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Im Übergang


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Ich muss zugeben, dass ich Mareike Fallwickls zweiten Roman mit einer gewissen Skepsis zu lesen begann. Zwar gefiel mir von Anfang an die Art, mit der sie ihren Plot aufzog, aber ich wurde nicht so recht warm mit den Passagen, die anfangs wie der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Story wirkten.

Aber zunächst kurz zum Aufbau: der Roman ist in drei Erzählstränge geteilt, die sich nach einem festen Prinzip abwechseln. Zum einen sind da die elf Kapitel, die von 10 auf 0 in den Überschriften heruntergezählt werden, geschildert aus der Sicht von Maximilian Wenger (oder einfach “der Wenger”, wie ihn alle nennen), einem ehemaligen Skandalautor und Krawallmacher, der sich nach der Trennung von seiner Frau in seinem neuen Leben nicht zurechtfindet und vor allem: nicht mehr schreiben kann.

Im zweiten Erzählstrang folgen wir der Geschichte von Zoey, Wengers Tochter, mit der er allerdings wenig Berührungspunkte hat. Sie steht kurz vor dem Schulabschluss und ihre Passionen sind die Fotografie und ihr ehemals bester Freund, zu dem sie nun in einem sehr unklaren Verhältnis steht. Sie fühlt sich aufgerieben zwischen ihrer Suche nach einer eigenen Idee für die Zukunft und den vielen, vielen Altlasten, allen voran der Versuch ihrer Mutter, sie zu einer Person zu machen, die sie nicht sein will. Die Überschriften ihrer Kapitel sind Hashtags.

Der dritte Erzählstrang ist jeweils zwischen den Kapiteln von Wenger und Zoey platziert (aber nicht zwischen denen von Zoey und Wenger). Er besteht aus Briefen, die an Wengers Adresse geliefert werden und an den alten Mieter seiner neuen Wohnung gerichtet sind. In ihnen erzählt eine Frau von einer großen Liebe und einem großen Schmerz und wie es dazu kam, dass sie erstere verlor und ihr letzterer zugefügt wurde.

Es ist dieser dritte Strang, mit dem ich am Anfang sehr zu kämpfen hatte. Nicht nur erschienen mir die Briefe bei aller Sprachgewalt wenig substantiell, es erschien mir auch nicht glaubwürdig, dass jemand so peu à peu seine Geschichte erzählt, anders gesagt: dieser ganze dritte Strang erschien mir auffällig konstruiert.

Ich habe diese Vorbehalte dann aber schnell hinter mir gelassen. Denn abseits dieser Briefe (und zum Teil auch in ihnen, was sich aber erst im Lichte der abgeschlossenen Lektüre fassen lässt) ist Fallwickl ein bestechender und beeindruckend realistischer Roman geglückt, in dem das Themenfeld um MeToo, sexuelle Gewalt und den ambivalenten Umgang mit beidem in vielen Facetten abgebildet wird.

Sehr schnell ist auch klar, dass die Briefe nicht Dreh- und Angelpunkt, sondern eher eine Art MacGuffin sind, also ein Katalysator, der die Handlung vorantreibt und an einem bestimmten Punkt der Story den entscheidenden Spin geben. Bis dahin ist etwas Geduld vonnöten, das Buch baut sein Setting langsam auf, dafür nachhaltig, wie man im späteren Verlauf merkt.

Letztlich ist “Das Licht ist hier viel heller” eine Geschichte des Übergangs. Es thematisiert, wie oben bereits angesprochen, sexuelle Übergriffe, aber lotet darüber hinaus auch sehr gut die Konzeption von Lebensentwürfen aus. Beide Protagonist*innen und auch einige andere Figuren befinden sich am Scheideweg und die Art, wie sie mit ihren jeweiligen Rückschlägen und Problemen umgehen, was sie motiviert, bildet sehr gut die gesellschaftlichen Tendenzen unserer Zeit ab.

Insofern ist der Roman beides: Eine Geschichte zweier (dreier) Menschen im Übergang und ein profunder Blick auf unsere Welt im Wandel (und Stillstand). Aber vor allem ist dieser Roman ein sehr lesenswertes Buch.

Zu “Schreiben für ewige Anfänger” von Andreas Thalmayr


Schreiben für Anfänger Nach „Das Wasserzeichen der Poesie“ (darf in keinem Lyrik-Bücherschrank fehlen) und „Lyrik nervt!“ hat Andreas Thalmayr (alias HME) wieder zugeschlagen, diesmal mit einem handlichen Büchlein, das schon im Titel den gewohnten Schalk des Verfassers anklingen lässt und ansonsten etwas Ähnliches wie Mario Vargas Llosas „Briefe an einen jungen Schriftsteller“ erwarten lässt, nur pointierter.

In der Tat ist dieses Buch vor allem mit dem Amüsement liiert und wer einen Schreibratgeber oder ein Rekapitulieren des Schriftsteller*innenalltags erhofft, der sollte lieber zur Llosas Buch oder Sol Steins „Über das Schreiben“ greifen oder nach einem anderen Werk dieses Kalibers schauen.

In „Schreiben für ewige Anfänger“ wird nämlich vor allem – in 27 fiktiven Briefen von Thalmayr an einen zunächst ganz am Anfang stehenden und dann im Verlauf mit einem Debüt aufwartenden Autor – anekdotisch parliert; die Leser*innen kennen nur Thalmayrs-Briefe, die des Autors sind nicht enthalten, es wird nur auf sie angespielt, Bezug genommen.

Bonmots und Randbemerkungen, sowie literarische Anspielungen, sind die Hauptzutaten. Darüber hinaus wird hauptsächlich auf hohem Niveau (und hintersinnig) gejammert und ausschweifend gewarnt: Der fiktive Autor soll sich ja nicht vereinnahmen lassen, man wird einiges von ihm erwarten, was er nie wollte, es eröffnen sich viele Abgründe im Betrieb und in der Medienlandschaft, die Thalmayr leichtfüßig und streifend durchexerziert.

Thalmayrs Hinweise lesen sich wie ein Abschreckungskatalog, wobei der beschriebene Umfang der Belastung und all die Fragen nach Do’s und Dont’s eher nur Schriftsteller*innen höheren Kalibers betreffen werden, die aber durch all das (und das leere weiße Blatt) wohl tatsächlich ewige Anfänger*innen sind.

Fazit: ein amüsantes Büchlein, das zwar hier und dort zu denken gibt, aber von Anfang wenig Ernsthaftigkeit verströmt, sodass es eher eine kurzweilige Lektüre bleibt, ein kleines Insight mit viel Vergnügen und wenig Lehrreichem.

Im Anhang befinden sich noch drei Supplements: Christoph Martin Wielands „Über das Urheberrecht“, ein Auszug aus dem genannten Buch von Llosa und „Ratschläge für einen jungen Schriftsteller“ von Danilo Kiš.

Zu “Rebellinnen”von Simone Frieling


Rebellinnen Bekannt, bewundert und umstritten – das trifft auf alle drei „Rebellinnen“ dieses Bandes zu, deren Lebensläufe und vor allem Wesenszüge Simone Frieling in jeweils separaten Kapiteln aufarbeitet. Es sind Porträts, die einen besonderen Balanceakt wagen, insofern als sie die Widersprüche und ambivalenten Bedürfnisse im Charakter der drei Frauen hervorheben, aber nicht das eine zur Licht-, das andere zur Schattenseite rechnen, vielmehr alles gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen.

Bei Rosa Luxemburg zum Beispiel verschweigt Frieling nicht, dass die Grande Dame des marxistisch-proletarischen Denkens durchaus sehr viel für bürgerliche Annehmlichkeiten übrighatte und auch für Besitz. Dies kehrt sie aber nicht tadelnd heraus, sondern stell es schlicht fest, es fließt ohne besondere Anmerkung oder Hervorhebung ein, gesellt sich zu ihrer bedingungslosen Analyse der Arbeiter*innenschaft, ihrem Desinteresse am Feminismus, ihrem Pazifismus, ihrer Zuneigung zu Tieren, ihrer Einstellung zur Treue, ihrer Heiterkeit, ihrer Starrköpfigkeit, etc.

Diese Art des biographischen Narrativ ist gleichsam beeindruckend und irritierend; ich zumindest bin es nicht gewohnt, dass die Protagonist*innen von Biographien in all ihren menschlichen Aspekten, die meist widersprüchlich sind, belassen werden. Meist machen Biograph*innen irgendeine Rechnung auf, erklären manches als situativ, manches als unwesentlich (oder verschweigen es) und basteln sich so etwas wie eine generelle Wesenshaltung, ein Leitmotiv, zurecht.

Frieling gelingt es, zumindest in den Texten zu Luxemburg und Weil, über das bloße Biographische hinauszugehen und uns einen Einblick in die Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit der Psyche zu verschaffen. Das liegt auch an der Dynamik ihres eigenen Schreibstils, der manchmal fast zu sprunghaft ist, aber gerade durch diese Sprunghaftigkeit einige Eindrücke besser vermittelt.

Der Text zu Hannah Arendt wirkt dagegen blasser. Er ist nicht schlechter geschrieben oder weniger informativ, aber nicht so intensiv. Während sich Frieling bei Luxemburg viel auf Zitate aus ihren Briefen stützt und Weil mit Nachdruck als das zerrissene Wesen portraitiert, das sie war, betont sie bei Arendt nur unermüdlich, wie schwierig die Zeit nach dem Erscheinen von „Eichmann in Jerusalem“ für sie war (als gäbe es keine andere Möglichkeit, Arendts Emotionen zu portraitieren – den Fall Heidegger z.B. erwähnt Frieling fast mit keiner Silbe).

Zugutehalten muss man ihr wiederum, dass sie Arendt (wie auch den beiden anderen) im genau richtigen Maße kritisch begegnet und auch klar macht, dass sie bei ihrem Bild von Eichmann danebenlag (wie spätere Dokumente und Audiobänder zeigten). Letztlich liegt der Fokus bei Arendt wohl so sehr auf diesem Lebensabschnitt, weil es sonst schwierig geworden wäre, sie neben den beiden anderen als „Rebellin“ einzureihen.

Der Weil-Text ist wiederum sehr gut und führt einem das Extrem ihres Lebens und die Besonderheit ihres Werkes, das meist in die eine oder andere Richtung vereinnahmt wird, vor Augen. Ich kann nur jedem raten sich einmal mit Weils Essays oder ihrem Fabriktagebuch zu beschäftigen.

Gerade wegen der beiden Texte zu Weil und Luxemburg (zu ersterer gibt es so gut wie keine, zu letzterer zumindest wenig Beiträge) ist dies Büchlein lesenswert; man verlässt es mit einem facettenreichen Bündel an Eindrücken zu den jeweiligen Personen. Überhaupt ist es natürlich wunderbar, dass es Bücher gibt, in denen an diese drei wichtigen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts erinnert wird, deren Werke ganz gewiss noch nicht veraltet sind und zu denen man vielleicht mal wieder (oder zum ersten Mal) greifen sollte.

Umfassende Gelehrsamkeit in Erich Auerbachs Essays


Die Narbe des Odysseus Erich Auerbach – nach der Lektüre des Bandes bereue ich, diesen Namen nicht schon vorher gehört und nicht früher mit seinen Schriften Berührung gekommen zu sein. Das gemächliche und dabei umfassende Verständnis, das seine Prosa verströmt, die gediegene und doch sehr einfache Heranführung an bedeutende Sachverhalte und literarische Momente, der federleichte Witz, der eigentlich kein Witz ist, sondern eher so etwas wie Nachsicht, eine gewisse Behutsamkeit im Angesicht des Schönen, Besonderen – dies alles zeichnet Auerbachs Essays in diesem Band aus.

Auch einige Briefe sind abgedruckt, jeweils eingeleitet durch eine Darstellung der Beziehung zur angeschriebenen Person und die Umstände des Briefes. Enthalten sind Briefe an Thomas Mann, Walter Benjamin, Victor Klemperer und andere Weggefährten und Freunde.

Kernstück des Bandes ist in jedem Fall der Essay „Die Narbe des Odysseus“, nicht nur wegen dessen Länge, sondern auch weil er eine der gelungensten Analysen von literarischerer Strukturanalyse und dramaturgischem Aufbau darstellt, die ich bisher gelesen habe – ohne dabei entkernend oder erschöpfend zu wirken. Neben diesem Meisterstück gibt es Texte zu Montaigne und Proust, Giambattista Vico, sowie Dante & Vergil, wobei letzterer ebenfalls dazu geeignet ist, Faszination für einen alten Klassiker der Literatur zu wecken.

Wie viele andere Gelehrte musste Auerbach Mitte der 30er Jahre aus Deutschland emigrieren, nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung seinen Lehrposten aberkannt bekam. Er ging nach Istanbul, wo er den Krieg über blieb und sein Hauptwerk „Mimesis“ schrieb, und danach in die Vereinigten Staaten.
Die Einleitung von Matthias Bormuth stellt diesen Lebensweg umfassend dar und gibt auch eine Einführung in Auerbachs Werk und Denken.

Wieder einmal legt der Berenberg Verlag mit diesem Buch ein Schmuckstück, einen kleinen kulturellen Schatz vor; es ist eine Freude, diese Bücher zu lesen und sie in der Hand zu halten. Im Fall von Erich Auerbach ist es eine philologisch-intelligible, fein-humanistische Freude.

Zu “Wir sagen uns Dunkles” über Paul Celan & Ingeborg Bachmann


Ingeborg Bachmann und Paul Celan: schon um ihre einzelnen Existenzen und Werke ranken sich Legenden, Geheimnisse und allerhand literaturwissenschaftliches Beiwerk ist zu diesem Kosmos aufgehäuft worden. Aus der Geschichte der Nachkriegslyrik sind sie, jeder für sich und aus unterschiedlichen Gründen, nicht wegzudenken. Doch die Launen des Schicksals (oder eine geheimnisvolle Zwangsläufigkeit) bescherten der deutschen Literatur darüber hinaus eine kleine Liebesgeschichte poetischen Ausmaßes, mit Wendungen, vieldeutigen Bezügen und vielzitierten Anekdoten. Diese Geschichte ist eng mit dem Briefwechsel verbunden, der 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ publiziert wurde.

Doch in welchen Kontexten die Briefe standen und was sich an Hintergründen und Verflechtungen zusammentragen lässt, ein Buch dazu stand noch aus. Helmut Böttiger, ein renommierter Autor, hat nun mit „Wir sagen und Dunkles“ einen Versuch gewagt.

Der Titel (ein Zitat aus Celans Gedicht Corona) ist in zweierlei Hinsicht trefflich: zum einen klingt darin viel von dem Nimbus an, welcher die Beziehung bist heute umgibt und auch das Wesen dieser Beziehung, ihre Grundlagen und ihre Art der Kommunikation, deutet sich in der Zartheit und Untiefe dieses Satzes an. Zum anderen ist darin aber auch ein Faktum festgestellt, dass einen leichten Schatten auf das Buch wirft: einiges wird für immer im Dunkeln bleiben. Denn trotz des Briefwechsels und verschiedener Aussagen von Freund*innen, Weggefährt*innen und anderen Zeitzeug*innen, gibt es Lücken und weiße Flecken, die auch Böttiger nur mit Spekulationen füllen kann – gut abgewogenen Spekulationen, die genug Licht werfen, nichtsdestotrotz bleibt es eine nicht ganz zu Ende erzählte Geschichte. Das Buch weist allerdings auch über diese Geschichte hinaus.

Die Geschichte zweier dichterischer Existenzen ist nahezu zwangsläufig die Geschichte einiger Sehnsüchte, einiger Lebensthemen, die in der Begegnung aufeinanderprallen, aufgefangen werden, sich aneinander reiben, sich spiegeln, sich irritieren. Aus diesem guten Grund hat Böttiger nicht einfach nur die wenigen Zeiträume in Licht gerückt, in denen sich konkret etwas zwischen Bachmann und Celan entwickelte, sondern beleuchtet im Stile einer Doppelbiographie mal den einen, mal den anderen Lebensweg, und lediglich das besondere Augenmerkt liegt auf den Überschneidungen und gemeinsamen biographischen Höhepunkten.

Es ist bemerkenswert wie Böttiger sich auf die Einzelpersonen einlässt – bei beiden gelingt ihm eine sehr organische Darstellung der Persönlichkeiten, mit allen Widersprüchen und Mythen. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass der wahre Verdienst dieses Buches die Darstellung der Einzelexistenzen ist: in ihrer ganzen Vielschichtigkeit werden die beiden Dichter*innen entschleiert, ohne dadurch entzaubert zu werden. Und auch wie sie sich in ihrer Zeit bewegen, ist vielfach ein Thema. Geschickt kreist das Buch um alle profanen und gesellschaftlichen Probleme, aber auch um alle seelischen und existenziellen Nöte, Entscheidungen und Ereignisse.

Um letztere zu umreißen unternimmt Böttiger einige, geradezu leidenschaftliche, Tauchgänge in die Privatmythologien der beiden Dichter*innen und analysiert die subtile, unterschwellige Korrespondenz, die über Jahre hinweg in ihren Schriften stattfindet; ihr unterschiedlich gewichtetes, aber hier und da mit einem Widerschein des anderen versehenes Ausformen. Passagen, die die Lebensentwürfe und -stationen der beiden im Fokus haben, wechseln sich ab mit anderen, in denen feine Analysen der jeweiligen Gedichte. Briefe oder Aussagen erbracht werden.

Kurzum: der Versuch ist geglückt. Nach diesem Buch sieht man die Geschichte von Paul Celan und Ingeborg Bachmann noch einmal ganz anders und an vielen Stellen klarer. Das verdankt sich nicht zuletzt der guten Strukturierung und der anschaulichen, nicht nur an der Oberfläche bleibenden Darstellung, die auch Hintergründe, die das Gesamtbild der beiden Charaktere komplettieren, aber nicht direkt etwas mit ihrer gemeinsamen Karriere zu tun haben, einbringt. Ein faszinierendes und über weite Strecken sehr gelungenes Doppelporträt, das an vielen Stellen über sich hinauswächst.

Über Auden und die essayistischen Texte im Band “Ein Bewusstsein der Wirklichkeit”


  Gerade bei den Literat*innen, die einem am nächsten sind, deren Werke man liebt und an deren Fähigkeit zur Vision, zur Berührung, zur Größe man glaubt, ist man meist auch ein bisschen vorsichtig, was Erwartungen angeht, und man fürchtet oft enttäuscht zu werden, wenn man ein neues Werk von ihnen aufschlägt.

Ich liebe und schätze Wystan H. Auden, sehr. Es geht nicht einmal darum, dass ich seine Poesie als die vollkommenste bezeichnen würde, die schönste (vielleicht) oder die epischste (ganz gewiss nicht). Aber sie ist die menschlichste und darin zugleich weitreichendste Dichtung, die ich kenne. Es gibt in ihr einen Verschmelzung von Überschwang und Besonnenheit, Zuneigung und Schmerz, Freiheit und Gewissen, die ich als eine Verkörperung der Dimension des Lebens selbst bezeichnen würde – so nah dran ist sie an dem Spiegel, der uns zeigen könnte, was das Leben ist.
Auden wusste, Sehnsucht, das heißt: mit den Ketten, in denen wir liegen, zu rasseln. Auden wusste: We must love each other or die; ein Satz, den er im hohen Alter umänderte in den Satz: We must love each other and die und in dieser Änderung fühle ich mich wieder ertappt in meinem Wesen, in dieser Änderung bin ich enthalten, schwingend zwischen sadness und euphoria.

Auden bekannte: If equal affection cannot be/ let the more loving one be me. Und in seinem Gedicht „As I walked out one evening“ gelingt es ihm, den Wahnsinn und die Macht der Zeit abzubilden, am Beispiel der Liebe. Und er wusste noch vieles mehr, ebenso, wie er vieles nicht wusste. In seinen Essays, deren Auswahl in diesem Band ausnahmslos auf Rezensionen, Aufsätze und Vorwörter hinausläuft, haben dieses Bild, das ich von ihm hatte, noch ergänzt: Jetzt bin überzeugt davon, dass W. H. Auden einer der bescheidensten, einfühlsamsten und gleichsam intelligentesten Menschen war, von denen ich gelesen habe.

Wie bereits erwähnt, fasst der Band Texte, die als Vorwörter zu Büchern geschrieben wurden oder als Rezensionen über neue Publikationen. Dass sich gerade in diesen eher einfachen Formen die ganze Vielfalt von Audens Gaben in Bezug auf Beobachtung, Einschätzung, Differenzierung und Definierung zeigt, verblüfft zunächst und diese Verblüffung verliert auch nie ganz ihren Zauber. Denn egal ob Auden über Oscar Wilde, Virginia Woolf, die griechische Literatur oder über Goethe und die italienische Reise (u.v.a.) schreibt: Keine seiner Betrachtungen gerät zur intellektuellen Ausschöpfung oder Profilierung, sondern mündet jedes Mal nach gewissenhafter Facettenschau in die menschliche Dimension, die Auden der Person des Autors, dem Thema oder dem Buch angedeihen lässt, zuspricht.

Keiner der Texte in diesem Buch ist überragend, alle haben streckenweise ein gewisses Mittelmaß – dass sie dann wieder elegant und unverhofft hinter sich lassen, um in allgemeineren Ausführungen kurz und brillant die metaphysische Seite eines Aspektes zu beleuchten und zu verorten, nur um sich dann wieder ganz dem Beschriebenen unterzuordnen, einen Eindruck von dessen Möglichkeiten und Ideen zu vermitteln.

Auden war ein Schriftsteller durch und durch und doch könnte man fast meinen, dass es ihm fast vollständig an Eitelkeit gemangelt hätte. Natürlich stimmt das nicht. Aber woran es ihm nie fehlte, ist das Bewusstsein für die eigene, die fremde, die Eitelkeit an sich. In der Bescheidenheit und Arriviertheit seines Schreibens und Dichtens schwingt immer dieses Bewusstsein mit, das jeden Gegenstand erschließt, aber ihn nicht ergreift und für sich beansprucht, sondern sorgsam innerhalb Perspektive, hinter der die fernen, großen Entitäten stehen, einordnet. Dieses Bewusstsein, sanft und doch bestimmt, erhellend und ohne Zwang zur Größe, ist eine Erfahrung, in deren Bann ich gern ganz lange verweilen und der ich Seltenheitswert zusprechen würde

Würde man nach der Lektüre dieses Bandes fragen: War Auden ein Kommunist? Ein Feminist? Ein religiöser Mensch? Ein Opportunist? Ein Unruhestifter? Ein Konservativer? Ein Intellektueller? – Auf all diese Fragen würde man keine Antwort erhalten, denn obwohl manche Themen und Bücher und Ausführungen Ansätze in die eine oder andere Richtung erkennen lassen: in Audens Texten findet sich keine Agenda, sondern nur der Wunsch, den Dingen gerecht zu werden – und gerade in den Endprodukten dieses Wunsches spiegelt sich wiederum ein umfassendes Bewusstsein von gefährlichen Ideen, fatalen Entwicklungen und gesellschaftlichen Missständen, sowie von Ignoranz, die diese Texte weder ignorieren, noch provozieren. Sie stellen sich in ihren Raum und dieser Raum füllt sich mit Verständnis und Bedeutung; einer Bedeutung, die von innen kommt, nicht von außen gegeben wird.

Man lese Auden. Man lese Auden. Was soll ich sonst noch sagen.

Von Briefen, Fett & Existenz, mit Kummer und Humor – Nothombs “So etwas wie ein Leben”


“Ich brauche ein bisschen Verständnis, und ich weiss, Sie werden mich verstehen. […] Ich leide unter einem Übel, das unter den amerikanischen Truppen im Irak immer mehr grassiert.”

Na klar, Amelie Nothomb hat ja schon einiges zu Sucht und Überschwang geschrieben und auch mit Hunger kennt sie sich aus (siehe: Biographie des Hungers). Aber trotzdem: kann sie einem 180kg schweren Soldaten im Irak in irgendeiner Weise beistehen? Was soll sie ihm auf seinen ersten Brief zurückschreiben? Was will er?

Aus der ersten Verwunderung wird bald ein reger Briefwechsel, in dem die Schriftstellerin von Anfang an die Rolle der Zuhörerin einnimmt. Erzählen tut Melvin Mapple: vom Krieg, von seiner Revolte gegen die Armee durch seine ständige Gewichtszunahme, von seinen ebenso dicken Freunden und seiner ambivalenten Beziehung zu seinem Fett, das er gleichsam liebt und verabscheut. Und natürlich die Schuldgefühle des Soldaten, die direkt und unter der Hand mit der Leibesfülle einhergehen und gleichzeitig kompensiert werden.

“Ich brauche ein menschliches Wesen, das außerhalb von all dem und zugleich mir nahesteht – das ist doch die Rolle des Schriftstellers, oder?”

Es ist interessant, wie es Amelie Nothomb gelingt, wieder einmal viele Aspekte in einem Buch zusammenzubringen. Abgesehen von der Fettsache, wird zwar keiner dieser Aspekte wirklich weit getrieben, aber es ist doch stets ein feines Gespür für die nicht ganz unerheblichen Fragen hinter ihrer Prosa zu spüren – ein Gespür, das viele dieser Fragen in kleine fiktive Elemente der Erzählung umwandelt.

Vieles, was Nothomb in diesem Buch scheinbar von sich selbst Preis gibt, ist eine Fiktion, ebenso wie der ganze Briefwechsel (wenn es auch vielleicht eine inspirierende Grundlage gegeben haben mag). Dieser Fakt macht das ganze Buch aber nicht langweiliger, sondern erstaunlicher. Weil es eigentlich nur mit der Fiktion spielt und trotzdem an den Oberflächen der Wirklichkeit kratzt. Zwar mag es den Briefwechsel nicht gegeben haben, wie Nothomb ihn aufschreibt, aber man hat das Gefühl, das die Dinge, die verhandelt werden, echt und teilweise existenziell sind. Aus der Fiktion wird eine Erzählung, deren Problematik sich in der Wirklichkeit in Teilen niederschlägt, ob man das nun sehen will oder nicht.

“Sie müssen keine Bedenken haben, als Psychologin herhalten zu müssen. Von denen gibt es hier genug. […] Was ich von ihnen erwarte, ist etwas anderes. Ich möchte für Sie existieren. Ist das vermessen? Ich weiß es nicht.”

Es ist diese Balance aus Realität und Fiktion, in und um dieses Buch herum, die es trotz vieler Angriffsflächen zu einer gewinnbringenden Leseerfahrung macht. Mit leicht burleskem Witz und einem Hang zum Grotesken, wie in jede Fiktion von Nothomb innehat, generiert es während des Lesens auch eine anschwellende Traurigkeit, ein Mitgefühl – welches ebenfalls wieder leicht gebrochen wird … Das Ende ist dann ein eskapistischer Geniestreich! Darüber hinaus lernt man einiges über Briefe und eine fiktive Amelie Nothomb.

“Melvin Mapple flösste mir Respekt und Sympathie ein, aber ich hatte mit ihm dasselbe Problem wie mit 100% aller Lebewesen, ob menschlich oder nicht: das Problem der Grenzen. Man lernt jemanden persönlich oder brieflich kennen. Der erste Schritt ist, dass man die Existenz des anderen wahrnimmt; es kommt vor, dass man dann hingerissen ist. In einem solchen Augenblick ist man Robinson und Freitag am Strand der Insel, man betrachtet einander, verblüfft, entzückt, dass es in diesem Universum einen anderen gibt, der so anders und doch so nah ist. Die eigene Existenz wird verstärkt, weil der andere sie wahrnimmt und von einer Woge der Begeisterung für dieses Individuum erfasst wird, das einem wie durch eine wunderbare Fügung ein Gegenüber beschert. Dieses belegt man mit phantastischen Namen: Freund, Liebster, Gast, Kamerad, Kollege, je nachdem. Es ist ein Idyll. Der Wechsel zwischen Gleichheit und Andersheit stürzt einen in kindlich dumme Bezauberung. Man ist so berauscht, dass man die Gefahr nicht kommen sieht.
Und plötzlich steht der andere vor der Tür. Man ist auf einen Schlag ernüchtert und weiß nicht, wie man ihm sagen soll, dass man ihn nicht eingeladen hat. Nicht, dass man ihn nicht mehr liebte, aber man liebte ihn als anderen, das heißt jemanden, der nicht man selbst ist. Doch der andere nähert sich an, als wollte er sich einem angleichen oder einen sich.”