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Leidenschaft der Klugheit, Klugheit der Leidenschaft


Schon Lukas Bärfuss erster Essayband „Stil und Moral“ hatte mich überzeugt und so war ich gespannt auf den zweiten, mit dem vielversprechenden, aber auch gefährlichen Titel „Krieg und Liebe“. Und, was soll ich sagen: ich bin verblüfft, berückt, aufgewühlt, beseelt.

Wenn es um Begeisterung geht, furiose zumal, ist immer die Frage, wie man die vernünftig zu Papier bringt. Und in diesem Fall könnte sie auch ausufern, denn nicht nur sind die Texte von Bärfuss in sich gut, sie schneiden zudem unglaublich viele Themen an, über die lange nachzudenken nicht schwerfallen dürfte, auch über die Ansätze und Ideen von Bärfuss hinaus.

Da ich hier nicht auf alle Texte eingehen kann, will ich nur 1-2 als Beispiele kurz herausgreifen. Als erstes gleich den Einstiegstext, der zunächst unaufgeregt, geradezu bewusst neutral wirkt, wie ein kurzer Abriss, eine eher uninspirierte Rezensionsnotiz zu einem japanischen Kriegsbericht.

Und dann geschieht das Wunder: mit einer kurzen Beobachtung, die er gegen Ende hin zuspitzt, schafft Bärfuss es, dass den Leser*innen aus dem glatten Text eine fulminante Erkenntnis entgegenspringt: Er verquickt die Leidenschaft, mit der sich die Soldaten für ihr Land, ihren Kaiser oder dergleichen opfern, mit der Leidenschaft der Liebe. Und formt aus dieser unheiligen Verbindung die Frage: kann es sie geben, eine Welt ohne Krieg, in der aber noch (leidenschaftlich) geliebt wird? Wie lässt sich die Leidenschaft für das eine von der Leidenschaft für das andere trennen?

Sie haben immer ein bisschen etwas Abwegiges an sich, diese Essays, und stoßen dann mit einem Mal oder auch ganz subtil ins Zentrum der Überzeugungen vor. Nicht anders in einem Text, in dem es um Nietzsche „und die Populisten“ geht. Gähn, hab ich da gedacht. Und erstmal wirkte der Text auch recht gewöhnlich, gutgeschrieben durchaus, aber eher lammfromm, überschaubar.

Doch schon bald war da eine besorgniserregende Umwälzung zu beobachten und nach der Lektüre musste ich mir eingestehen: ich hatte noch nie einen so guten Text über Nietzsche oder über Populismus gelesen; ich begriff jetzt wesentliche Aspekte von beiden, wo ich bisher meinte, dass eine vage Vorstellung, eine vorgefasste Meinung genügen würde.

Nicht alle Texte in dem Buch sind so umwerfend wie diese beiden oder auch die grandiose Dresdener Rede „Am Ende der Sprache“, die ich nun schon mehrmals gelesen habe und die so trostspendend und gleichsam kämpferisch ist wie nur Weniges, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Aber immer sind sie interessant, hinterfragen, zeigen auf, schaffen Perspektiven, wo es vorher nur festgelegte Linien zu geben schien.

Es ist ein Buch für jene, die sich gern wirklich mit Texten beschäftigen, nicht nur denken gefällt mir (nicht), nicht nur Unterhaltung suchen, sondern auf der Suche nach Auseinandersetzung, Denkimpulsen, Erschütterung und Belebung sind. Kurzum: es ist wirklich nur ein Buch für leidenschaftliche Leser*innen. Aber die werden es zu ihren Schätzen zählen, da bin ich mir sicher.

Eine wichtige Schrift, die Rassismus auf den Punkt bringt


How to be an antiracist

„Genauso funktionieren rassistische Ideen und Mechanismen – und generell jede Form der Intoleranz: Wir werden dahingehend manipuliert, dass wir die Menschen als das Problem sehen und nicht die Politik, die sie hereinlegt.“

Es gleicht einem schweren Urteil, wenn man heute jemandem unterstellt, eine Aussage oder eine Handlung sei „rassistisch“. Als Feststellung kann eine solche Aussage kaum gelten – fast immer wird sie als Angriff, zumindest als Feindseligkeit ausgelegt. Anders gesagt: ein unaufgeregter, neutraler Diskurs über Rassismus ist kaum möglich. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar, schließlich reden wir von massiver Ungerechtigkeit, jahrhundertelanger Unterdrückung und fortdauernder Marginalisierung. Andererseits wäre ein halbwegs sachlicher Diskurs über Rassismus wichtig, damit es nicht einfach nur um Schuldige und Opfer, sondern um die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft gehen kann.

Erstmal ist Rassismus kein Schimpfwort, sondern die geäußerte, verinnerlichte oder zumindest unbewusst angenommene Überzeugung, dass es so etwas wie Merkmale gibt, die bestimmte Menschengruppen teilen und – dies der verwerfliche Aspekt des Ganzen, der Rassismus zu einem Übel macht – das man von diesen Merkmalen und der Zugehörigkeit zu jener Menschengruppe Rückschlüsse auf den Charakter und Status eines einzelnen Menschen ziehen kann.

Es gibt diese Überzeugung in verschiedenen Ausprägungen: es gibt vehemente Verfechter und es gibt Gesellschaften in denen bestimmte Formen des Rassismus sehr präsent sind, geradezu verankert, so zum Beispiel in großen Teilen der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber letztlich hat fast jeder Mensch hier und da rassistische Tendenzen. Sie gehören zu den normalen Vorurteilen, dem schematischen Denken, mit denen wir die Welt einteilen, erklären. Teilweise beruhen Vorurteile auf eigenen Erlebnissen, die wir haben, teilweise bekommen wir sie anerzogen, von den Eltern oder den Gesellschaften, in denen wir leben – zumindest werden wir mit einigen so oft konfrontiert, dass wir sie teilweise übernehmen, wenn wir nicht das Glück haben, Erfahrungen zu machen, die den uns umgebenden Meinungen widersprechen. Wir sind also alle, auf gewisse Weise, Rassisten/Rassistinnen. Leugnen ist dabei der erste Schritt in die falsche Richtung.

„Leugnen ist der Herzschlag des Rassismus, der quer durch alle Ideologien, Races und Nationen pulsiert. Er schlägt in uns. Viele, die Trumps rassistische Ideen anprangern, leugnen ihre eigenen.“

Wie können wir der Falle entgehen, einen Rassismus gegen den anderen auszuspielen und wirklich antirassistisch werden, also uns von Vorstellungen lösen, die glauben, ein Individuum über seine Hautfarbe, seine sexuelle Orientierung, seine Herkunft, sein Geschlecht, etc. definieren zu können, nicht über seine individuellen Meinungen und Handlungen?

Nun, hier in Ibram X. Kendis Buch finden wir eine Anleitung zu genau diesem Thema. Es ist eine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund des Rassismus in den Vereinigten Staaten, aber auch ein Leitfaden für die Bekämpfung rassistischen Denkens und Handelns, spezifisch und generell.

„Ich glaube nicht mehr länger, dass eine schwarze Person nicht rassistisch sein kann. Ich lasse nicht mehr jede meiner Handlungen davon bestimmen, wie ein imaginärer »weißer« oder »schwarzer Richter« sie beurteilen würde, versuche nicht mehr, weiße Menschen davon zu überzeugen, dass ich ein gleichwertiger Mensch bin, und Schwarze Menschen davon, dass ich eine Race gut vertrete. Ich schere mich nicht länger darum, wie die Handlungen anderer Schwarzer Menschen auf mich zurückfallen, denn keiner von uns ist ein Repräsentant von Race, und kein Individuum ist verantwortlich für die rassistischen Vorstellungen eines anderen.“

Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Zu “Die Mutter aller Fragen” von Rebecca Solnit


Die Mutter aller Fragen „Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – mit Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.“ (aus dem Vorwort)

Mit jedem neuen Buch avanciert Rebecca Solnit für mich ein Stück weit mehr zu einem wichtigen Fixstern am Himmel derer, die wichtige Impulse und Ideen zu den Debatten unserer Zeit liefern. Schon ihre Bücher „Wenn Männer mir die Welt erklären“, „Die Dinge beim Namen nennen“ und „Wanderlust“ habe ich mit großen Gewinn gelesen und „Die Mutter aller Fragen“ reiht sich hier nahtlos ein und gibt mir dieses ganz besondere Gefühl der Dankbarkeit, das man mit den Autor*innen verbindet, die einen immer wieder aufs Neue prägen.

Wie auch schon bei „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist in „Die Mutter aller Fragen“ der Titelessay nur einer von vielen und der Band dreht sich nicht allein um Mutterschaft und deren zentrale Rolle bei der Bewertung weiblicher Existenzen; er ist sogar separiert und den beiden, sehr viel umfangreicheren Kapiteln des Buches wie ein Prolog vorangestellt.

In diesem Titelessay setzt sich Solnit mit der Vorstellung auseinander, zum Glück einer Frau gehöre unausweichlich auch die Mutterschaft und ihre Abwesenheit sei ein wichtiges Indiz – Ausgangspunkt ist (wie auch beim Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“) ein persönliches Erlebnis: bei einer Lesung wird sie vom Moderator anschließend direkt auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen, statt auf ihr Werk. Von diesem Fall und ihrer persönlichen Geschichte ausgehend, dekonstruiert sie verschiedene herkömmliche Vorstellungen von Familienglück und stellt ihnen gleichsam die Freiheit der Wahl (ob Kind oder kein Kind) und weiterentwickelte Be- und Erziehungsmodelle gegenüber.

Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke.

Nachdem sie mit ein paar Gemeinplätzen aufgeräumt hat, geht sie noch einen Schritt weiter und legt durch einige Statistikern und Beispiele den Leser*innen nahe, die herkömmlichen Glückskonzepte (und dazugehörigen Narrative) der derzeitigen Gesellschaften generell zu hinterfragen:

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden.

So viel zum Eingangstext. Das erste Kapitel des Buches bildet dann größtenteils ein längerer Essay über das (aufgezwungene, unfreiwillige) Schweigen (in vielen Dimensionen – durch physische Gewalt herbeigeführt, durch Angriffe auf die Glaubwürdigkeit, durch das Verhindern von Öffentlichkeit, etc.). Der Text ist ein etwas havarierendes, sprunghaftes Gebilde mit vielen Zwischenüberschriften, das aber immer wieder Bemerkenswertes herausarbeitet und im Ganzen eine erschütternde Geschichte erzählt: die Geschichte von der Diversität und ihren Feinden. Und von einem Aufwind der Veränderung.

Im Kampf um die Freiheit ging es immer auch darum, Bedingungen zu schaffen, die denen, die vormals zum Schweigen gebracht wurden, zu Sprache und Gehörtwerden verhelfen. […] Wenn das Recht, sich zu äußern, glaubwürdig zu sein und gehört zu werden, eine Art Reichtum ist, dann wird dieser Reichtum momentan umverteilt.

In den anderen Essays des Kapitels geht es dann um diesen Aufwind, also um die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben. Sehr schön ist, wie Solnit hier neben den vielen Aktionen von Aktivistinnen und Künstlerinnen auch über Männer spricht, bei denen sie immer mehr aufrichtiges Interesse für feministische Belange wahrnimmt und auch, dass sie dementsprechend agieren. Und sie geht sogar so weit, in einigen Abschnitten eine Theorie zu verhandeln, nach der auch viele Männer vom Patriachat kaputt gemacht werden, indem sie dazu angehalten werden, sich selbst emotional zu verkrüppeln, ihre Empathie abzubauen und keine Gefühle zu zeigen. Als kleines, noch harmloses Beispiel nennt sie:

Als ich noch sehr jung war, habe ich mit meinem Freund eine Reise mit dem Auto gemacht, und als wir losfuhren, sagte sein Vater zu uns: »Meldet euch mal. Deine Mutter macht sich sonst sorgen.« Die Mutter war die Platzhalterin seiner Gefühle, die er nicht ausdrücken konnte. […] [er war so ein Sinnbild für] Männer, die sich bei jeglichem Gefühlsausdruck im schlimmsten Fall konkret unwohl fühlten und meinten, dass das Verbindliche eben nicht ihre Aufgabe war. […] Diese Leute erinnern uns daran, dass dieses Abgestumpftsein im Kern aller Dinge ruht und nicht an deren Rändern […] eine ganze zentrale Angelegenheit ist und keine marginale.

Ein weiterer großer Themenkomplex ist der Umgang mit sexuellem Missbrauch – und wie sich auch hier in den letzten Jahren (im Zuge der Cosby-Affäre und #metoo, etc.) einiges verändert hat, aber immer noch von einer rape culture gesprochen werden muss, in der nicht nur pathologisch eine Täter-Opfer-Verschleierung stattfindet, sondern generell vieles ungeahndet und ungenannt bleibt.

Menschen werden u.a. deswegen verletzt, weil wir nicht über diejenigen sprechen wollen, die sie verletzen. […] und ich glaube fest daran, dass eine Welt, in der wir die Männer nicht so häufig von ihrer Verantwortung entbinden würden, eine bessere wäre.

Das zweiten Kapitel wartet dann noch mit allerhand großartigen Einzeltexten auf, u.a. einer Kritik an einer Liste mit „80 Büchern, die man als Mann gelesen haben sollte“, einem Essay zum erstaunlich progressiven 50er Jahre Spielfilm „Giganten“ und einem Text mit dem Titel „Wenn Männer mir Lolita erklären. Nebenbei fließen immer wieder prägnante Beobachtungen ein, zum Beispiel zur Pornographie:

Der Mainstreamware scheint es jedoch prinzipiell weniger um die Macht der Erotik zu gehen als um die Erotisierung der Macht.

Diese Beobachtung mag für manche offensichtlich oder hinlänglich bekannt sein, aber für mich fasst dieser Satz tatsächlich sehr gut das zusammen, was ich an Mainstreampornographie meist abstoßend, im gelindesten Fall irritierend finde. Es ist beeindruckend wie leicht Solnit solche Feststellungen und kurzen Abschweifungen von der Hand gehen und wie sie doch bei aller Prägnanz und allen Zuschreibungen nie eine potenzielle und unzulässige Verallgemeinerung aus dem Blick verliert, sich immer wieder Zeit nimmt, im richtigen Maß ihre Beobachtungen und Ausführungen zu kontextualisieren und zu relativieren, ohne sie abzuschwächen

In einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Die Flucht aus der fünf Millionen Jahre alten Vorstadtsiedlung“ geht es um den langegehegten und längst überholten Mythos von den ausziehenden männlichen Jägergruppen und den braven Frauengruppen, die Zuhause blieben, der gerne als Rechtfertigung für die Rollenverteilung in allen Zivilisationen herangezogen wird. Mit den letzten Sätzen dieses Textes möchte ich schließen und jeder/m die Bücher von Solnit ans Herz legen.

Wir müssen aufhören, das Märchen von der Frau zu erzählen, die passiv und abhängig zu Hause blieb und auf ihren Mann wartete. Sie saß nie wartend herum. Sie hatte zu tun. Und das hat sie immer noch.

 

Zu Roxane Gays Essays in “Bad Feminist”


Bad Feminist „Ich bin eine schlechte Feministin, weil ich nicht auf einen feministischen Sockel gestellt werden will. Von Menschen, die man auf Sockel stellt, wird erwartet, dass sie etwas darstellen, und zwar perfekt. Und wenn sie es versauen, stürzt man sie. Ich versaue es regelmäßig. Betrachten sie mich also als bereits gestürzt.“

Wer nach diesen Eingangsworten fürchtet, Roxane Gays Essays könnten ein weiteres unausgegorenes antifeministisch-feministisches Manifest (wie etwa Jessa Crispins „Warum ich keine Feministin bin“) sein, den kann ich sofort beruhigen: sie sind weit davon entfernt.

Denn obgleich Gay im Vorwort lang und breit ihre Schwierigkeiten beschreibt, zu dem Begriff und der Idee des Feminismus eine gesunde Beziehung aufzubauen, zeigt sich im Verlauf des Buches, dass gerade dieser anfängliche Zweifel die Grundlage einer vielschichtigen und sehr tiefgehenden Auseinandersetzung ist.

Wenn man mich [früher] als Feministin bezeichnete, hörte ich: » Du bist ein zorniges, Sex und Männer hassendes weibliches Opfer. « Diese Karikatur haben Menschen aus Feministinnen gemacht, die den Feminismus am meisten fürchten.

Der Kern des Problems, den Gay mit dem derzeitigen US-amerikanischen Feminismus hat, ist sein mitunter einförmiges Denken, kurzum: seine Heteronormativität und das oftmals fehlende Bewusstsein für Klasse und Race. Wie Gay schreibt:

Frauen of Color, queere Frauen und Transgender-Frauen müssen im feministischen Projekt besser verankert werden. Frauen aus diesen Gruppen sind vom Ideal-Feminismus beschämenderweise immer wieder vernachlässigt worden.

Auch finde keine differenzierte Auseinandersetzung mit den Verhältnisse in unterschiedlichen kulturellen Kontexten statt oder mit der Lage in anderen Ländern:

Ich glaube, dass Frauen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern überall auf der Welt Gleichheit und Freiheit verdienen, aber ich weiß auch, dass ich nicht befugt bin, Frauen aus anderen Kulturen zu sagen, wie diese Gleichheit und diese Freiheit aussehen soll.

Nachdem Gay im Vorwort viele kleinere bis größere Kritikpunkte an der derzeitigen Perspektive des US-amerikanischen Feminismus vorgebracht hat, kann man die folgenden Essays u.a. als Versuch begreifen, einige Felder zu er- und einige von ihr genannte Lücken zu schließen. Sie betritt kein feministisches Neuland, aber bereichert den Feminismus um eine wichtige Perspektive.

Folgerichtig steuert Gay konsequent nur etwas zu den Themen bei, zu denen sie einen klaren Bezug hat: als Autorin, als Frau, als People of Color, etc. Ein Großteil der Essays sind bspw. authentische und gewissenhafte Dekonstruktionen und Analysen von Race in den Kontexten von Literatur und Film, Gesellschaft und Politik.

Hier leistet sie in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit (zumindest für mich, der ich vermutlich viele andere Autor*innen, die dasselbe Feld bearbeitet haben und bearbeiten, mangels Übersetzungen und/oder Publicity nicht kenne), schreibt über Reality-TV, Filme wie „The Help“ und „Twelve Years a slave“, Serien wie „Orange ist the new black“ und erzählt, wie sie Tarantinos „Django“ überlebte und warum sie der Serie „Girls“ zwiespältig gegenübersteht.

In der Literatur äußert sie sich zu Guilty Pleasures wie etwa Teenager-Schundromanen, schreibt über die Diskrepanz zwischen der Rezeption von männlichen und der von weiblichen Romanfiguren, bekennt sich ungeniert zu Die Tribute von Panem und nimmt in einem meisterhaften Text Fifty Shades of Grey, auf mehr als nur der literarischen Ebene, auseinander.

Es geht in Fifty Shades um einen Mann, der Glück und Frieden findet, weil er endlich eine Frau findet, die gewillt ist, seinen Scheiß lange genug zu ertragen. […] Ich lache nur bis zu einer gewissen Grenze über Fifty Shades. Die Bücher sind im Wesentlichen ein detaillierter Leidfaden, um Beziehungen zu führen, in der Kontrolle und Missbrauch an der Tagesordnung sind.

Zusätzlich schreibt sie auch noch über sexistische Lyrics und setzt sich mit Vergewaltigungs- und anderen problematischen Witzen in der Comedy-Kultur auseinander.

Aber auch mit dieser Bandbreite an kulturellen Themen ist der Band noch nicht ausgeschöpft. Gay schreibt auch noch über ihre große Liebe zum Spiel Scrabble und wie sie in der dortigen Community eine neue Familie fand, schreibt über Abtreibungspolitik und Polizeigewalt, Racial-Profiling und erzählt Geschichten von Männern, die von Männlichkeitsbegriffen kaputtgemacht werden.

In einigen sehr bemerkenswerten Texten setzt sie sich außerdem mit sexueller Gewalt auseinander, u.a. auch mit dem Phänomen des Verschweigens und Herunterspielens, wenn es sich bei den Tätern um große Persönlichkeiten oder einfach lokale „Helden“ oder Mitglieder in bestimmten Organisationen handelt, bspw. Footballspieler.

In den meisten Fällen entschuldigt man die Drogen- und Alkoholvergehen der Spieler, die Anschuldigungen gegen sie wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung wurden fallengelassen, weil sie fähig waren, auf dem Footballfeld Punkte zu machen. […] Sie konnten für unser Team die Meisterschaft gewinnen, immer wieder.

Auch nach all diesen Aufzählungen habe ich das Gefühl, gerade mal an der Oberfläche von Gays Themenvielfalt gekratzt zu haben. Egal ob Popkultur oder Politik, Race oder Gender, Gay behandelt jeden dieser Themenkomplexe mit der gleichen Sorgfalt und dem gleichen Ernst, ist selbstkritisch, spricht aber auch im richtigen Moment unverhohlenen Klartext.

„Bad Feminist“ ist eine Sammlung von Essays, die weit über den Titelbegriff hinausweist. Gays aufrichtige, unverstellte Beschäftigung mit ihren Themen macht ihre Texte nicht nur unterhaltsam, lehrreich und lesenswert, sondern ist auch beispielhaft und sollte Schule machen.

Ich erzähle einige Geschichten immer und immer wieder, weil mich bestimmte Erfahrungen tief berührt haben. Manchmal hoffe ich, dass ich durch das wiederholte Erzählen dieser Geschichten besser verstehe, wie die Welt funktioniert.

 

Zu Bettina Wilperts “Nichts, was uns passiert”


Nichts was uns passiert „Sie wusste, was passiert war, rational. Aber war es wirklich eine Vergewaltigung? Die hatte sie sich anders vorgestellt: Ein Mann, der einen nachts auf dem Nachhauseweg überfällt, oder der Onkel, der die Nichte als Kleinkind missbraucht. Oder der Nachbar. Aber kein Doktorand, den man kennt, zu dem man Vertrauen aufgebaut hat. Ein Geliebter. Ein Freund.“

Vergewaltigung ist nicht nur deshalb ein brisantes Thema, weil viele von uns mit patriarchalen Denkmustern großgezogen werden, wir alle mehr oder weniger in patriarchalen Strukturen leben und sexuelle Gewalt und sexuelle Nötigung diesem System mit eingeschrieben sind, sondern auch, weil es fast unmöglich ist, sich dem Thema rein rational zu nähern.

Eine Freundin sagte einmal zu mir: „Ich hätte nichts dagegen, wenn man Sexualstraftäter einfach am nächsten Baum aufknüpfen würde. Es gibt solide Rechtfertigungen und mildernde Umstände für viele Arten von Verbrechen, sogar Mord, und deshalb sollten solche Verbrechen akribisch verhandelt werden, aber es gibt schlicht keine Rechtfertigungen und mildernden Umstände für Vergewaltigungen, von mir aus könnte man mit den Tätern kurzen Prozess machen.“ Ich habe damals nichts erwidern können und bis heute fällt mir nichts ein, was ich erwidern könnte – wenn man mal von der Leier über die Wichtigkeit des Rechtsstaats, die Wichtigkeit des menschlichen Umgangs mit dem Unmenschlichen absieht, die ich sonst gern und meist auch mit Überzeugung anstimme.

Aber die Wahrheit ist, dass auch mich diese Verbrechen ungeheuer wütend machen, auch ich kann sie nicht rational betrachten, möchte nicht rational argumentieren, wenn es um Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Nötigung geht. Und gerade weil dieses Thema dermaßen aufgeladen ist, ist es gut, dass es Bücher wie den Debütroman von Bettina Wilpert gibt.

In diesem Roman, der aus der Perspektive einer unbekannten Erzählerin (oder eines unbekanntes Erzählers, ich glaube, selbst das wird nicht spezifiziert) geschrieben ist, die (der) alle anderen Figuren zum zentralen Vorkommnis, der Vergewaltigung, und der Vorgeschichte und den Folgen „interviewt“, bekommt man als Leser*in die ganze Mischung aus Gefühlen, Fakten, Zweifeln, Überlegungen vorgesetzt, die sich für das Opfer und den Täter, sowie das soziale Umfeld, aus dem Tatbestand/Vorwurf der Vergewaltigung ergeben.

Anna und Jonas lernen sich in der Zeit der Fußball-WM 2014 kennen. Nach einem Abend mit viel Alkohol und Debatten über Literatur, den Ukraine-Konflikt und andere Themen, haben sie das erste Mal Sex. Aus diesem One-Night-Stand entwickelt sich nichts Größeres, schließlich begegnen sie sich auf einer Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes wieder, reden und trinken den ganzen Abend. Am Ende ist Anna viel zu betrunken, um nach Hause zu gehen und der Freund und Jonas bringen sie in Jonas Zimmer. Später, so behauptet Anna, vergeht sich Jonas, obwohl sie mehrmals Nein sagt, an ihr. Am Morgen flüchtet sie aus dem Zimmer, ohne ihn zu konfrontieren.

Jonas fällt angeblich aus allen Wolken, als er, erst einige Wochen später, durch eine Anzeige mit den Vorwürfen konfrontiert wird. Schnell sind die Frontverläufe gezogen und viele Stimmen versuchen für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen, Beteiligte, Freund*innen und Familienangehörige schildern ihre Sicht auf die Dinge. Fakten werden gewendet, Widersprüche tun sich auf, klar und deutlich bleibt jedoch die Verletzung, die Anna erlitten hat, die Erschütterung, die man ihr ansieht.

Es ist beeindruckend, wie Wilpert in ihrem Roman die zentralen Problematiken des Themas anhand einer Geschichte zum Ausdruck bringt. Obgleich wohl viele Leser*innen dazu neigen werden, Annas Version zu glauben, kann man dank ihrer umsichtigen und genauen Darstellung auch Verständnis aufbringen für die Menschen, die nicht glauben wollen, dass Jonas etwas dergleichen getan hat, die für eine Unschuldsvermutung plädieren (Dennoch analysiert man natürlich permanent deren Motive).

Das Buch wirft einige Fragen zum derzeitigen Umgang mit Sexualstraftaten auf, ist aber vor allem die gelungene Darstellung eines Falls, wie er wohl tatsächlich vorkommt (leider vielleicht sogar öfter als vermutet), und all der emotionalen Verwicklungen, menschlichen Unsicherheiten, die damit verknüpft sind, und den Positionen, die sich daraus ergeben. Dass das Buch durchgehend bei der Darstellung bleibt, ohne Wertung von höherer Stelle, und dennoch die ganze ungeheuerliche Dimension des Themas enthüllt, das ist wirklich (again) beeindruckend. Und große Literatur.

„Jonas war kein böser Mensch. Er hatte etwas Schlimmes getan, das war ein Unterschied. Er war kein Teufel, und er müsste nicht wie einer behandelt werden. Nein, wahrscheinlich könnte sie ihm nie verzeihen, sagte Anna.“

Zu “Die Königin schweigt” von Laura Freudenthaler


Die Königin schweigt Das Leben verschwindet schon, bevor es endgültig geht. Immer weniger fällt auf fruchtbaren Grund und die vielen Erinnerungen wiegen sich in einem nachlassenden Wind. Über das Ende des Lebens und die lange Strecke der Erinnerungen hat Laura Freudenthaler ein berührendes Buch geschrieben:

„Die Königin schweigt“, das Portrait einer alten Frau, die versucht sich in ihrem Alltag einen Rest an Gewohnheit zu bewahren, sich nicht von den nahenden Einschränkungen erdrücken zu lassen, während die Zeitebenen in ihr bereits verschwimmen und sie fast unfreiwillig immer wieder auf ihr Leben zurückblickt, sich in ihr einstiges Leben zurückträumt.

Als Tochter eines Bauern wuchs sie in einer kleinen Gemeinde auf, zusammen mit einem älteren Bruder. Die Kindheit wird überschattet und geprägt von der dominanten Figur des Vaters. Sie lässt die Eltern und den Hof auch dann noch nicht ganz hinter sich, als sie den Dorfschullehrer heiratet, der auch in der Politik vor Ort mitmischt und sich bald als nicht ganz so glanzvolle Figur entpuppt …

Schnörkellose Darstellung und doch einfühlsame Schilderung machen aus „Die Königin schweigt“ ein rundum nachvollziehbares literarisches Erlebnis der besonderen Art. Kaum je zuvor hatte ich das Gefühl, der Idee eines Frauenlebens im 20. Jahrhundert so nah zu kommen. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre!

Zu Julian Barnes “Der Lärm der Zeit”


lärm der zeit Julian Barnes beste Romane, zu denen auch “Der Lärm der Zeit” zählt, sind oft eigenwillige Kompositionen. Man merkt ihnen aber an, dass es Barnes dabei nicht um Formexperimente geht, sondern darum eine Geschichte genau auf die Art und Weise zu erzählen, die die wesentlichen Motive und Stimmungen, die hervorgehoben werden sollen, am besten trägt und für die Lesenden greifbar macht.

In “Der Lärm der Zeit” ist diese Form ein Gedankenstrom, ein Monolog, der einen sprunghaften, anknüpfenden und wabernden Erinnerungsprozesses simuliert. Der sich da erinnert, war einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Von drei Zeitpunkten ausgehend, werden seine Lebens- und Gedankenwelten vor uns ausgebreitet, immer wieder von wiederkehrenden, variierten Motiven durchzogen, wie bei einem Musikstück.

Das erste Mal: 1936 – gerade ist Schostakowitsch beim Regime um Stalin in Ungnade gefallen und rechnet jeden Moment mit seiner Verhaftung, weshalb er mit gepackten Koffern beim Fahrstuhl auf die Beamten wartet, Nacht für Nacht. Es geht um seine erste Oper, die in der größten russischen Zeitung verhöhnt und als westlich-dekadent gebrandmarkt wurde. Er droht dem Wahn der Denunziation und den großen Säuberungen Stalins zum Opfer zu fallen
Das zweite Mal: 1948 – nach dem großen Krieg und seiner Etablierung in der UdSSR kehrt er gerade aus den USA von einer Friedenskonferenz zurück. Er ist wiederum teilweise in Ungnade gefallen, sein Name ist von der Partei und dem Regime nie gänzlich reingewaschen worden. Er fürchtet, dass alles wieder von vorne beginnt, weiß immer noch nicht, wie er sich gegen das Regime wehren soll.
Das dritte Kapitel erstreckt sich dann nicht wie die vorangegangen hauptsächlich rückwärts, sondern von 1960 bis zu seinem Tod.

In allen Kapiteln sind die gewählten Momente und die räumlichen Festlegungen (das erste Kapitel heißt “Auf der Treppe”, das zweite “Im Flugzeug”, das dritte “Im Auto”) nur Ausgangspunkte für die Rückschau auf die vor den Kapiteln liegenden Jahre und die Schilderungen der Verstrickungen und Auseinandersetzungen zwischen Schostakowitsch und dem jeweiligen sowjetischen Regime. Er will vor allem Musik machen, muss sich aber immer vor den jeweiligen Herrschenden verantworten, wird von ihnen gefordert, bedroht, gehätschelt oder getadelt. Ständig lebt er mit dem Rücken zum Abgrund.

Barnes Roman ist das meisterhafte Porträt eines Künstlers in den schwierigen Wassern des 20. Jahrhunderts. Mit Schostakowitsch hat er sich dabei einen Charakter, einen Menschen ausgesucht, der weder ein großer Dissident, noch Anhänger einer Ideologie oder Politik war. Er war auch kein klassischer Mitläufer und kein unbequemer Geist im eigenen Haus. Das Buch zeigt auf, wie die jeweilige politische Macht sein Leben bestimmt und wie er versucht, zumindest seine Liebsten, zumindest seine Integrität und am Ende zumindest seine Musik zu retten. Er wird nicht ermordet, nicht eingesperrt, nie wirklich angegangen. Aber Stück für Stück zermürbt das System auch ihn, begleitet ihn zumindest immer, egal wo er hingeht. Er, der als Mensch gern der Musik gehören würde, seinen eigenen Gefühlen, den Menschen, denen er sich anvertrauen, mit denen er zusammen sein will, gehört doch letztlich immer dem Staat, in dem er lebt.

Das Großartige an diesem Buch ist, dass es den Menschen Schostakowitsch nicht nur darstellt, nicht nur seine Biographie einfühlsam wiedergibt. Sondern dass es eines dieser Bücher ist, denen es gelingt, den Lärm der Zeit, die profanen Kräfte der Politik und des Weltgeschehens spürbar zu machen, aber währenddessen vor allem über das menschliche Wesen, das menschliche Glück, die menschliche Würde zu sprechen, davon Zeugnis abzulegen. Barnes Schostakowitsch ist keine historische Figur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut und bleibt es von der ersten bis zur letzten Seite; er wird nicht als tragisches Beispiel inszeniert – Barnes verleiht seinem Leben wirklich eine Stimme, eine unverwechselbare. Diese große Leistung, die man leicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen könnte, macht das Buch zu etwas Besonderem.