetze, eine Aufarbeitung der verschiedenen Mythologien von Adam und Eva, kleine, ungeheuerliche Geschichten, Gesänge und Gedichte: es ist eine regelrechte Pracht, eine geheimnisvolle, die sich hier offenbart. Zeitweise ist es mir fast zu zart, was Weinberger offeriert; so unbekümmert und doch bestimmt wird einem hier das Phantastische und das Weltliche gereicht.

Ein kleiner Schatz, den man lesen sollte, wenn man auf jeder Seite erstaunt werden will, verblüfft bisweilen, unter den Flügelschlägen von Poesie und Mythos. Ein Buch voller Wunder, voller sanfter Archaik, dessen Worte wie Wurzeln sind, die ungeheuer tief hinunterreichen.

Im Nil ist ein Stein, der einer Bohne gleicht. Wenn Hunde ihn sehen, hören sie auf zu bellen.

Zu Alberto Manguels Essays und Betrachtungen in “Im Spiegelreich”


Indem wir Wörter mit Erfahrungen paaren und Erfahrungen mit Wörtern, durchforschen wir Leser die Geschichten, in denen etwas nachhallt, die uns auf eine Erfahrung vorbereiten oder uns von packenden Abenteuern erzählen, die wir niemals anders erleben werden (wie wir nur zu gut wissen) als auf dem Papier. Dementsprechend ändert sich mit jeder Lektüre unsere Vorstellung von dem Buch, das wir uns vorgenommen haben.

Seit ungefähr zwei Jahren zähle ich den Literaturliebhaber und vielseitigen Essayisten Alberto Manguel zu meinen Lieblingsautoren; für mich stehen seine Bücher gleichberechtigt neben den (natürlich umfassenderen, universelleren) Essay-Werk von Jorge Luis Borges (Borges verliebt sein ist einer der Essays in diesem Band gewidmet). Ich kann nur jedem empfehlen “Die Bibliothek bei Nacht”, “Eine Geschichte des Lesens” und, allen voran, das Büchlein “Eine Stadt aus Worten” zu lesen. Viel Feinsinn und viel Anregung erwarten alle Lesenden.

„Im Spiegelreich“ habe ich in den letzten beiden Jahren immer wieder gelesen, mal einen Text, mal hundert Seiten am Stück, mal nur eine Passage; das Buch blieb eine Fundgrube, eine immer wieder gern zur Hand genommene Beschäftigung und ich habe mich auf sehr unterschiedliche Weise mit den Texten auseinandergesetzt.

Ich möchte nicht die ganze Geschichte dieser Auseinandersetzungen hier auswälzen. Fest steht, dass in diesem Buch eine Sammlung von Artikeln, Betrachtungen, Portraits, Rezensionen und Essays zusammenkommt, die eine beachtliche Anzahl von Ideen & Ansätzen zur Literatur und ihrer Umgebung ausarbeitet, bedenkt und widerspiegelt; mannigfaltiger als bei jedem anderen Band, den ich kenne. Letzteres ist nicht nur ein Qualitätsmerkmal, denn mancher Gesichtspunkt ist weniger gut ausformuliert, mancher Text hat eher den Charakter eines Einwurfs, einer Anmerkung oder verliert sich in seiner Agitation.

Nichtsdestotrotz: ein paar dieser Texte sind Gold wert. Sie umkreisen politische, ästhetische, gesellschaftliche, historische und biographische Dimensionen, fesseln manchmal durch das Beziehen einer klaren Position, oft aber auch durch das feine und nicht abschließend wertende Ausloten und -balancieren einer Idee. In jedem Fall enthalten Manguels Exkurse und Meditationen die eine oder andere Epiphanie. Denn Literatur, das ist der Gang ins Spiegelreich. Und wie verblüfft sind wir, wenn sich ein solcher Spiegel manchmal als Fenster mit einer wunderbaren Aussicht und manchmal als Mikroskop, dann wieder als gebogene Linse erweist, mit deren Hilfe wir alles ein bisschen klarer sehen können.

Wahres Erleben und wahre Kunst (mag dieses Adjektiv auch noch so unbequem geworden sein) haben eines gemeinsam: Sie umfassen immer mehr, als wir begreifen, mehr sogar als unsere Begriffsfähigkeit. Ihre Dimensionen liegen immer ein wenig außerhalb unserer Reichweite, wie es die argentinische Dichterin Alejandra Pizarnik einmal beschrieb:

Und wenn die Seele fragen würde, um wieviel weiter? Müsstest du antworten: Bis zum anderen Ufer des Flusses, aber nicht dieses Flusses, sondern des Flusses danach.

Borges zum 118. Geburtstag


für Maria

Was am Anfang bestimmend war, das waren die Viertel von Buenos Aires. Die Dunkelheit, der Mondschein, das schier abhanden kommende Dasein in den Fluchten von Spiegeln und Träumen, den Serpentinen zur Nacht, den engen Gassen. Das Schein und Sein-Spiel, ganz unerheblich, und doch: deine Existenz, noch etwas tiefer geschöpft, weiter vergossen, klarer ins fast schon Zerriebene gestellt.

Der Mond rief unerbittlich auf, in seinem weißen Zink, die Entfernungen der Welten, die Nähe der Sehnsucht und die Knochen, in denen du steckst. Während dein Kopf sich universell fühlt, zu Gedanken gezogen, Phantasien, Ideen und dem Hang sich an den Fasern der Bücher, der Worte, aufzutrennen, viel mehr hereinzulassen, als existieren kann, außen und innen. Die willkürliche Seele verlangt blindlings nach Dauer und nach Inhalt. Und durch die Seiten, die Verse, ist es, als würde es nicht um Menschen gehen – in eine Haut gebannt wie jeder, der von ihnen lesen kann – sondern ein bisschen mehr ist da und wie kommt man dahin, darauf …

Meditationen. Jedes Gedicht ist einem besonders tiefen Moment verpflichtet, verdankt. Das Universum wird mit jeder Zeile als Falte gesehen, die man umschlagen kann; das Universum, jenes Etwas, das sich auf seltsame Art die Zeit einteilt und die Räume, die Erscheinungen, die Träume, die Ereignisse, die Stimmungen, in denen du leben kannst als wären sie deine. Die Dimensionen der Gedanken leuchten in deinen Kopf und finden dann und wann dein Staunen, den Schönheitsreflex.

Swedenborg, Emerson, De Quincey, Chesterton, Shakespeare. Die Lektüre von Jahrhunderten und einem verregneten Abend, der vergessen wurde, wieder auferstand. Die Verse, die Essays, Geschichten, die Fortsetzung der Lektüre mit anderen Mitteln. Die Faszination ist da – gesprengt von den Worten, den Seiten, den Büchern, Einbänden, Namen, dem Satz, den du dir nicht einmal anstreichst, weil er ein Farbton ist, dem du wieder ganz plötzlich begegnen willst, ohne Hinweis, ohne Warnung. Keine Mauer errichten, kein sicheres Lager! Ein Erinnern ist das Lesen und ein Vergessen.

Ein Ausblick so groß wie der Himmel, ein Gedanke, so groß wie eine Wolke, ein Erkennen, so sanft wie ein Regen.

Zeit. Nichts fasziniert mehr als dieses Phänomen, das keines ist, weil es immer nur war und wird. Nur wir sind. Zeit geht und kommt. Wir gehen und kommen mit.

Menschen, Dinge, die uns elektrisierten, die sich uns eingaben wie ein Gott ohne Namen, als Antwort auf ein verloren geglaubtes Gebet. Im Schreiben sich dem nähern, was aus dem Schreiben erst entsteht.

Die Vorstellung: ein Wunder? Oder gekrümmte Realität? Realität: eine zurechtgekrümmte Vorstellung?

Zumindest ein Wunder: Dass es so viel zu lesen gibt. Durch das Geäst der Worte entsteht der Wald der nicht gerodeten Freiheit sich etwas auszudenken, mitzudenken, nachzudenken, vom Denken ins Schreiben zu wechseln.

Auf Wissen um die Navigation muss man verzichten, Literatur. Wir haben kein Ziel, wir fahren hinaus, wir steuern nicht an, wir reisen.

Wissen, dass Dichtung immer ein bisschen ein Abschied ist. Linien ins Nichts, an denen du dann hängst, dich festhältst, liegst wie in einer Hängematte, die solange hält, bis du das Buch zuschlägst; und etwas darüber hinaus. Und wieder hinein.

Alles was Besitz ist, bleibt Besitz des Gestern, der sich bis heute hält. Aber was hält, ist wichtig. Ist schön. Darin findet das Leben schon länger statt, wird erstmal nicht aufhören, darin stattzufinden, vielleicht. Hoffentlich; sicher nicht ewig, denn die Ewigkeit gibt es nur und nicht für dich.

(erschienen zuerst auf dasgedichtblog.de, Link)

Ein großartiges Buch: “Wenn ein Kind an einem Sommermorgen” von Roberto Cotroneo über die Liebe zur Literatur


Kann man einen Brief in Form eines Buches schreiben, um eine Lust zu erklären, nämlich die Lust des Lesens?

Ein Vater schreibt seinem Sohn einen Brief über die Liebe zur Literatur. Nicht die Liebe zum Lesen unzähliger Seiten, sondern zum Mysterium, zur Kraft, die in den Büchern steckt; er schreibt über die schiere Lust am Enträtseln und Verschlüsseln der Welt durch die Feinheiten der Erzähl- und Dichtkunst. Dieses Buch soll zeigen und zeigt es überdeutlich: Literatur ist nicht weltfremd, sie ist das Freilegen der Zentren, von denen das Leben zu uns fließt, in denen die Welt entsteht und die Übertragung der Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten in Reinschrift.

Anhand von vier Werken, Stevensons “Die Schatzinsel”, J. D. Salingers “Fänger im Roggen”, Gedichten von T.S. Eliot und Thomas Bernhards “Der Untergeher”, bewegt sich Cotroneo durch verschiedene Erweckungserlebnisse und Kosmen, die die Literatur erreichen und abbilden, aufzeigen kann. Zu Salingers wunderbarem Roman schreibt er zum Beispiel:

aber am Ende werden wir begreifen, dass dieses Buch nicht bloß die Geschichte eines Jungen ist, der gegen alle Regeln verstoßen will, sondern mehr: sondern die Geschichte eines Jungen, der, auf seine ironische Art, verloren in einer Welt voller Roggenfelder lebt, nahe an einem Abgrund, wo es jedoch nur wenige Fänger gibt. Es ist ein Buch über einen Heranwachsenden, der verzweifelt nach Großzügigkeit sucht, und es ist eine Streitschrift gegen den Egoismus, gegen eine unerträgliche Welt des Mittelmaßes, aufgemöbelt mit Großtuerei, mit einer Rhetorik, die dazu dient, Armseligkeiten aller Art zu bemänteln.

Cotroneo geht in die Tiefe und versteigt sich doch nicht; das Buch ist keine literaturwissenschaftliche, sondern eine homme de lettres-Schrift. “Wenn ein Kind an einem Sommermorgen” ist, ganz schlicht und einfach, ein großartiges Buch über die Reichhaltigkeit und den Sinn der Literatur, über das, was uns an ihr wirklich bewegen kann, worüber wir nur bei ihr Kenntnis erhalten können. Eine fesselnde und erweiternde Lektüre und eines der wenigen Bücher, die ich wahrscheinlich selbst in Phasen tiefster Verzweiflung oder Sinnlosigkeit lesen könnte; ein Rückzugsort wie es Salzwasser von Carles Simmons oder Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams sind.

Nun bin ich auch jemand, der zugegebenermaßen an derselben Verehrung für die Literatur leidet wie Cotroneo und auch regelmäßig an ihr genese. Ja, auch bin überzeugt davon,

dass die Literatur, der Traum, von dem wir in diesem Buch sprechen werden, nicht nur ein intellektuelles Spiel ist, sondern das einzige Mittel, die Welt zu verstehen, das einzige, sie durch die Brille der Mehrdeutigkeit zu sehen, die heute außer Gebrauch gekommen ist.

Uneingeschränkte Empfehlung!

Zu den gesammelten Gedichten von Cees Nooteboom im ersten Band der Werkausgabe


Aus Schwarzem Gold fliegen Vögel auf
und entbinden ihre Flügel.
Das immer blinder gemalte Auge sieht es
und schreibt.”

Der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom ist vor allem für seine Reiseberichte und Novellen bekannt; und er hat mit „Allerseelen“ und „Rituale“ auch zwei bedeutende Romane geschrieben. Dass in dem feinfühligen, versierten Erzähler auch ein Dichter steckt und dass dieser Dichter beweist der erste Band der Werkausgabe, in dem nahezu das ganze lyrische Schaffen von Nooteboom versammelt ist (ausgenommen der neuste Gedichtband „Licht überall“ und weitere Ausnahmen, siehe unten)

“Wir kennen die poetische Poesie, die gemeinen Gefahren
von Mondsucht und Singstimme. Bloß balsamierte Luft,
es sei denn, man macht daraus Steine, die glänzen und schmerzen.”

Nootebooms lyrisches Werk geht bis zu seinen Anfängen zurück. 1956, ein Jahr nach seinem Prosadebüt Philip und die anderen, entstand ein schmaler Gedichtband, der leider ebenso wie die Gedichte nach 2003 (welche im letzten Band der Werkausgabe “Poesie und Prosa 2005-2007” gepackt wurden) hier nicht enthalten ist; 1959 folgten dann die “Kalten Gedichte”, die, ebenso wie das vier Jahre darauf folgende “Schwarze Gedicht”, noch sehr expressionistisch sind; kantige und wie abgewaschene Regungen und Bilderwelten, die aber schon eine gewisse Stärke im Ausdruck haben.

“Der weg zerfällt am verweinten gebirge.
nun stirbt die goldene sonne in ihrem gefolge
das rot färbt alle Bäume.”

“doch der Wind reitet vorbei auf kopfscheuen pferden
der mond wählt einen ängstlichen Weg in die Wolken
nur ab und zu fallen silberne Splitter herunter”

Im weiteren Verlauf lässt sich eine Verbindung zum lyrischen Werk von Jorges Luis Borges ziehen, mit dem Nooteboom eine demütige, geradezu erlesen-feine Sprache teilt, die sich wie aufs Verwalten verlegt; besonders stark habe ich mich bei dem auch als Einzelband veröffentlichten Werk “Das Gesicht des Auges” an diese Art erinnert gefühlt.

Von Borges trennt ihn wiederum seine nicht intelligibeln, sondern existenziellen dichterischen Themen. Bei Nooteboom geht es nämlich oft auch um das Schreiben selbst, oder um das Lesen und dazwischen um die Möglichkeiten von Erkennen, Einfangen und Ausdrücken; das verknüpft er gerne mit einem anderen Thema von ihm: mit Relativität und Zeit, zwei Themen, die auch Borges oft beschäftigten.

“Ich lese deine Gedichte in Broome,
auf der anderen Seite der Welt.
Nicht Besonderes. Es gibt nur eine
und die ist rund.”

“Ich, der ich gelernt habe,
dass die Zukunft ein Motor ist,
der noch nie gelaufen ist,
dass alle Sprachen dasselbe verschweigen
und all meine einmaligen Träume
im Kino zu sehen sind.”

Doch bei all dem, was ich bereits gesagt habe und was man leicht an den Beispielen erkennen kann, ist Nooteboom zusätzlich noch ein Dichter mit zwei Gesichtern. Seine klareren und poetischen Werke waren für ihn kein Grund auch andere, kryptisch-hermetischere Lyriken zu schreiben; Gedichte in denen fast in jeder Zeile zwei Wörter aufeinander losgelassen werden, in denen Kontraste dominieren, in denen der Sinn ein Zauberwürfel in Form eines Prismas ist.

“Doch drüben, wo der Tod ist, an Land,
liest der Wind in der Zeitung der Zeit,
dort reden Tote in ihren weiten Schemen
von Ewigkeit und Einsamkeit.”

“Die besten Dichter haben uns einige gute Gedichte hinterlassen, haben ein paar Zeilen zum Beweis der Poesie vorzuweisen und sind niemals darauf verfallenen eine zweidimensionale Zeile zu verfassen.” Wenn dieser Satz von Ezra Pound stimmt, dann ist Nooteboom ein großer Dichter. Für mich auch deswegen, weil er poetisch ist, aber sich dennoch nie ganz in einer einzelnen Poesie niedergelassen hat; man liest stürmische Zeilen, bekommt aber vom Autor ein Schiff, mit dem man darauf fahren kann; man bekommt Weisheiten serviert, man wird aber auch leicht abgewandt in welche eingefädelt. In diesem Sinne ist eigentlich jede Etappe dieser gesammelten Gedichte lesenswert.

“So wie die Lilie einschläft
in ihrem Hotel, die Nacht vor Kriegsbeginn,
während unten der Portier
die Rechnungen schreibt.

So werden Jahre Zeit.”