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Über das System “Deutschland GmbS”


Gegenwartsbewältigung

„Der Hang zur Realitätsflucht hat in Deutschland lange vor den Nationalsozialist*innen begonnen, und mit ihrer Niederlage verschwand er nicht. Vielmehr profitierte die Nazi-Propaganda von einer tiefsitzenden Bereitschaft, lieber das zu glauben, was man sich wünscht, als das, was vor den eigenen Augen geschieht. Diese Form von politischem Irrationalismus scheint auch heute aktuell zu sein, was sich auch an Begriffen wie Heimat oder Leitkultur zeigt. Statt die Realität der Bedrohung von rechts anzuerkennen, antwortet man mit dem Verweis auf eine idealisierte deutsche Vergangenheit.“

Realitätsfluchten, das wäre ein weiterer guter und angemessener Titel gewesen für dieses Buch. Natürlich nicht, weil der Autor darin aus der Realität flüchtet, sondern weil er eine umfassende Realitätsflucht beschreibt – mit Begriffen, in Ideen und leider auch mit/in politischen Konzepten. Die Menschheit steht in unserer Zeit vor vielfältigen, weltumspannenden Herausforderungen, unter denen der Klimawandel und die Schaffung menschenwürdiger und gerechter Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme nur die größten und wichtigsten sind; jüngst gesellte sich akut noch eine Pandemie hinzu.

Diese unterscheidet sich jedoch von den anderen Herausforderungen dadurch, dass sie umfassend angegangen wurde – wohl leider, weil sie alle Menschen betrifft, also vor Wohlstand und Privilegien nicht haltmacht (wenn auch die Chancen sicher größer sind, eine Infektion zu überleben, wenn man reich und privilegiert ist). Wo sind die umfassenden, konsequenten Maßnahmen gegen den Klimawandel? Wo waren die umfassenden, konsequenten Maßnahmen nach der Aufdeckungen der Morde des NSU? Nach den Anschlägen von Halle und Hanau?

Sie erschöpften sich zumeist in Versprechungen und Beteuerungen; man flüchtete sich aus der Realität in die weihevolle Bequemlichkeit von Betroffenheit und den Bekenntnissen, dass derlei keinen Platz in diesem Land habe, etc. Dass zumindest letzteres nicht stimmt, weist Max Czollek in seinem neuen Buch „Gegenwartsbewältigung“ auf eindrucksvolle Art und Weise, umfassend, nach.

Klar ist/ergibt sich aus diesem Buch: Wir leben nicht in einer Deutschland GmbH, sondern in einer Gemeinschaft mit beschränkter Solidarität (GmbS). In dieser Gemeinschaft gibt es (angeblich) eine Leitkultur, von der keine*r eine Ahnung hat, worin genau sie bestehen soll (also flüchtet man sich in Sturkopfgeburten wie etwa die „christlich-jüdische Tradition des Abendlandes“, eine Wendung, zu deren Dekonstruktion Czollek kaum drei, vier Seiten benötigt und der er später noch eine jüdisch-muslimische Leitkultur entgegenstellt, die tatsächlich mehr Substanz hat/haben könnte), in die aber alle Fremdkörper integriert werden müssen.

Das ist unumgänglich, den sonst geht unverzüglich die Heimat verloren – nicht, weil schon wieder ein Feld zubetoniert wird oder die ansteigenden Temperaturen Flora und Fauna zu schaffen machen, sondern durch ein paar Leute, die anders aussehen als man selbst (oder, anders gesagt: die ihrem Aussehen nach zu einer Gruppe gehören könnten, zu der einem/r Vorurteile/Bedrohungsszenarien einfallen) – ich fühle mich, angesichts dieser Absurdität, an eine Wendung aus den Asterix und Obelix-Comics erinnert: „Ich hab ja nichts gegen Fremde, aber diese Fremden sind nicht von hier.“

„Als Politiker*in des 21. Jahrhunderts spricht man nicht mehr vom deutschen Volk, sondern von Heimat – und zwar von CDU über SPD bis zu den Grünen. Das wird mit einer so kuhäugigen Naivität vertreten, als handelte es sich beim Heimatbegriff gar nicht um ein tradiertes politisches Konzept, sondern um die Erinnerung an eine irreale, mit dem Weichzeichner einer Sissi-Verfilmung behandelte Kindheit bei irgendeiner Klappermühle am rauschenden Bach. […] In seinem eingangs zitierten Essay »Der ewige Faschismus« identifizierte der italienische Semiotiker Umberto Eco 1995 Merkmale faschistischer Ordnungen. Gleich als Erstes verweist er auf einen »Kult der Überlieferung«, bei dem der fortwährende Bezug auf eine vermeintlich positive Vergangenheit die Gegenwart aufwertet. Ich denke, derartige Selbstsuggestion spielt auch für das Verständnis von Gesellschaft und Politik im postnationalsozialistischen Deutschland eine entscheidende Rolle. Die aktuelle Idealisierung der deutschen Geschichte und Kultur ist hoffentlich kein Vorbote eines neuen Faschismus. Aber sie ist ein Zeichen dafür, dass ein Teil dieser Gesellschaft seinen eigenen emotionalen Bedürfnissen auf den Leim geht. […] Konzepte werden nicht dadurch gut, dass sie sich gut anfühlen. Im Gegenteil verdeckt das Angenehme häufig die Gefahren, die es gesellschaftlich produziert. […] Die Immunisierung durch die Erinnerungskultur ist die Voraussetzung für ein nostalgisches Denken, das in der Gegenwart realisieren möchte, was in der Vergangenheit nie existiert hat.“

Czollek beschreibt und dekonstruiert die Ideen dieser Gemeinschaft mit beschränkter Solidarität, ihre fatalen Leitgedanken, Illusionen, Konstruktionen und deren Folgen für das Leben und Wirken von Minderheiten – und stellt dem Ganzen die Konzepte und Wirklichkeiten post-migrantischen, queeren, jüdischen, afrodeutschen und sonstigen gegenwartsbewältigenden Denkens und Handelns gegenüber.

Ich kann hier leider nicht auf alle Aspekte und Ideen, die Czollek ausführt, eingehen und empfehle eh, wenn Sie bereits interessiert sein sollten, das Lesen dieser Rezension sofort einzustellen und sich das Buch zuzulegen.

Als besonders gelungen möchte ich dennoch die Dekonstruktion des Begriffs „muslimisch“ hervorheben, in der Czollek die Geschichte eines ganzen Paradigmenwechsels eingefangen hat. Mir hat dieser Begriff noch nie ganz eingeleuchtet, vor allem weil er einfach von Anfang an nach Generalverdacht und eben nicht nach einem Begriff klang, der EINEN gemeinsamen Nenner von einer sonst sehr heterogenen Gruppe von Menschen beschreibt; und ich will ja schließlich auch nicht pauschal verdächtigt werden für alles, was weiße, in westlichen Industrieländern geborene Männer je oder auch nur in den letzten 30 Jahren getan haben (*schauder*). Mit dieser Bemerkung in eigener Sache will ich mir keinesfalls auf die Schulter klopfen. Denn wie schon das vorherige Buch „Desintegration“, hat mich auch „Gegenwartsbewältigung“ mit einigen Dingen konfrontiert, die ich zwar nicht mitgetragen, aber dennoch toleriert/nicht auf dem Zettel/unterschätzt hatte.

Als letztes bleibt noch hervorzuheben, dass „Gegenwartsbewältigung“, nicht zuletzt, glänzend geschrieben ist: pointiert und bissig-sarkastisch wie ein Kabarettprogramm, informativ und auf den Punkt wie eine Nachrichtensendung, aber auch immer wieder im besten Sinne eigensinnig, was für mich die entscheidende Qualität ist, die ein Essay haben sollte. Czollek findet das richtige Maß an Zynismus, um seine Leser*innen wachzurütteln und das richtige Maß an Kampfgeist und Anschaulichkeit, um sie auch über den ersten Schrecken hinaus mit seinen Ideen in Kontakt zu bringen.

Diese Ideen könnten zu neuen Gesellschaftsentwürfen führen, wenn man sie als Chancen der Gegenwartsbewältigung erkennt. Ich wünsche es ihnen. Denn wir brauchen kein „Germany first“, wir brauchen eine Gesellschaft, deren Vielfalt geschützt und nicht zur Eingliederung verdammt wird. Mit diesem Wunsch soll nicht kaschiert werden, dass ein kleiner Teil der Migrant*innen Probleme macht (will heißen: Gesetze bricht oder überkommene Vorstellungen von Geschlechterrollen hat, etc.), aber wie Volker Pispers 20 Jahre nicht müde wurde zu betonen: „das weiß auch ein Großteil der Migrant*innen, dass ein kleiner Teil der Migrant*innen Probleme macht. Aber ein nicht gerade kleiner Teil der Nicht-Migrant*innen macht auch Probleme. Glauben Sie man kann die Neo-Naziglatzköpfe noch irgendwie in dieses Land »integrieren«?“

„Ich habe gezeigt, wie ein Übermaß an Anpassung an die deutsche Gesellschaft nicht nur zu einem höheren Maß an Teilhabe für Juden und Jüdinnen führte, sondern zugleich auch ihre Fähigkeit einschränkte, der staatlichen Verfolgung zu widerstehen. Daraus schließe ich […], dass das Fortbestehen der Differenz die Grundlage ist für die Wehrhaftigkeit der Demokratie, die Arten und Weisen also, in denen viele Teile der Zivilgesellschaft unterschiedlich bleiben. […] Obwohl die Menschen und Bewegungen die Basis der wehrhaften Demokratie bilden, behaupten Vertreter*innen eines Denkens der Leitkultur und Integration weiterhin, die größte Bedrohung der deutschen Gesellschaft gehe von ihrer Vielfalt aus. Das zeugt von einer völligen Verkennung der Gegenwart.“

 

Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!