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Zu Julie Estèves “Lola”


„So wie andere Leute sich mit der Rasierklinge ritzen, spreizt Lola die Beine. Denn sie findet beim Sex, das verstehe, wer will, ein Stück weit ihre Unschuld wieder.“

Im Einbandtext dieser Ausgabe steht, dass Julie Estève sich mit ihrem Debütroman in eine „feministische Tradition“ einreiht, die auf Virginie Despentes und Elfriede Jelinek zurückgeht. Das ist für ein Debüt zunächst einmal sehr hoch gegriffen und lässt bei Lesenden wie mir eine Erwartung entstehen, die zersetzend wirken kann, weil selbst das an sich Gelungene im Lichte einer zu großen Erwartung auf einmal unpassend wirkt, enttäuschend.

Im selben Absatz des Einbandtextes wird davon gesprochen, dass es in Lola um weibliche Lust geht. Auch hier wird dem Buch Unrecht getan – es wird auf einen Aspekt, ein Motiv verengt Denn ebenso wenig wie es in Gustave Flauberts Buch Madame Bovary allein um Ehebruch geht oder in Melvilles Moby Dick allein um Rache an einem weißen Wal, ist Lola die Geschichte einer Frau, die sich mit ihrer Lust auseinandersetzt; wäre es ein Buch, das von einer nymphomanischen Betätigung handelt und nichts weiter, eine Geschichte über sexuelle Eskapaden, müsste man nur wenige Worte darüber verlieren.

Aber es geht in diesem Buch vielmehr um Einsamkeit, um die Einsamkeit inmitten des Rausches, der das Leben ist; um die Unmöglichkeit sich beieinander zu finden, sich durch den anderen zu ergänzen. Die Protagonistin Lola, aus deren Sicht ein Großteil der Handlung geschildert wird, ist eine unsichere, diese Unsicherheit mit offensiven Zügen kaschierende, vom Verlust ihrer Mutter und dem Scheitern einer jungen Liebe gezeichnete, verzweifelte Frau, die den Lesenden allerdings als ein wandelndes Klischeepaket, eine Kreuzung aus Femme-Fatale und todessehnsüchtiger Nymphomanin, vor den Latz geknallt wird. (Im Einbandtext wird behauptet, die Autorin arbeite mit Ironie und schwarzem Humor – zu einer Humoreske taugt dieses Buch allerdings ganz und gar nicht.)

Überhaupt hätte ich mir, obgleich es ein Debüt ist, eine bessere, gründlichere Ausarbeitung gewünscht. An manchen Stellen fehlen Feinschliff und Balance. Man kommt sich, vor allem zu Anfang, ständig bevormundet vor; Estève schildert nicht bloß, sie haut ihren Leser*innen die Eigenschaften ihrer Figuren geradezu um die Ohren, nimmt ständig unnötig malerische Charakterisierungen vor (z.B.: „Sie bekommt Hunger. Hunger wie ein streunender Hund.“) und setzt alles daran, die Dimensionen der Figuren auf ein kontrolliertes Maß herunter zu brechen.

Nun könnte man meinen: das ist nun mal ihr Schreibstil. Aber ich sehe einfach keinen Mehrwert in dieser Art, die die meisten möglichen Untiefen abtötet, den Roman zu einer Einbahnstraße macht. Die mangelnde Bereitschaft, den Figuren nicht nur eine Gestalt angedeihen zu lassen, sondern auch Räume um diese Gestalt herum, wird durch zahlreiche Erklärungen kompensiert und das Umsichwerfen mit Sinnlichkeiten.

Dabei könnte Lola eigentlich eine Figur sein, mit der einer großen Verzweiflung ein Angesicht verliehen wird. Sie ist eine legitime Nachfahrin von Emma Bovary, ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben, ihrer Furcht vor der Gewöhnlichkeit, der sie doch nicht entkommen kann, denn sie herrscht auch dort, wo vermeintlich etwas Schöneres, Bedeutsameres lauert. „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ – die Brutalität, die in diesem abgegriffenen Zitat liegt, sie wird hier angesprochen, umkreist.

Aber die Aufmachung, das leicht Unausgegorene des Buches, lassen seinen Fokus etwas zu reißerisch wirken, verstellen den Blick auf Lolas wirklichen Schmerz. Dieses Buch würde in Teilen eine sehr gelungene Novelle abgeben; es gibt Aspekte wie die Vater-Tochter-Beziehung, der Muttertod, der Frust des Begehrens und des Nicht-Begehrens, die gelungene Ansätze offenbaren, aber auch zahlreiche unnötige Abschnitte und immer wieder ärgerliche Verflachungen.

Lola ist die Geschichte einer Suche nach Ertragen – im Dreck, im Wunder, im Schund, im Scheitern des Lebens. Mit einer Protagonistin, die mal leuchtet, mal einfach nur wie ein Mittel zum Zweck wirkt. Beim Buch ist es ähnlich: manchmal leuchtet es, manchmal wirkt es einfach nur grell, unordentlich. Es wäre mehr drin gewesen, wie manche Passagen anzukündigen scheinen.

„Sie stellt sich die jungen Leute vor, die schüchtern zum ersten Mal ‚Ich liebe dich‘ sagen, mit schamgerötetem Gesicht. Die jugendliche Liebe ist die reinste, die gewaltigste. Lola ballt die Fäuste, bis die Fingernägel sich in ihre Handflächen bohren. Von draußen dringt der gewohnte Lärm herein, und drinnen, in der Wohnung mit den vielen Teppichen, ist ihr gleichmäßiger Atem das einzige Geräusch.
Lola macht sich einen starken Kaffee, ihr Blick ist leer. Sie versucht, mit den Fingern die Knoten in ihrem Haar zu entwirren. Früher hat das ihre Mutter getan, beim Frühstück, während Lola ihre Schale heiße Schokolade trank. […] Doch eines Tages war die Hand, die die schwarze Bürste umfasste, verschwunden. Zurück blieben nur der Nesquick-Dampf und die Tränen eines Kindes, das nie so recht verstanden hat, was mit Trauern eigentlich gemeint war.“