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Zu “Dissidentisches Denken” von Marko Martin


Dissidentisches 30 Jahre nach dem so genannten „Mauerfall“ muss in Europa eine erschreckende Bilanz gezogen werden: Nicht nur gibt es wieder verblendete Nationalphantasien und restaurative Gesellschaftsentwürfe, die Idee der Epochenwende, des Anbruchs eines befreiten Zeitalters, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Während in Ländern wie China eifrig eine Politik des unbedingten gemeinschaftlichen Ganzen (mithilfe von digitalen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen) betrieben wird, werden in Staaten wie Russland und den USA Entitäten wie die Wahrheit von den Regimen gepachtet und umgedeutet. Die Institutionen der Demokratie müssen derweil in vielen Ländern semi-demokratischen, in vielerlei Hinsicht schon plutokratischen oder autokratischen Machtverhältnissen weichen.

Diese Entwicklungen ähneln – so reißerisch und vorschnell diese Überlegung erscheinen mag und obgleich sich Geschichte nicht 1zu1 wiederholt – in einigen Punkten den Entwicklungen, denen in der letzten (und ersten) großen Ära demokratisch geführter Staaten (zwischen den Weltkriegen) viele Länder zum Opfer fielen (manchmal ohne echte demokratische Zwischenphase). Neben den faschistisch-autokratischen Staaten bildeten sich damals auch viele pseudosozialistisch-autokratische Staaten, allen voran die Sowjetunion, der viele andere dieser psa Staaten (zwangsweise) als Satellitenstaaten dienten oder zumindest in mancherlei Hinsicht auf sie angewiesen waren.

In allen Gesellschaften, die nicht demokratisch (oder anarchistisch) organisiert und/oder regiert werden, sind alle von den derzeitigen Regierungserlassen abweichenden (und verlautbarten) Meinungen unerwünscht, oftmals strafbar und sie werden unterdrückt/unterbunden. Die Träger*innen solcher Meinungen (und aus ihnen resultierenden Handlungen/Weigerungen) nennt man Dissident*innen. Ihre Spur zieht sich durch die Geschichte (auf gewisse Weise waren auch Figuren wie Sokrates oder Jesus, Johanna von Orleans oder Martin Luther Dissident*innen), viele der wichtigsten neueren Zeugnisse ihres Denkens und ihrer Position stammen aber aus den Ländern, die bis 1989 zum „Warschauer Pakt“ gehörten (oder ein faschistisches Regime hatten).

Marko Martin hat sich mit ihnen auseinandergesetzt und ein großes Buch über eine Epoche geschrieben, deren widerständige Kräfte, dissidentische Erlebnisse, Erinnerungen und geistigen Potenziale allzu schnell ad acta gelegt wurden, als die Systeme und Welten, gegen die sie gerichtet oder in denen sie entstanden waren, endeten und (vermeintlich) untergingen. Aus den Schicksalen der Autor*innen und Intellektuellen, mit denen Martin gesprochen hat oder die er, in manchen Fällen, porträtiert, ergibt sich das Muster und der Stempel einer Zeit, der auch unserer Zeit erneut aufgedrückt werden könnte, wenn wir nicht aufpassen.

Um einen klarere Blick auf die Vergangenheit zu bekommen, aber auch für eine Arbeit am Verständnis der Gegenwart und der (leider zeitlosen) Unterdrückung, eignet sich dieses Buch hervorragend. Es ist eine große Leistung und ein unverzichtbares Bildungsgut, ein Kaleidoskop verschiedenster Lebensläufe, sich kreuzend auf den Weltmeeren des Exils und des Widerstandes.

Ein menschlicher Dichter – zur neuen Ausgabe der Milosz Gedichte bei Hanser


“Es ist gewiss eigentlich nicht statthaft,” bemerkte Kipling, “einen Dichter zu lieben, weil er spricht, wie man selber gerne spräche. Es mag darin nämlich mancher eine Schwäche sehen, sich immer dem Vertrauten zuzuwenden, wenn er auch das Neue oder sogar das Konträre entdecken könnte. […] Dies geht von der falschen Vorstellung aus, nur das Neue, Andersartige könne uns bereichern […] obwohl ja auch eine gute Maschine nicht aus allen Teilen gebaut wird, die man bekommen kann, sondern nur mit den Teilen, die für die Funktion unerlässlich sind, wobei zusätzliche Teile entweder Zierde sind oder Hindernis – in jedem Falle überflüssig. […] Was dabei eben oft übersehen wird ist die Tatsache, dass man sich nicht nur erweitern, sondern auch vertiefen kann. […] Ich glaube, dass derjenige in der Welt am wenigsten Schaden anrichten wird, der weiß wer er ist und wo er steht.” (Kipling, Essay on Criticism)

“Keine Sprache genügt der Schönheit.”

Ich wählte dieses Zitat von Kipling als Einstieg für diese Rezension, weil es (abseits der vielen Ansatzpunkte für Kritik und Diskussion) einen Gedanken enthält, den ich mit dem Werk von Milosz immer Zentral in Verbindung gebracht habe. Seit Jahren besitze ich die Auswahl seiner Gedichte aus der Bibliothek Suhrkamp, hatte bisher jedoch immer nur einzelne Gedichte und Passagen gelesen und mich nie ganz in ihn vertieft; er war für mich einer der wenigen Dichter, denen ich mich nicht mit Gedanken an das Gesamtwerk genähert habe, sondern die ich als Gesprächspartner aufsuchte, die ich als Möglichkeit betrachtete, die Stimme eines Dichters im Ton eines Freundes reden zu hören. Einem Freund, der keine Abstraktionen hinblättert, sondern mir Ideen eingibt, Ansichten, Bilder und Fragen, Meinungen und Streiflichter. Anders gesagt: In der Poesie von Czeslaw Milosz fühlt man sich wie ein werdender Mensch, der noch nicht fertig sein muss (ein Gefühl, was einem sehr wenige große Dichter geben). Ihm geht es um die eigene Bestimmung, den wirklich eigenen Blick und den Weg dorthin, der nie ein Ende findet.

Und er zelebriert nicht nur die Dinge für sich selbst – er lässt auch Dinge in seine Gedichte eintreten, gegen die er dann bis zum Schluss des Textes ankämpfen muss; Kämpfe, bei denen er die Regeln nicht bestimmen kann und in deren Verlauf er nur die Sprache hat, um zu agieren, zu widerstehen, und sich, die Poesie und das Glück zu verteidigen.

“Aus der Vorhölle für ungetaufte Jünglinge und Tierseelen

Soll ein toter Fuchs erscheinen und er soll Zeugnis

ablegen gegen die Sprache.”

Direkt zu Anfang möchte ich anmerken, dass Milosz nicht auf ein Zitat festgelegt werden kann und somit auch nicht auf eine einzelne Ausdrucksweise. Alle Beispiele hier sollen einen kleinen Eindruck der Vielfalt aufzeigen und keine repräsentativen Klarheiten schaffen.

Für repräsentative Klarheiten ist Milosz sowieso der falsche Dichter. Im Zusammenhang mit vielen Dichtern, die ich gelesen hatte, habe ich später in Besprechungen den Ausdruck “menschliche Poesie” verwendet, wenn ich eigentlich humanistische Prinzipien, eingebundene Anteilnahme oder subtile Nähe zum Leser meinte. Auf Miloszs Poesie passt diese Bezeichnung allerdings am besten; menschlich im Sinne von: unperfekt, stimmungsabhängig, ambivalent, bekennend, gefühlsbestätigend, nachdenklich, mit Gedächtnis und Gewissen operierend.

“Auf diesem selben Marktplatz

Verbrannte Giordano Bruno,

Das Feuer, geschürt vom Henker,

Wärmte die Neugier der Gaffer.”

1911-2004. Eine beachtliche Lebenspanne, in einem Jahrhundert voller Tod und vieler rapider Entwicklungen, die vor allem eins erhöhten: Die Undurchschaubarkeit der Welt und ihrer Systeme. Nachdem die Zeitalter davor das Ich stark in den Fokus gerückt hatten, war genau dieses Ich nun dabei, im Kampf der Ideologien und Zukunftsaussichten zu verschwinden.

Diese Unklarheit über den Wert des Ich, des Selbst, des Einzelnen: bei Schriftstellern, die nicht den Ideologien ihrer Zeit anhingen und sich trotzdem mit ihr befassen wollten, musste diese Problematik zwangsläufig (mit) zum Thema werden. Dabei ist, von sich selbst zu sprechen, in der Lyrik von jeher ein Risiko, wenngleich auch eine Chance.

“Der Vorteil der Poesie ist, dass sie uns daran erinnert,

wie schwer es ist, man selbst zu bleiben,

denn unser Haus steht offen, die Tür ist schlüssellos,

und unsichtbare Gäste gehen ein und aus.”

Ich bin der Ansicht (die manchen vielleicht seltsam erscheinen mag), dass das Leben eines Dichters zwar viel mit den Wesensinhalten seiner Gedichte zu tun hat, man aber von den Gedichten auf die Biographie schließen muss, und nicht umgekehrt. Anders gesagt: Man sollte Gedichte nicht nach Aspekten durchsuchen, die man zuvor in der Biographie gefunden hat, sondern lieber die Gedichte lesen und sich nachher über den biographischen Hintergrund des Gedichtes informieren. So wirkt das Gedicht als erstes, aus sich selbst heraus, und durch die zusätzlichen biographischen Daten wird dieser Eindruck eventuell noch klarer, evidenter – wenn man es umgekehrt handhabt, sieht man im Gedicht vielleicht nur die Bestätigung der Biographie und nicht den eigenen, tieferen, komplexeren Ausdruck.

Gerade bei Milosz, der in seine Gedichte seine Verzweiflung, ebenso wie seine Hoffnung legte (zwei Gefühle, so stark auf den Moment ihres Empfindens fokussiert, dass man sie in einer Biographie nicht wirklich auffinden oder nachvollziehen kann) ist diese Herangehensweise empfehlenswert.

Deswegen werde ich mich auch nicht weiter über seinen Lebenslauf auslassen (zumal Adam Zagajewski ein hervorragendes (zum Teil auch sehr biographisches) Nachwort zu diesem Band verfasst hat).

Zahlreiche frühe Gedichte von Milosz handeln vom Krieg, dem Warschauer Ghetto, seiner Verbindung zu und Sicht auf die Taten & Geschehnissen dieser Zeit. Die meisten Gedichte streifen jedoch in seiner persönlichen Geschichte; die natürlich, da er ein Dichter ist, sich oftmals mit den großen Geißelungen der Zeit konfrontiert oder vereint sieht.

“Wie soll ich leben in diesem Land,

Wo der Fuß über die Knochen

Der unbestatteten Nächsten stolpert?

[…]

War ich denn dafür geschaffen,

Klagelieder zu singen?

[…]

Lasst doch

Den Dichtern den Augenblick der Freude,

Sonst geht eure Welt zugrunde”

Die schmerzliche Erkenntnis, nicht schreiben zu können, was man will, weil es Dinge gibt, die man beschreiben muss, die also mehr Realität haben, als ein Gedicht, das sich nicht mit ihnen beschäftigt, jemals haben könnte… Der Dichter: als Warner oder als Künstler? In Milosz Werk sieht man die Schwierigkeit, beides auf einen Nenner zu bringen: Das Abbilden der Gegenwart, also auch das Bekenntnis zur eigenen Geschichte, und gleichzeitig das Aufgreifen der ewigen Themen der Dichtung, der Versuch, Sprache zu einer Epiphanie und nicht nur zu einer Dokumentation werden zu lassen.

Die Geschichte ist eben nicht alles, aber manchmal schafft sie es, die Menschen für sich zu verpflichten. Und der Dichter weiß, dass er eine komplette Okkupation nur verhindern kann, wenn er sich mit ihr auseinandersetzt – er weiß, dass es Dinge gibt, die Vorrang haben, vor seinen Ideen von Idylle, Farben und Genie. Einfache Dinge, elegische, schwierige Dinge; Gedanken, Bedenken, Geständnisse; Ansagen, Wiederworte, Wünsche.

Milosz ist auch deswegen ein großer Dichter, weil er sich trotz seiner regen Beschäftigung mit Zeitgeschichte und Ethik, nie davon vereinnahmen ließ. Er fand einen Mittelweg, eine Möglichkeit Farben und Ideen anzurufen und dennoch zu bedenken und zu berichten. Seine Verse sind selbstbezügliche Studien – Ansichten, die dem eigenen Ich vorgetragen werden und aus seiner Gedankenwelt, zusammen mit den Worten, den Raum für ein Gedicht erschaffen.

“Was ist die Poesie, wenn sie weder Völker

Noch Menschen rettet?”

Ein sehr direkter Ausruf – eigentlich zu wage für einen Diskurs und zu groß für viele Lyriker, die um solche einwandfreien Fragen eher einen Bogen machen. Aber Milosz ging es darum, ob es in seinem eigenen derzeitigen Gemütszustand, in den Umständen seines derzeitigen Gedichtes, eine wichtige Frage war, eine Frage, die hineingehörte in die poetische “Aufregung” seiner Zeilen und zu dem Selbstverständnis seines Textes. Das macht seine Verse authentisch, ehrlich, manchmal auch etwas willkürlich. (eine unwillkürliche Willkür – und das ist nicht nur ein essayistischer Stilsalto.)

Überhaupt ist Milosz ein sehr unstrukturierter Autor, für einen Lyriker. Trotz Intelligenz und Gespür merkt man bei ihm wenig Formwillen – nur einen schlichten, der die Worte nach der Art zusammenbringt, dass sie die Form eines Gedichtes annehmen, dass sie eine poetische Wirksamkeit beziehen, aber keine Umbrüche, keine Formung, die das Gedicht schon deutet, seine Ausgestaltung mitdiktiert.

“Ich war ein Instrument, ich lauschte, traf eine Auswahl

der Stimmen aus dem stammelnden Chor und

übersetzte sie in klare Sätze mit Punkt und Komma.”

 […]”Wir suchen nämlich nicht das Vollkommene, wir suchen

das Resultat von unaufhörlichem Streben.”

Bei all dieser “Un”beschaffenheit, zu der seine Poesie tendiert, ist doch jedes Glied seiner Gedichte von vollendeter Klarheit – worunter nicht hoch hinaus gefaltete Schönheit oder sensationelle Aspekte zu verstehen sind, sondern eine schlichte Präzision, eine Poesie, die immer bei sich selber bleibt, auch in sich selbst träumt oder von ureignen Fehlern spricht; die sich nicht in andere Räume oder Welten, andere Perspektiven begibt oder begeben muss. Inmitten dieser Selbstvertiefungen entstehen immer wieder Verse und Zeilen, die die Dinge auf den Punkt bringen – vielleicht nur für einen Moment, in etwa wie es der eigene Gedanke, die eigenen Eingebung tut, die uns tagtäglich überraschen kann.

“Zwischen Augenblick und Augenblick habe ich viel erlebt im Traum,

So deutlich, dass ich das Schwinden der Zeit fühlte,

Als das, was ständig fern war, nicht da war.”

 

“Der Duft des frischen Klees hat die kriegerischen

Märsche wiedergutgemacht und im Licht der

Autoscheinwerfer glänzen die Wiesen für immer und

ewig.”

Träumerische Facetten und utopische bis verzweifelte Imaginationen geistern durch Miloszs Werk. Der Titel (der Begriff) Dichter/Lyriker wird heute in Deutschland eher an dem formschaffenden Aspekt festgemacht, gepaart mit einem enormen Innovationsdrang, dem Streben nach einem rein exklusiven Ausdruck.

Auf Milosz kann man diese Bewertungskriterien unmöglich anlegen. (Ja, wenn man Dichter wie Milosz liest, muss man diese Kriterien vielleicht sogar in Frage stellen.) Er ist auch kein Dichter, der, wie die klassischen Poeten, größtenteils an der Veranschaulichung oder Darstellung des Schönen interessiert ist; auch sein Harmoniebedürfnis ist geringer, aber es ist vorhanden, es hat sich bloß gewandelt: von einer freudigen Antwort zu einer rastlosen Frage. In Milosz Werk treffen der Wille, dieser Stoff, mit dem Dichter die Welt in Worten ausdrücken, und der Zweifel, der sie dazu bringt, ihre Darstellungen zu bedenken, in einer besonderen Mischung zusammen – was sicherlich auch mit der Zeit zu tun hatte, in der Milosz lebte: eine Zeit, die viel Zerwürfnis kannte und doch auch sehr viele Entwicklungen. Größere Entwicklung, tiefere Abgründe. Was stellt man dagegen: den Willen oder den Zweifel? – Dichter suchen bis heute auf diese Frage eine Antwort.

“Früh erreicht uns der Aufruf, aber er bleibt

unverständlich und erst langsam stellt sich heraus, wie

gehorsam wir waren.”

 

“Was trennt, das zerfällt. Und dennoch ist mein Schrei

>>nein, nein,<<, noch nicht verhallt, obwohl er im Winde

verbrannte.

Nur das, was nicht trennt, zerfällt nicht. Alles andere ist

jenseits der Dauer.”

Gewissheiten hinter den Fragen – wie oben bereits angesprochen, war Milosz ein Suchender, ein Dichter, der sich selbst nicht als Teil des Jahrhunderts sehen, sondern das Menschliche in sich bewahren wollte und auch in seiner Poesie. Deswegen das “nein, nein” und die vielen tausend Wahrheiten und kleinen Wirklichkeiten, die man, über sein Werk verstreut, einzelnen Abschnitten entnehmen kann –  ewige Wirklichkeiten, Wahrheiten, im Bruchteil einer Sekunde geschehen, da man sie vollends wahrnimmt und spürt, bis sie vergehen – was sind diese Abschnitte anderes als das Leben?

Auf jeden Fall sind es solche Momente, Schweife, für die man in Milosz Lyrik immer wieder dankbar ist; denn sie sind jenseits von Rhetorik oder Beweis. Es sind Einsichten, einfach beeindruckend und bemerkenswert, in ihrer feinen, inneren Ausrichtung.

“Was auch immer damals in das verriegelte Haus der fünf

Sinne gelangte, ist im Brokat des Stils erstarrt.

Wer, Hohes Gericht, kennt nicht solche Einzelfälle.”

 

“In dem einen gemeinsamen menschlichen Traum

wohnen pelzige Tiere.”

 

“Bin ich hier, in der Hoffnung, man könne neu beginnen

und das eigene Leben heilen, wenn man fest daran denkt,

was man erfahren hat.”

Die Hoffnung ist, wie wir wissen, in Wahrheit eine launische Kraft (wobei sie, wie Borges klug bemerkte, eigentlich nicht uns enttäuscht, sondern wir stets sie). In der Poesie ist sie im besten Falle eine Ausdrucksform/-variante der Sehnsucht, in welcher sie eigentlich nur als Abglanz enthalten ist; doch es ist dieser Glanz der einem Gedicht eine besondere, kommunikative Form von Schönheit verleihen kann.

“Derweil ich in Gedanken weiter Fräulein Jadwiga rette,

Die kleine Bucklige, Bibliothekarin von Beruf,

Die im Bunker jenes Hauses ums Leben kam,

Das als sicher galt, doch ist es eingestürzt

Und niemand konnte durch die Mauerplatten dringen,

Obwohl man viele Tage Klopfen hörte, Stimmen.

Ein Name also, verloren für Jahrhunderte, für immer;

Ihre letzten Stunden bleiben unbekannt

[…]

Der wahre Feind des Menschen heißt Verallgemeinerung.

Der wahre Feind des Menschen, die sogenannte Geschichte,

wirbt und erschreckt mit ihrem Plural.”

Wie weit ist dann der Weg von diesem Zitat zu jenem:

“Dazu bin ich berufen:

Die Dinge zu preisen, weil es sie gibt.”

Oder ist er vielleicht die Entfernung zwischen diesen Abschnitten gar nicht so weit? Ich denke nicht. Und ich denke weiterhin, dass jener Aspekt, jene Idee, die diese beide Abschnitte trotz ihrer Unterschiede verbindet, könnte sie anders als durch solche Verse ausgedrückt werden, das wäre, worum es in Milosz Werk geht.

“Es gibt derart Beharrliche; gib ihnen ein paar Steine

Und essbare Wurzeln, und sie werden die Welt erbauen.” 

Inhalt:

Dieser Band enthält Gedichte aus allen Perioden von Milosz Schaffen, sogar einige der letzten. Angenehmerweise wurde ebenfalls keine Botschaft oder Richtung bevorzugt und der Band liest sich wie ein gut ausgesuchtes “Best of”, mit vielen Anliegen und Ideen, die in Milosz Werk als Ideen präsent sind. Das Nachwort tut, wie bereits gesagt, sein Übriges. Ein paar Anmerkungen wären schön gewesen, aber sie fehlen auch nicht wirklich.

Am Ende jeder Rezension kommen mir Zweifel, ob ich alles gesagt habe. Habe ich es richtig gesagt? Ich glaube, dieser Zustand lässt sich ein bisschen mit dem Lesen und Schreiben von Gedichten vergleichen. Ist denn jemals alles gesagt? Vielleicht das, was man sagen konnte. Vielleicht reicht das.

“Was bleibt vom Leben? Nur Licht,

Vor dem die Augen blinzeln an Sonnen-

Tagen. Man sagt: so ist es,

Und keine Fähigkeit, keine Gabe

Reicht hinaus über das, was ist.”

Link zum Buch