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Eine gut geschilderte Hauptfigur in einem nicht ganz ausgereiften Roman


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Die 15jährige Paola fühlt sich in ihrer Haut nicht sehr wohl: sie findet sie ist zu groß, zu unansehnlich, monströs geradezu; ein Erlebnis in der Schule hat sie vor kurzem noch mehr davon überzeugt, dass sie mit ihrer Statur und ihrem Wesen nirgendwo hineinpasst. Am liebsten verbringt sie Zeit mit ihrem körperlich beeinträchtigten Bruder Richie, mit dem sie das soziale Wohnviertel durchstreift, das an ihr eigenes gut betuchtes Viertel angrenzt. Paolas Familie ist nämlich reich – ihr Großvater hat viele Gebäude in der Stadt gebaut, unter anderem auch das soziale Wohnviertel.  

Eines Tages ergibt sich dort eine Begegnung und ihr eigener Bruder freundet sich mit dem jüngeren Bruder eines Klassenkameraden an, die beiden beginnen Schach gegeneinander zu spielen. Auch zwischen ihr und dem Klassenkameraden bahnt sich eine neue, verwirrende Vertrautheit an, doch Paola will nach den letzten Erlebnissen in der Schule niemandem mehr vertrauen, auch wenn sie spürt, dass im Wohnviertel und der Gestalt Antonios ein ganz neues Leben auf sie wartet …

Gleich vorweg muss man sagen, dass Raffaella Romagnolo in ihrem Buch einen ungewöhnlichen Drahtseilakt wagt. „Dieses ganze Leben“ ist über weite Strecken ein Coming-of-Age-Jugendroman, in dem manche Beziehungen ein bisschen zu non-ambivalent dargestellt sind. Womit ich meine: die Charaktere zeigen wenig Entwicklung und Variation in ihrem Verhalten, sie bleiben ihrer Ausrichtung verhaftet. Manche Konflikte werden während der Handlung intensiviert, andere nur im passenden Moment mal aufgerufen, aber gar nicht wirklich thematisiert.

In manch anderen Punkten ist das Buch aber ambitionierter. So schildert die Autorin mitunter bewundernswert anschaulich das Innenleben der Protagonistin und man hat am Ende das Gefühl, das zwar vieles unbefriedigend offen/unverhandelt bleibt, aber die Entwicklung Paolas durchaus sehr stimmig und gelungen ist.

Der Knackpunkt ist halt, dass dadurch viele andere Figuren und Handlungselement zum Ornament verkommen. Man hat das Gefühl, alle Elemente der Story schlagen sich vor allem in Paola nieder und sind abseits davon oft relativ eindimensional. Jetzt kann man argumentieren, dass das doch das Verhältnis einer Teenagerin zur Welt gut wiedergibt: was sich nicht direkt auf sie bezieht (und sie erzählt ja die Geschichte) ist nun mal Beiwerk.

Das mag sein und ich glaube, dass es Leute gibt, die mit dieser Leseerfahrung dann auch zurecht sehr zufrieden sind. Mich hat es ziemlich genervt (auch das passt aber eigentlich zum Teenager-Tunnelblick), wie sehr die anderen Charaktere streckenweise ernstgenommen werden, aber trotzdem nie aus ihren Rollen ausbrechen, sondern immer schön der Definition der Protagonistin verhaftet bleiben, so als würde sie letztendlich alles durchschauen und immer Bescheid wissen.

„Dieses ganze Leben“ ist ein teilweise starker, teilweise aber auch ziemlich luftiger Roman. Als Geschichte schön und teilweise schlimm, als Roman zu wenig ausgearbeitet.  

Zu “Junger Mann” von Wolf Haas


junger mann „Junger Mann“, das kann man direkt vorweg sagen, ist eine Wehmutsgeschichte, eine Geschichte über die Jugend, die erste Liebe. Es ist keine schlechte Geschichte, aber wer den wilden Wolf Haas kennt, den Haas von „Das Wetter vor 15 Jahren“ oder „Ausgebremst“ oder „Die Verteidigung der Missionarsstellung“, den Haas der schiefen Komik, dem wird dieses schöne Buch, trotz gewisser Schnörkel und dem ein oder anderen eigenwilligen Witz, doch allzu brav erscheinen.

Aber eins nach dem anderen, zunächst zum Inhalt: Haas junger Mann lebt Anfang der 70er Jahre in der Nähe des Deutschen Ecks in Österreich und jobbt bereits mit zwölf Jahren an einer Tankstelle. Oft frequentiert wird diese Tankstelle von Tscho, einem Lastwagenfahrer, der oft die Strecke bis hinunter nach Griechenland fährt und in seiner Freizeit an Autos herumschraubt, Totalschäden wieder auf Vordermann bringt. Tscho ignoriert den jungen Mann, den viele wegen seiner blonden Locken und seiner fülligen Figur nur „junges Fräulein“ nennen. Als der junge Mann aber zum ersten Mal Tschos neue Freundin Elsa erblickt, ist es um ihn geschehen – er will abnehmen und er will vor allem: Elsa …

Der in vielen anderen Büchern so originelle Haas gibt sich kaum Mühe, diesem schon oft gestrickten Plot einen eigenen Stempel aufzudrücken. All die üblichen Zutaten finden sich: leicht skurrile Figuren, Scham und Neugier des jungen Mannes, Anekdoten und Anekdötchen, schließlich eine Heldenreise, auf der sich das Erwachsenwerden einzustellen beginnt, ein dunkles Geheimnis, viel Hoffnung, viel Jugend.

Natürlich hat jeder Autor (und jede Autorin) das Recht auch so ein Buch zu schreiben, ein leichtes, aber nicht allzu leichtes Buch, einen harmlosen, aber berührenden Entwicklungsroman light. Weder wird die Fettleibigkeit des jungen Mannes über Gebühr thematisiert, noch gibt es sonst irgendwelche größeren Konflikte. Wäre mit diesem Wort nicht auch Verachtung verbunden, die dieses Buch nicht verdient hätte, könnte man es ganz einfach mit einem Adjektiv beschreiben: seicht.

Seicht nicht im Sinne von belanglos. Aber schon in dem Sinne: ohne Beißen und Stechen, ohne eine Spur wirklicher Tragik. Es ist eine heile Welt, die Haas da serviert, so sehr sie auch von kleinen Erschütterungen durchzogen ist. Diese Erschütterungen halten zwar den Plot in Bewegung, dringen aber nicht bis zu den Lesenden vor, die sich einfach in der schönen Spannung der Liebesgeschichte und der Abenteuergeschichte sonnen können. Warmherzig hat jemand darüber geschrieben – ja, das stimmt. Wem danach ist, wer ein solches Buch lesen will: Voila.

Zu “Ich und Earl und das (sterbende) Mädchen”


Ich und Earl und das Mädchen Jesse Andrews Jugend-/Krebsbuch kommt in einer netten, farbenfrohen Verpackung, der Name (im Englischen heißt das Buch “Me and Earl and the dying girl”, im Deutschen wurde das “sterbende” aus dem Titel des Films und der dazugehörigen Buchversion entfernt) und der Klappentext versprechen scheinbar mainstreamig-anrührendes (und doch bestimmt coming-of-age-Herzkammerflimmern!) und es gibt sogar einen Film. Diese Aspekte könnten viele Leser*innen dazu verleiten, ein anrührendes und lebensbejahendes, emotionales und tiefgründiges Buch zu erwarten. Ein Buch mit nahegehender Botschaft, mit atemloser und eindringlicher Kraft, der dünnen Haut der Jugend.

Doch gleich zu Beginn schlägt das Buch einen ganz anderen Weg ein (ob deswegen die Wirkung eine komplett andere ist, dazu später mehr). Der erste Satz (“Ich habe keine Ahnung wie ich dieses bescheuerte Buch schreiben soll”) ist schon in vielen Rezensionen zitiert worden und er kann durchaus als Ansage verstanden werden. Viele Rezensionen unterstellen ihm zusätzlich, dass er eine vorweggenommene Entschuldigung sein soll. Diesen Strick kann man drehen. Ich glaube aber, dass er die Lesenden vorbereiten und sie nicht vertrösten oder den Autor gegen Angriffe abschirmen soll. Das Buch sagt direkt: ich bin nicht so, wie du vielleicht erwartest. Denn die Dinge sind eigentlich nie so, wie man sie erwartet, wie sie kommen sollen, auch wenn Hollywood das Glauben macht.

Der Protagonist Greg ist siebzehn, sein bester Freund heißt Earl und gemeinsam machen sie Filme, inspiriert u.a. von Werner Herzog und Jean-Luc Godard, ambitioniert, aber letztendlich sind es minimalistisch-dilettantische Home-Videos, was die beiden bei aller Begeisterung auch wissen.
Gregs Familie ist ein Ausbund an Schrullen und Gewöhnlichkeiten (ein übliches coming-of-age-Rezept). An der Highschool fährt Greg eine eigene Taktik: er stellt sich mit allen gut, aber mit niemandem zu gut, was sich tatsächlich als clevere Variante erweist, diesen Hort der Cliquen und Ressentiments unbeschadet zu überstehen. So lebt er wenig besonderes, geradezu unspezifisches, auf wenige Dinge fixiertes Leben, bis dann seine Mutter eine völlig fremde Katastrophe in sein Leben trägt: die Krebskrankheit seiner Kindheitsfreundin Rachel…

Über Krebs bei Kindern/Jugendlichen gibt es schon viele Bücher & Filme. Ich behaupte dennoch, dass dieses Buch auf besondere Art und Weise damit umgeht. Von Anfang an schildert das Buch keine Geschichte von Liebe (wie John Greens “The fault in our stars”) oder die Geschichte eines Kampfes gegen die Krankheit. Überhaupt muss man sich am Ende die Frage stellen, was für eine Geschichte man da überhaupt gelesen hat, denn weder steht Rachel besonders im Mittelpunkt, noch steht es Gregs Entwicklung, noch Earls problematische Familiensituation, etc. – eine Unentschlossenheit beherrscht das Buch und seine Figuren, die natürlich frustrierend sein kann und wer mit dem etwas unorgansierten Erzählverlauf, der die Gewichtung der Themen immer wieder verschiebt, nicht klarkommt, den wird das Buch vermutlich eher aufregen als berühren.

Mich hat das Buch jedoch berührt. Vermutlich weil es nie vorgibt etwas anderes zu sein als die Geschichte eines durchschnittlichen Jungen, ohne Verlagerung auf Highschool-Kitsch, protzige Love-und-Sex-Aufputschungen, ohne Erhebung/Heldwerdung des Protagonisten, ohne fight gegen das Schicksal. Greg und Earl gewinnen (ebenso wie Rachel) schnell menschliche Dimensionen, gerade weil sie unspektakulär sind und ihre Geschichte an der Oberfläche unspektakulär verläuft. Berührend und im gewissen Sinne spektakulär werden dadurch nicht die Aufmachung, nicht der große Bogen, sondern die kleinen Momente, die erst richtig zur Geltung kommen und aus dem kleinen Raum der plötzlichen Erkenntnisse, der peinlichen Ereignisse, der scheinbar unausweichlichen Gewohnheiten entspringen.

“Ich und Earl und das (sterbende) Mädchen” ist nicht immer ein Lesevergnügen. Es hat seine Albernheiten, seine annoying Eigenheiten, stilistisch wie konzeptuell, und es wirkt irgendwie unfertig. Aber genauso ist das Leben, sind unsere Gefühle, unsere Vorstellungen oft, zumindest mit siebzehn: unfertig, fragil. Dieses Unfertige würde ich in diesem Fall nicht als Fehler, sondern als feature bezeichnen. Wir kommen nun mal oft nicht über das hinaus, was wir sind, das ist eine traurige, aber oft zu beobachtende Tatsache. Aber wir versuchen es und es ist der Verdienst von Andrews Buch, dass es, bei all seinen Mängeln, genau dieses Versuchen so gut darstellt. Nicht immer ist es das Widrigste, was wir überwinden müssen, es ist sogar selten das Widrigste. Meist ist es schlicht die Gewohnheit oder unsere eigene Komfortzone, unsere liebgewonnene Vermeidungstaktik, das gepflegte Nichteinmischen/-einsehen, etc.

Zu Axel Ranischs Coming-of-Age und Coming-Out Roman “Nackt über Berlin”


Nackt über Berlin Jannik liebt Musik, vor allem klassische. Und seinen Freund Tai, aber das darf keiner wissen, nicht seine Mutter und vor allem nicht Tai. Er ist sich ja auch gar nicht so sicher, ob er ihn liebt (als ob es ein deutlicheres Anzeichen gäbe, als das ständige Nachdenken mit klopfendem Herzen, ob man wohl in jemanden verliebt ist). Er ist ein bisschen übergewichtig, ein bisschen verzweifelt, ein bisschen schreckhaft.

Soweit die, noch relativ gewöhnlichen, geradezu klassischen Nöte eines 17jährigen Teenagers, der sich vor allem mit seinen Platten und seinen Gedanken beschäftigt; aus Janniks Warte besteht die Welt aus der Tyrannei der Schule, den Determinationen der Gesellschaft und dem kleinen Freiraum, den er sich mit seiner Musik und seiner Freundschaft zu Tai erkämpft hat.

Die Handlung setzt ein, als Tai sich eines Nachts meldet, mit einer kleinen Sensation: er filmt gerade den Rektor der Schule, der sich sturzbetrunken draußen auf der Straße auf den Hosenboden gesetzt hat. Tai ruft Jannik dazu. Ein leiser Auftakt, ein kurzer Trommelwirbel, der zu einer wirbelnden, rasanten Geschichte um Glück und Angst, Leben und Tod, Spaß und Ernst wird und in der hinter jeder Ecke eine neue Wendung wartet …

Es gibt schon allerhand Rezensionen, deswegen will ich vor allem das Wesentliche noch mal betonen: Dieses Buch hat Witz. Es ist, auf seine schräge Art, furchtbar liebenswert und das jenseits der Klischeegebiete. Die Figuren sind nicht nach dem üblichen Coming-of-Age-Etappenschema aufgebaut (am Anfang so, in der Mitte dann Wandlung, am Ende alles neu), sondern stets ambivalent gezeichnet und durchlaufen dennoch eine sehr gut inszenierte Entwicklung, mit vielen Ausläufern und Zwischentönen.

Und neben Witz und Charme hat das Buch auch einen großartigen erzählerischen Drive, eine geradezu bahnbrechende Erzähllust und -kraft. Kurzum: das Buch ist ein Volltreffer, ein Buch der Saison. Axel Ranischs Buch “Nackt über Berlin” wird hoffentlich dieses Jahr auf vielen Nacht- und Wohnzimmertischen liegen und für Unterhaltung sorgen – aber auch für tiefere Gedanken und Erfahrungen, über Wut, Frust, Liebe, Sein und Schein, Macht, Musik, Bedeutung, Hoffnung und Toleranz.

Zu Lindsey Lee Johnsons gut komponiertem Debüt “Der gefährlichste Ort der Welt”


Weil der Boden unter ihren Füßen sich täglich, stündlich verschob. Weil sich alle an ihren Platz in der sozialen Ordnung klammerten. Es gab die Tänzerin, den Schönling, den Spezialisten, das reiche Mädchen, die beste Freundin des reichen Mädchens. Es gab die Grüppchen, die sich in der Vormittags- und Mittagspause bildeten, und das Wissen darum, dass man im Handumdrehen von diesen Gruppen ausgeschlossen werden konnte. Jeder Einzelne von ihnen. Sie taten, was sie konnten, um zu überleben.

Mill Valley ist ein (real existierender) kleiner Ort in der San Francisco Bay Area, nicht weit entfernt von der Golden Gate Bridge. Es gibt eine Middle-School und eine High-School, die Familien sind zum größten Teil wohlhabend und das überschaubare Stadtbild, die umliegenden Berge, das Meer und riesige Mammutbäume lassen den Gedanken an eine Oase aufkommen, einen Platz vor der Welt, in dem wenig oder gar nichts Prekäres passiert. Somit bietet der Ort die perfekte Kulisse, um in bester amerikanischer Literaturtradition Fassaden aufzuwerfen und einzureißen.

In „Der gefährlichste Ort der Welt“ geht das allerdings mit einer großen Sensibilität vonstatten. Lindsey Lee Johnson setzt in ihrem Debüt bei dem fragilsten und unsichersten Teil der Gesellschaft an: den Jugendlichen. Den Menschen, die noch dabei sind herauszufinden, was sie wollen, denken, was ihre Handlungen für Folgen haben, was sie brauchen oder worauf sie verzichten können; die sich fast ununterbrochen in einem angespannten Verhältnis zu sich selbst und ihrem Umfeld befinden. Die selbst in einer Oase wie Mill Valley am gefährlichsten Ort der Welt leben.

Sie war ruhelos und hätte ihr Leben gern zurückgedreht oder in ein paar großen Sätzen vorangebracht.

Das Buch ist in einen Prolog und drei weitere Teile gegliedert, wobei der mittlere den längsten Abschnitt bildet. Im ersten Teil sind die Jugendlichen, die zur gleichen Zeit – wenn auch mit ganz unterschiedlichen Beziehungen untereinander, die einen der zentralen Schwerpunkte des Romans bilden – an die Middle School und danach an die Highschool gehen, gerade Vierzehn, im zweiten Teil dann Siebzehn, im letzten Achtzehn. So gut wie jedes Mitglied der zentralen Gruppe ist einmal Protagonist*in in einem eigenen Kapitel, die aneinander anknüpfen, sehr geschickt ineinandergreifen, sich ergänzen und, in ihrer Kürze, tief in die Welt und den Charakter der jeweiligen Figur hineinführen.

Erstaunlich sind hierbei das Einfühlungsvermögen und die kluge Balance, mit der Johnson ihre Figuren zwischen individuellem Angesicht und archetypischer Rolle ansiedelt, die Problematik von Schein und Sein immer wieder neu aufwirft und sich dabei nicht scheut, bei ihren Figuren ein sehr eigenständiges Erleben, mit Zweifeln und Unsicherheiten, zu zeichnen, aber auch auf sehr gewöhnliche Motivationen und simple Handlungsmuster zurückzugreifen.

Aber seine Eltern wussten bestimmt, was richtig war. Mit dem Leben musste es irgendwas auf sich haben, was er noch nicht ganz verstand; es musste irgendeinen Grund geben, warum das unscheinbare Leben, das er sich vorstellte, nicht in Ordnung war.

Entstanden ist so ein beeindruckendes Panorama der digitalisierten First-World-Problems-Generation, in deren Dasein sich jedoch ein paar entscheidende Fragen des Menschlichen finden lassen: wohin, um zu sein, wer man ist? Was sollte man, was muss man tun und wieso fühlt sich vieles so falsch an, was vorgegeben ist? Können wir die Angst vor der Einsamkeit oder die Angst vor der Unberechenbarkeit der anderen überwinden? In diesen und anderen Fragen verfangen sich die Protagonist*innen unentwegt, suchen sie zu bewältigen mit ihrer jeweiligen Mentalität, vertrauen und hadern. Der Roman beginnt wie eine unaufdringliche Coming-of-Age-Geschichte und steigert sich zu einem Figurenreigen, bei dem man mit jeder neuen Perspektive mitfiebert.

Sowohl sprachlich als auch thematisch ist “Der Gefährlichste Ort der Welt” kein bahnbrechendes Werk – seine Stärke ist, wie bereits erwähnt, die Darstellung der einzelnen Figuren, die Komposition und Verschränkung ihrer Geschichten. Ich schrieb vor kurzem (beim Onlinemedium Signaturen-Magazin) einen Essay über das Werk des diesjährigen Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro und attestierte seinen Romanen ungeheure menschliche Dimensionen. Auch bei Lee Johnson sind es die menschlichen Dimensionen, die mich beeindruckt haben; wie die Autorin sich auf jede einzelne Figur einlässt, ihre Züge fein und grob zugleich herausarbeitet.

Wer einen Roman lesen will, der langsam beginnt und sich Stück für Stück zu einem umfassenden und nachdrücklichen Erlebnis steigert und schließlich über das eigene Sujet hinauszuwachsen scheint, dem kann ich Johnson Debüt nur empfehlen. Ein wirklich tolles Buch!

Ein Stück Unendlichkeit – Über die Verfilmung von “Vielleicht lieber Morgen”


Die besten Bücher und Filme über das Thema Coming of Age sind meist eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle. Dass dieser Teil unseres Lebens einen unverrückbaren Angelpunkt und Wegweiser im menschlichen Dasein darstellt, erfahren wir alle zumeist am eigenen Leib; wir alle haben unsere eigenen Geschichte dazu – dennoch (oder gerade deswegen) haben gerade Werke über dieses Thema oft eine Nähe zur Realität der Gefühle, die sehr leicht zu unseren eigenen Empfindungen aufschließen kann; vielleicht weil sich Sehnsucht und Angst in dieser Zeit einfach noch rein und verstellt gaben und man während des Erwachsenendaseins lernt, sie aufzubrechen, zu differenzieren oder zu unterdrücken. Hier, in solchen Filmen, werden sie nun zum Teil wieder zusammen- und freigesetzt. Und wir besinnen uns dabei auf einen wichtigen Teil von uns: der Teil, der in uns, über Zeiten und Räume hinweg, unendlich ist.

Dass der amerikanische Autor Stephen Chbosky seinen einzigen Roman selbst verfilmte, ist natürlich ein großes Plus. So ist der Film sowohl eine passende und geniale Umsetzung des Buches, als auch eine Erweiterung des Buches im filmischen Sinn/Stil. Viele der Szenen sind sehr detailgenau dem Buch nachempfunden und doch geben die (sehr gut ausgewählten) Besetzungen den Figuren nochmals einen neuen Charme, sind ein weiteres Highlight, hauchen dem Buch und den Figuren auf ihrer Ebene noch mal neues Leben ein. Ich muss sagen, dass ich sehr in das Buch vernarrt bin, doch kann man den Film mit ihm beinahe auf eine Stufe stellen, auch wenn einige sehr bewegende Passagen einfach filmisch nicht umsetzbar sind (z.B. kommt die ganze Geschichte mit Charlys Tante noch besser – was nicht heißt, dass sie im Film nicht trotzdem beeindruckend ist – im Buch rüber. Noch abrupter vor allem; im Film wirkt sie fast schon konsequent).

Wer gerne Filme sieht, in denen das Herzstück dieses Lebensabschnitts des Jugend, mit all seinen Facetten und Ereignissen, aufgebrochen wird, diese Zeit, in der wir begreifen, dass zwar alles möglich ist, wir uns aber auch entscheiden müssen, dem sei dieser Film sehr ans Herz gelegt. Neben Von der Kunst, sich durchzumogeln und Raus aus Amal, neben Büchern wie Franny und Zooey, Eine wie Alaska, Die Nackten oder It’s Kind of a Funny Story etc. gehört dieses Werk zum Besten, was man in Sachen Coming of Age bekommen kann und auf seine ganz eigene Art geht dieser Film, wie alle anderen genannten Werke, auch noch weit über die Konfigurationen dieser Rubrik hinaus und ist auch ein sehr guter Film über das Anderssein, die Beobachterrolle (Nicht umsonst heißt das Buch ja im Original “The Perks of Being a Wallflower“) und über den Spruch: “Man kann sich nicht aussuchen, wo man herkommt oder wer man ist – aber man kann sich aussuchen, wo man hingeht und mit wem.”

Also: Man schaue diesen Film, mache sich einen schönen Abend damit. Mitunter wird man danach gefühlstechnisch bewegt sein, melancholisch oder einfach glücklich, und am ehesten sogar etwas von beidem. Es ist sicher schön, wenn man vorher das Buch gelesen hat – trotzdem: wenn das Buch die bewegende Dimension eines Sternenhimmels hat, ist der Film immer noch ein Juwel. Und in manchen Momenten ist man auch darin: unendlich…

Link zum Film: http://www.amazon.de/Vielleicht-lieber-morgen-Emma-Watson/dp/B009WIJW7S/ref=cm_cr_pr_pb_i

*Diese Rezension ist bereits teilweise auf Amazon.de erschienen

Kleine Impressionen zum Film “Raus aus Amal”.


Das Gefühl mit dem einen manche Filme entlassen, möchte man am Liebsten noch ewig lange in der Brust bewahren; man wünschte man könnte den Film noch hundertmal (zum ersten Mal) sehen und es möge noch hunderte solcher Filme geben. Der Held des Buches Das also ist mein Leben würde vielleicht sagen: “Ich schwöre, man ist darin unendlich.”

Dieses Gefühl, das zu Herzen geht, entsteht selten aus den spektakulären und meist auch nicht aus den rein ästhetischen Aspekten eines Films, sondern aus der Nähe, die dieser zu einem aufbaut, während er die Distanzen zwischen Erleben und Erschauen dann und wann zu überwinden versteht. Bei dieser Art von Kunst, die das Leben wirklich abzubilden scheint, wird uns auch immer wieder eine der innersten Formen von Sehnsucht (und Glück) offenbart; eine Sehnsucht, die hervorzurufen eines der wesentlichen Wunder von Filmen, Büchern etc. ist, eine, die uns auf das wahre Wesen vieler Dinge verweisen kann.

Der Regisseur Lukas Moodysson ist in seiner Heimat eine Art Shootingstar und hat auch mehrere Gedichtbände veröffentlicht.

“Raus aus Amal” ist sicherlich kein Meisterwerk der Filmkunst, aber es ist ein Meisterwerk in Einfühlungsvermögen. Kaum würde man den Film in seinen Einzelteilen besonders raffiniert oder gekonnt nennen und doch ist das Gesamterlebnis beeindruckend intensiv, ja, sogar schön, auf eine unnachahmlich direkte Weise. Vielleicht liegt es daran, dass der Film nicht um Aufmerksamkeit und Klasse ringt, sondern sich gänzlich selbst zu genügen weiß und einfach sein Projekt verfolgt: das Gefühlschaos der Jugend, in dessen Zentrum oft die erste Liebe steht, in authentischen Figuren und einer ungestellten Geschichte zu erfassen und dabei gleichsam auf das Glück und die Schwierigkeiten dieser unvergesslichen Erfahrung hinzuweisen.

Da ich diese Rezension noch unter dem Einfluss des Films schreibe, fällt es mir schwer die Handlung ohne interpretatorische Gesichtspunkte oder den Ausdruck meiner Gefühle zu erzählen und ich hoffe, dass die oberen drei Absätze ausreichen, um weitere Zuschauer für diesen Film zu gewinnen. Wenn nicht, versuche ich es noch einmal ganz einfach zu sagen:

“Raus aus Amal” ist ein Film über die erste Liebe, über das, was einen Zögern und Zaudern, Hoffen und Verzweifeln, Träumen und den Atem anhalten lässt. Es ist ein relativ einfacher Film, der auf seinem Kurs wenig Aufsehenerregendes zu bieten hat, ja nicht einmal darum bemüht ist, über das authentische Bild einer Kleinstadt und ihrer Jugendlichen hinaus, für eine Spannungsquelle zu sorgen, dafür aber viel Innerliches zu zeigen versteht. Wer einen leisen Film nicht nach der Intensität seiner Aussage, sondern nur nach Effekten und Ästhetik bewerten will, dürfte „Raus aus Amal“ relativ schnell als langweilig empfinden. Allen anderen will ich den Film ans Herz legen. Genau da gehört er hin. Manches, so dumm es auch klingt, gehört nun mal in das Reich des Herzens, mit dem (wie Lorca sagte) “wir voranschreiten/klug und unverwandt/das eine Glück von innen/ bei der Hand.”

Link zum Film: http://www.amazon.de/Raus-aus-Amal-Alexandra-Dahlstr%C3%B6m/dp/B00005B95T/ref=cm_cr_pr_pb_t

*Diese Rezension ist bereits teilweise auf Amazon.de erschienen.

Beziehungen und Chancen am Rande von Leben und Existenz… Ein paar Zeilen zu dem Film “Kids – In den Straßen von New York”


Die bestimmenden, lenkenden Kreise der Menschheit reden sich gerne ein, dass Errungenschaften & große Leistungen das einzig Bedeutsame im Leben sind und, allgemein, auch das Wesen der Menschheit (mit ihrer Fähigkeit zu Sprache, Liebe, Kunst und Intellekt) am meisten ausmachen und am besten darstellen; der Rest ist reine Existenz und verdient vielleicht gerade noch die Bezeichnung eines Lebens. Das Kino und auch die Literatur haben diese Ansicht immer wieder kontrastiert, in dem sie sich mit den Bedingungen für Errungenschaft & Leistung auseinandersetzten und schließlich immer zum Begriff der “Chance” kamen. Wieder und wieder hat sich die Kunst mit den Menschen beschäftigt, die wegen eines schlechten sozialen Umfeldes, brüchigen oder gefährlichen Strukturen und mangelnden moralischen Vorbildern etc. keine Möglichkeit hatten, ein auf wirkliche Ziele ausgerichtetes oder durch Leidenschaften forciertes Leben zu führen, das sich nicht in Gewalt, Einsamkeit oder bloßem Überleben verliert.

Ich persönlich erachte diese hartnäckige Bearbeitung des Themas als eine der bedeutendsten Errungenschaften von Kunst überhaupt, kann aber verstehen, wenn jemand diesem Thema allgemein nicht viel abgewinnen kann. Zwangsläufig werden Filme dieses Maßstabs eher cineastische, denn bombastische Qualitäten haben, sie werden mehr ein Brüten als ein Explodieren der Bilder sein – mehr Eindruck den Ausdruck.

Doch wir brauchen die eindrückliche Kunst, sie ist enorm wichtig! Und auch wenn ich hier nicht für etwas werben will, rate ich doch dazu, sich eindrücklichen Filmen wie diesem zu öffnen. Wo ein Popcorn-Kinofilm die Gefühlslagen nicht ermittelt, sondern darstellt, ist ein Film wie dieser eine Art inneres Stimmgerät, das die eignen Gefühlsseiten sensibilisiert. Nicht immer auf angenehme Weise, denn ein wesentlicher Zug eines so konzipierten Films ist Tragödie, Konflikt und nahezu unüberbrückbare Entfremdung, Entfernung. Entfernung als Bild für das wahre Ausmaß der Gefühle; Tragödie als Abbildung einer Form von Realität.

Einst ist Dito aus den New Yorker Slums entkommen und hat sich eine Existenz als Autor und Musiker aufgebaut. Zu seinen Eltern hat er keinen Kontakt mehr. Dann erfährt er, dass es seinem Vater wohl sehr schlecht geht und fliegt, unschlüssig, was wirklich dort passieren wird, nach New York. Allein die Reise weckt schon Erinnerung an die Zeit, die er als Jugendlicher in den Straßen zubrachte. Und wie sich plötzlich ein Ausweg bot aus den problematischen Familienverhältnissen, dem ewiggleichen Herumziehen auf der Straße, den alten, kaputten Jugendfreunden… doch obwohl es letztlich eine Katastrophe war, die ihn aus den Slums weggeführt hat, treten beim Nachspüren auch andere DInge zutage: Unvergessliche Momente… das Gefühl der Freiheit… eine niedere Unschuld… die erste Liebe… der sichere Zusammenhalt… was war diese Zeit wirklich: Segen oder Fluch?

“Kids – in den Straßen von New York” ist, inhaltlich, ein sehr oberflächlicher Film. Die meisten Szenen spielen sich sehr unabhängig von einander ab, auch wenn sie natürlich in einem Kontext stehen, der aber immer wieder durch Sprünge zwischen den beiden Zeitebenen unterbrochen wird. Es geht auch wenig um Leidenschaft, wie es manchmal in Slum & Ghettogeschichten der Fall ist – es geht um Existenz und um die sehr schlichten Problematiken, wenn man in verlorenen Gegenden aufwächst. Aber eigentlich geht es zentral nur um eins: menschliche Beziehungen und zwar auf den denkbar einfachsten und doch schwierigsten Ebenen. Vater und Sohn / Jugendfreunde, die sich emotional anders entwickelt haben, aber immer noch aneinander festhalten / Bruder und Bruder / Erste Liebe, zwischen der die Kumpelfreundschaft steht. Auch wenn es sicherlich noch um sehr viel mehr geht: Auf diesen Beziehungen liegt letztlich das schmerzliche Hauptaugenmerk… und dieses Hauptaugenmerk scheut auch nicht, das verwirrende und unverharmonische Gespinst der Beziehungen sehr direkt aufzuzeigen, indem es die Figuren ihre Standardsätze wiederholen, sie durcheinander reden lässt und ihre Scheuklappen ganz offen zu Tage treten lässt, ohne eine Besserung. Selten habe ich einen so authentischen Film gesehen, wenn es um die Umgangsweise der Menschen miteinander geht.

Sehenswert ist der Film allemal, schwerverdaulich ist er nicht unbedingt, allerdings auch nicht leicht zu erschließen. Man muss ihn so seien lassen wie er ist – sobald man ihn gern anders hätte, hat man schon verloren, fürchte ich. Das kann die Eigenschaft eines sehr schlechten Films sein, hier ist es das Merkmal eines sehr ehrlichen und subtil in Szene gesetzten. Einen Film, der nachprüft, worin die Möglichkeiten wirklich liegen.

Am Ende muss man auch daran denken, ob vielleicht alles nicht einfach eine Frage der Zeit ist, ob Schicksal (als Konzept) nicht allein dadurch glaubwürdig ist, weil es so oft als Bezeichnung eingesetzt werden kann. Es kann einem aber auch der Gedanke kommen, dass mehr von unseren eigenen Entscheidungen abhängt, als wir uns eingestehen wollen – und das allein das Eingeständnis uns schon weiterbringen kann, als es zunächst möglich schien…

Link zum Film: http://www.amazon.de/Kids-den-Stra%C3%9Fen-New-Yorks/dp/B0012R2S1Y/ref=pd_sim_d_3

*Diese Rezension ist bereits teilweise auf Amazon.de erschienen.