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Zu “Muldental” von Daniela Krien


Muldental Erst letztens habe ich mit „Als ich mit Hitlers Schnapskirschen aß“ von Maja Pränkels einen Roman gelesen, der sich mit der Wende- und Nachwendezeit in einem ostdeutschen Dorf auseinandersetzt, mit besonderem Fokus auf die neonazistischen Auswüchse. Auch Daniela Kriens Geschichten sind oft bevölkert von Menschen der Nachwendegeneration – und nicht selten von Menschen, die einem „abgehängten“ Teil der Gesellschaft angehören.

Zwar gibt es auch wehrhafte Momente in den Erzählungen, doch der Fokus liegt auf dem Ertragen und Erdulden, dem Fertigwerden mit den Umständen. Alleinerziehende Mütter, überbeanspruchte Ehefrauen, perspektivlose Angestellte – um sie, um ihre vernarbten Sehnsüchte, ihre Wünsche nach einer neuen Chance, nach besseren Bedingungen, geht es.

Viele Geschichten aus „Muldental“ scheinen dabei direkt oder indirekt darauf abzuzielen, dass eine möglichst breite Anzahl von Menschen mit ihren Protagonist*innen und Schicksalen identifizieren kann. Was dabei auf dem Einband als „Schönheit und Klarheit von Kriens Sprache“ gepriesen wird (Maren Keller, Der Spiegel), erscheint mir eher wie eine Nüchternheit, die die Ernüchterung, das permanente Arrangieren und die Trostlosigkeit im Dasein der Protagonist*innen herausstreicht – durchaus ein probates Stilmittel.

Manchmal wirkt gerade dieses Bemühen um das Übereinstimmen von Ton und Stimmung enervierend, was wohl auch beabsichtigt ist und dazu beiträgt, dass die Geschichten unter die Haut gehen. Auch die eingefahrenen Vorstellungen, die in den Geschichten vorherrschen, sind oft (zumindest für einen Vertreter meiner Generation) schmerzlich, aber folgerichtig. In der Welten, die diese Protagonist*innen bewohnen, kann man schwer alte Rollenbilder über den Haufen werfen oder weitergehende Moralvorstellungen entwickeln – schließlich müssen Kinder versorgt und der Alltag will bewältigt werden. Das gibt den Geschichten dann und wann einen etwas biederen Anstrich und man möchte manche Protagonist*innen anschreien: verhaltet euch nicht so gewöhnlich, so erwartbar!

Aber gerade das ist das Schmerzliche an diesen Texten, dass sie die Ausweglosigkeit, die Macht der Umstände bis in ihre Sprache, bis in die Gewöhnlichkeit ihrer Figuren hinein tragen. Insofern widerspreche ich auch dem offiziellen Klappentext, der mir das Buch letztlich als feelgood-Lektüre verkaufen will. In diesen Geschichten geht es um die Schattenseiten des wiedervereinigten Deutschlands, das eben beileibe kein Paradies ist, sondern sowohl Altlasten als auch neue Probleme in sich trägt, unter denen ein nicht geringer Teil der Bevölkerung leidet – ein Teil, der noch immer zu wenig repräsentiert ist, in der Politik sowieso und in der Literatur schon auch. Hier leistet Daniela Krien durchaus Abhilfe.

Zu “Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß” von Maja Präkels


Als ich mit Hitler „»Mimi, nimm’s nich so schwer. Für die kleenen Leute hat sich noch nie wat zum Bessern jewendet. Biste unten, bleibste unten.«
»Was hat das denn mit den Nazis zu tun?«
»Na allet!«“

Ich war sehr gespannt auf Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, wurde mir das Buch doch als „der Roman zur Wende, wie sie wirklich war“, angepriesen. In dieser Hinsicht wurde ich auch nicht enttäuscht und es gibt sicher wenige Bücher, die so eindringlich den Bruch in der jüngsten deutschen Geschichte beschreiben und aufzeigen, auf welche Arten und Weisen dieser Bruch nicht einfach nur ein historischer Fixpunkt war, sondern auch ein (Um)Bruch in den Biografien unzähliger Menschen.

Wie Präkels (geb. 1974) ist auch ihre Protagonistin im Teenageralter, als die Mauer fällt und kurze Zeit später die Wiedervereinigung über die Bühne geht, die in ihrer Heimatstadt, genannt die Havelstadt, vor allem zu Arbeits- und Perspektivlosigkeit führt – und in weiterer Folge zu Banden von Schlägern, die durch die Ortschaften ziehen und jagt auf Andersgesinnte und Fremde machen, mit Drogen dealen und bei denen sich schnell die Ideen der Neonazis festsetzen.

Während die Familie der Protagonistin Mimi den um sich greifenden neuen Wahn nicht wahrhaben will, vor allem aber einfach mit den eigenen enttäuschten Hoffnungen klarkommen muss (die Mutter war stolze DDR-Bürgerin, der Vater steht kurz vor dem Organversagen wegen seiner Trinkerei), flüchtet sie sich zunächst in die Gegenkultur der Punks und Außenseiter*innen, später auch nach Berlin und anderswohin.

Doch immer wieder kehrt sie zurück in die Havelstadt, deren Schicksale sie nicht loslassen, obgleich ihr immer wieder das Grauen in die Glieder fährt, wenn sie dort ist – schließlich ist sie hier Zeugin einiger entsetzlicher Verbrechen geworden, hat viele persönliche Abstürze und Rückschläge hinnehmen müssen.

Vor allem kommt sie nicht los von der Angst vor/den Gedanken an den Nachbarsjungen, mit dem sie einst lose befreundet war und der nach der Wende zu einer Art Anführer der Skinheads aufstieg, sogar den Spitznamen „Hitler“ erhielt. In diesem Konflikt, aber auch in der ganzen Geschichte, spiegeln sich letztlich einige zentrale Dilemmata einer ganzen Generation von (jungen) Ostdeutschen wider.

Trotz dieser beeindruckenden Darstellung wirkt das Buch mehr wie eine Autobiographie und nicht wie ein Roman. Viele Figuren bleiben Randerscheinungen, viele Handlungselemente werden nicht zu Ende gebracht, was aber nicht an einer mangelhaften Darstellung liegt, sondern einfach daran, dass die Geschichte wie etwas Nacherzähltes und nicht wie etwas Fiktives aufgeführt wird, was gut ist für die Authentizität ist, aber, wie gesagt, wenig von einem Roman hat.

Das nimmt dem Buch zwar nichts, aber diese falsche Etikettierung hätte man trotzdem vermeiden können. Es ist klar: am besten verkaufen sich die Bücher, wo Roman draufsteht, aber „autobiografische Erzählung“ oder „Schilderungen einer DDR-Jugend“ oder etwas in der Art wäre eine ehrlichere Bezeichnung gewesen. Davon abgesehen gibt es an dem Buch selbst wenig zu bemängeln, es ist sprachlich stark und es wäre gut, wenn viele es läsen, bietet es doch neben einer spannenden Geschichte wichtige Einblicke in die Beschaffenheit der ostdeutschen Realität nach der Wende und damit in die Geschichte einer heimlichen Katastrophe, die bis heute andauert und in den letzten Jahren einige weitere hässliche Erscheinungen, Entdeckungen und Entwicklungen nach sich zog.

Zu “Meine deutsche Literatur seit 1945” von Marcel Reich-Ranicki


Meine deutsche Literatur nach Er war nicht nur einer der einflussreichsten, sondern auch einer der strengsten und launigsten Kritiker der BRD, das wird in diesen gesammelten Essays & Rezensionen zur deutschen Nachkriegsliteratur deutlich. Neben exzellenten Darlegungen der Stärken von Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Wolfdietrich Schnurre, Thomas Bernhard u.a., finden sich hier auch einige Beispiele für die überspitze Zunge des Maestros M.R.R. – nicht nur verreißt er ziemlich zwanglos Günter Grass Debüt “Die Blechtrommel” und mäkelt an Uwe Johnson herum, auch manch andere Bemerkung, die durchaus kühn gewesen sein mag, wirkt heute etwas rückständig, etwas spitzfindig.

Man muss nicht Franz Josef Czernins “Marcel Reich-Ranicki, eine Kritik” gelesen haben, um den Doyen der Literaturkritik nach 1945 kritisch zu sehen. Er war ein Meister der Selbstinszenierung und in mancherlei Hinsicht schlicht verbohrt. Dennoch war auch ein sehr bedeutender und aufmerksamer Zeitzeuge und ein in weiten Teilen gewissenhafter Essayist und Kritiker, der sich vielen (nicht selten heute sonst gänzlich vergessenen) Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur widmete und denen hier in diesem Band so noch ein letztes Echo verschafft wird.

Was bleiben wird von der Literatur zwischen 1945-2000, das wird sich in mancherlei Hinsicht erst noch zeigen. Ebenso wird sich zeigen, ob Reich-Ranickis Plädoyers den Widerhall finden, den seine teilweise unnötigen Verrisse fanden, die er spätestens in manchen Momenten im Literarischen Quartett und bei Grass’ “Ein weites Feld” zu genüsslich und spektakulär inszenierte. Er bleibt eine umstrittene Figur – und strittige Dokumente, mit viel Glanz und Genuss, mit viel Tadel und Servilität, Ermunterung und Evokation, sind auch diese gesammelten Schriften, von denen auch beim strengen Aussieben einige Goldkörnchen zurückbleiben.

Zu “Dissidentisches Denken” von Marko Martin


Dissidentisches 30 Jahre nach dem so genannten „Mauerfall“ muss in Europa eine erschreckende Bilanz gezogen werden: Nicht nur gibt es wieder verblendete Nationalphantasien und restaurative Gesellschaftsentwürfe, die Idee der Epochenwende, des Anbruchs eines befreiten Zeitalters, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Während in Ländern wie China eifrig eine Politik des unbedingten gemeinschaftlichen Ganzen (mithilfe von digitalen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen) betrieben wird, werden in Staaten wie Russland und den USA Entitäten wie die Wahrheit von den Regimen gepachtet und umgedeutet. Die Institutionen der Demokratie müssen derweil in vielen Ländern semi-demokratischen, in vielerlei Hinsicht schon plutokratischen oder autokratischen Machtverhältnissen weichen.

Diese Entwicklungen ähneln – so reißerisch und vorschnell diese Überlegung erscheinen mag und obgleich sich Geschichte nicht 1zu1 wiederholt – in einigen Punkten den Entwicklungen, denen in der letzten (und ersten) großen Ära demokratisch geführter Staaten (zwischen den Weltkriegen) viele Länder zum Opfer fielen (manchmal ohne echte demokratische Zwischenphase). Neben den faschistisch-autokratischen Staaten bildeten sich damals auch viele pseudosozialistisch-autokratische Staaten, allen voran die Sowjetunion, der viele andere dieser psa Staaten (zwangsweise) als Satellitenstaaten dienten oder zumindest in mancherlei Hinsicht auf sie angewiesen waren.

In allen Gesellschaften, die nicht demokratisch (oder anarchistisch) organisiert und/oder regiert werden, sind alle von den derzeitigen Regierungserlassen abweichenden (und verlautbarten) Meinungen unerwünscht, oftmals strafbar und sie werden unterdrückt/unterbunden. Die Träger*innen solcher Meinungen (und aus ihnen resultierenden Handlungen/Weigerungen) nennt man Dissident*innen. Ihre Spur zieht sich durch die Geschichte (auf gewisse Weise waren auch Figuren wie Sokrates oder Jesus, Johanna von Orleans oder Martin Luther Dissident*innen), viele der wichtigsten neueren Zeugnisse ihres Denkens und ihrer Position stammen aber aus den Ländern, die bis 1989 zum „Warschauer Pakt“ gehörten (oder ein faschistisches Regime hatten).

Marko Martin hat sich mit ihnen auseinandergesetzt und ein großes Buch über eine Epoche geschrieben, deren widerständige Kräfte, dissidentische Erlebnisse, Erinnerungen und geistigen Potenziale allzu schnell ad acta gelegt wurden, als die Systeme und Welten, gegen die sie gerichtet oder in denen sie entstanden waren, endeten und (vermeintlich) untergingen. Aus den Schicksalen der Autor*innen und Intellektuellen, mit denen Martin gesprochen hat oder die er, in manchen Fällen, porträtiert, ergibt sich das Muster und der Stempel einer Zeit, der auch unserer Zeit erneut aufgedrückt werden könnte, wenn wir nicht aufpassen.

Um einen klarere Blick auf die Vergangenheit zu bekommen, aber auch für eine Arbeit am Verständnis der Gegenwart und der (leider zeitlosen) Unterdrückung, eignet sich dieses Buch hervorragend. Es ist eine große Leistung und ein unverzichtbares Bildungsgut, ein Kaleidoskop verschiedenster Lebensläufe, sich kreuzend auf den Weltmeeren des Exils und des Widerstandes.

Offener Brief an Michael Kretschmer


Lieber Herr Kretschmer,

mit großem Interesse habe ich gestern die Diskussion in der Fernsehsendung Anne Will zum CO²-Gesetz verfolgt. Ich stimme Ihnen zu, dass es Kräfte braucht, die mit Vernunft und Augenmaß an den Problemen unserer Zeit arbeiten.

Dennoch möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass ich zutiefst verstört bin wegen der Art, mit der Sie Kevin Kühnert vorwarfen, er habe bei seinen Vorschlägen zur neuen Gesellschaft eine neue DDR (oder gleich Nordkorea) im Sinn gehabt. Sozialismus, das können sie überall nachschlagen, meint nicht unbedingt den historischen Kommunismus, der mehr totalitär/faschistisch als wahrhaft sozialistisch war und viel mehr plutokratische als kommunistische Elemente beinhaltete. Statt auf seine Argumente einzugehen, haben Sie einfach den Begriff, wie Sie ihn verstehen, gegen Ihn verwendet. Das nennt man Unterstellten und nicht Argumentieren.

Es ist mir ganz wichtig, dass Sie nicht glauben, ich wolle Ihre Wahrnehmung der DDR in Zweifel ziehen, ich stimme nur Ihrer Definition von Sozialismus nicht zu und glaube, dass Sie (um die Klage gegen Kühnert umzudrehen) mit solch Klitterungen von Begriffen das Klima anheizen und den vernünftigen Diskurs über Gesellschaftsmodelle eklatant schwächen – und tun damit genau das, was Sie ihm vorwerfen.

Zudem fürchte ich, dass viele Menschen den Eindruck bekommen werden, Sie glaubten wirklich, dass wir bereits in dem besten aller Systeme lebten. Sie erwähnten gestern “Die Weber” von Gerhart Hauptmann, ein grandioses Stück. Wie aber ein Bekannter von mir richtig erläuterte (Dank an dieser Stelle an Jan Kuhlbrodt, den ich hier zitiere): Die Weberei in dem Stück war verlagstechnisch organisiert, die Weber waren ähnlich wie selbstständige Paketzusteller heute, gewissermaßen Subunternehmer. Und Subunternehmer*innen werden nach wie vor unterbezahlt (und damit: ausgebeutet), das ist ein Fakt.

Wir leben nach wie vor im Kapitalismus, noch ist so etwas wie eine soziale Markwirtschaft Utopie, auch wenn der Begriff noch so oft für das verwendet wird, was derzeit als Wirtschaftsform in Deutschland etabliert ist. Anders kann ich mir nicht erklären, warum Menschen von ihrem Einkommen allenfalls überleben, nicht aber am Gemeinschaftsleben teilhaben können (#sozial1). Oder warum es Menschen mit sehr viel Geld und Menschen mit sehr wenig Geld gibt, obwohl beide im gleichen Maß zum Erhalt unserer Gesellschaft beitragen, nur an verschiedenen Stellen (#sozial2), etc.

Ein Begriff muss auch einlösen, was er verspricht, sonst ist er unzulässig.

Lieber Herr Kretschmer, ich mag nur ein Wähler sein, aber ich bin einer, der Ihnen sagt: ich halte Sie nicht für einen Populisten, aber gestern, in dieser Sendung, haben Sie sich streckenweise wie ein Populist und nicht wie ein vernünftiger Politiker geäußert. Ich hoffe sehr, dass meine Argumentation Ihnen an einigen Stellen einleuchten wird. Wenn Sie, wie Sie sagen, kleine Kinder haben, die in einer guten Welt leben sollen, dann, bitte, legen Sie doch nicht über jedes Denken Ihr Schema, sondern Denken Sie flexibel – dafür werden Sie als Politiker schließlich u.a. bezahlt.

Mit hochachtungsvollen Grüßen
Timo Brandt

Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”


Schreiben heißt sein Herz waschen Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.

In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.

Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).

Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.

Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.

Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!

Klare Kosmen – zu Ralph Grünebergers Gedichtband “Die Saison ist eröffnet”


„Im Hotel Wolfinger esse ich
Ein Mohnweckerl mit Wurst
Und lese in der Zeitung
Dass vor genau 92 Jahren
Ein Versicherungsangestellter
In Berlin-Steglitz einen Paß vorzeigte
Den in einigen Stunden das
New Yorker Aktionshaus Bonhams
feilbietet
Der Pass ist ausgestellt auf
Dr. F. Kafka František“

Die meisten Gedichtbände betritt man und ist sofort umringt von Worten, Bildern, Vergleichen. Bei Ralph Grüneberger ist das nicht so, obgleich man auch hier sofort ins Geschehen gezogen wird. Aber in seinen Gedichten kredenzt einem die Sprache nicht unentwegt dichte Ahnungen und zugeschnittene Unergründlichkeiten, sie zieht vielmehr ein offenes, anschauliches Panorama auf.

Anschaulichkeit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Wort, denn es könnte sonst fälschlicherweise der Verdacht aufkommen, man habe es hier mit prosaischen Dokumenten zu tun, die nur wegen der Zeilenumbrüche Gedichte genannt werden. Diese Anschaulichkeit aber macht sie auf subtile Weise poetisch. Sie zeigt sich in Details, in kleinen eleganten Wendungen und Verdichtungen, die manchmal plötzlich aus einer prosaähnlichen Struktur aufleuchten. So schreibt Grüneberger über einen katalanischen Arzt in Hohenstein-Ernstthal:

„Er nahm die Stelle für die sich
A priori kein in Sachsen
Approbierter Jungarzt fand
Und verzichtete auf den katalanischen
Hasen
Und südliche Sonnenstunden.

Gekommen aus dem Lande
des Ritters
Von der traurigen Gestalt
Empfängt er fortan
Die traurigen Gestalten Kranker
Aus dem Karl-May-Städtchen
In seiner Praxis.“

Die Gedichte sind Dokumentationen, Betrachtungen, Charakterstudien, aber eben doch mehr; sie verschmelzen die dokumentarische Tiefe mit der poetischen Frei- und Feinheit und dem poetischen Witz; legen über das Berichten fein eine Schicht lyrischer Finesse.

Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser Dichtung: Lebendigkeit. Die Lebendigkeit und Nähe der dargestellten Landschaften, Lokalkolorite, Personen, Atmosphären. Egal, ob wir uns am Schauplatz eines Ereignisses der deutschen Geschichte oder im Lebenslauf eines Geistlichen bewegen, in den Erinnerungen Grünebergers oder auf einem Friedhof: Der Autor schafft es, dass wir ganz nah am Kern um das Themas kreisen. Mit Ruhe und Klarheit und auch Bissigkeit werden die Bestandteile sorgsam ins Gedicht geknetet, gut instrumentiert.

„Die Fackelei der Nazis im Mai ‘ 33
Man habe die undeutschen Schriften
dem Feuer übergeben, übergeben
Doch lässt sich die Wahrheit
Nicht in Rauch auflösen.

Lieber tapfer zu leiden und zu nöten
Hieß die Parole auf dem Marburger
Kämpfrasen. Wer ahnte, dass
Am Ende Hölderlins Hyperion
Im Tornister die Kugel
Nicht würde abhalten können.“

Historie ist immer mit dabei, oft im Vordergrund und nicht selten, groß, im Hintergrund. Grüneberger findet oft eine gute Balance zwischen zur-Schau-Stellen und Kommentieren; etwas gelingt ihm vielleicht sogar besser als seinem Vorbild, dem späten Bertolt Brecht: der nicht zu starke, unpersönlichere Auftritt, sodass die Lesenden gefesselt bleiben und sich nicht vorkommen, als läsen sie eine Lektion.

Auch ein wichtiges Motiv in dem Band sind Widmungen. Widmungen über Widmungen. Und in diesem Bereich gibt es auch viele Gedichte, die sich mit Erinnerungen an Weggefährten und Vorbilder auseinandersetzen. So zum Beispiel ein Gedicht in Gedenken an Karl Mickel, das den Aufenthalt in einer Schreibvilla in Petzow umreißt und in dem man auch kurz in Grünebergers eigene Gemütswelt blicken kann:

„Dass auch junge Schreiber Kreise ziehen können
Ließ uns der See wissen, nach dem Sprung vom Steg
Der See, der unser Spiegelbild größer erscheinen ließ.“

Solche Momente sind rar, denn die Form der dokumentarischen Lyrik erlaubt nicht gerade viel seelisches Einbringen des Autors (auch wenn er stets präsent ist), zumindest tritt ein solches selten klar hervor. Dafür sind die Gedichte offener, leichter zugänglich. Wie der Titel bereits sagt: Die Saison ist eröffnet, treten sie ein. Und so tritt man ein in deutsche Erinnerungslandschaften, in kräftige Zeichnungen mit feinen Zügen.

„Nicht miterleben musste der spätere Herr

Zu Gotha, Groitzsch & Cossen, dem auch Pauline
Untertan war, die Sprengung des Wehrturms
Der Großburg Coucy. Sein Totenstein lässt offen, ob er
19-17 vom Pferde oder auf dem Feld gefallen ist.“

Man könnte meinen, dass aus mir die Begeisterung spricht und man sieht mich einigermaßen überrascht, wenn ich jetzt zugebe: ja, so ist es. Da ist irgendetwas in dieser Lyrik, was ich, noch über die genannten Qualitäten hinaus, schätze; vielleicht ist es das Engagement, vielleicht eine Vorliebe für die Anschaulichkeit, vielleicht das Beglücktsein über eine Form von Vermittlungsästhetik, die mir im Gedicht so noch nie begegnet ist.

In jedem Fall empfehle ich diesen Band zur Lektüre. Es gibt keine sprachlichen Höhenflüge darin, vielmehr bleibt Grüneberger mit seiner Sprache bei seinem Material – und das ist es wahrscheinlich, was ich so schätze: die Nähe der Sprache zum Objekt, das Dranbleiben, der Versuch, einem Objekt, einer Landschaft, einem Moment sprachlich gerecht zu werden, ohne sie mit Sprache zu übervorteilen oder zu überstrahlen. Diese Form von Erdung weist dennoch über sich hinaus, vermag viel zu zeigen, zu offenbaren; führt alles in seiner Zwangsläufigkeit und Offenheit vor.

„Unterm Kastanienbaum
Die Fruchtwaffen
Grüne Morgensterne.

Unter der Schale
Mit der Farbe alter Möbel
Schokolade oder der
Iris der Liebsten“

Zu dem wichtigen Buch “Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie” von Hajo Funke und Walid Nakschbandi


“Viel unmittelbarer und weitreichender als anderswo ist die Entwicklung der Demokratie und ihrer Institutionen in West-Deutschland (und Österreich) immer auch abhängig von der Auseinandersetzung mit einer Geschichte, von der sich die Republik absetzte. Die Auseinandersetzung von Gesellschaft und Politik mit Rechtsextremismus und Antisemitismus ist in diesem Sinn auch ein Index für den Grad der Etablierung der demokratischen Institutionen und der demokratischen Kultur selbst.”

Der Klappentext von „Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie“ ist leicht irreführend, geht es doch in diesem Buch nicht um alle Probleme, mit denen die demokratisch organisierte gesellschaftliche Grundordnung in Deutschland derzeit zu kämpfen hat. Globalisierung, Finanzmarktwillkür und die damit verbundenen wirtschaftlich-sozialen Folgen werden nur am Rand gestreift (Für diese Themen empfehle ich eher „Kein Wohlstand für alle!?“ von Ulrich Schneider).

In diesem Buch geht es um die Bedrohung durch rechtextremistische und fremdenfeindliche Positionen, die in den Jahren der Geflüchteten-Krise neuen Aufwind bekommen haben und bereits seit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wie konnte das passieren? Diese Frage nimmt sich naiv und unbescholten aus, zumal die Geflüchteten-Krise und ihre Begleiterscheinungen oft als „Ursachen“ benannt werden, aber sie ist trotzdem folgerichtig. Denn wie können in einem Land, dessen jüngste Vergangenheit die Auswüchse und Folgen eines ungeheuerlichen Unrechtsregimes (oder zweier Unrechtsregime, was Ostdeutschland angeht) gesehen hat, in dem ähnliche Formen der Fremdenfeindlichkeit zu beispiellosen Gräueltaten geführt haben, die liberalen und toleranten Grundsätze so schnell zersetzt und offenkundig mit Füßen getreten werden?

“Für eine ganze Generation, die sogenannte Generation Golf, gab es nichts anderes als Helmut Kohl und eine zufriedene Bundesrepublik, die sich dann um Ostdeutschland zum wiedervereinigten Deutschland erweiterte. Man schien mit sich zufrieden und brauchte politisch nicht allzu wach sein. Man war sich seiner selbst bewusst. Große Konflikte schien es nicht mehr zu geben.”

Am Anfang – und das macht dieses Buch im Verlauf einer Nacherzählung über die Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft deutlich – stand das zähe Ringen einiger weniger, die sich im Deutschland der Adenauerzeit nicht mit einem Neuanfang begnügen, sondern die Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten und klar als Teil der deutschen Vergangenheit ausgestellt wissen wollten. Vielen Menschen in meiner Generation dürfte es gar nicht wirklich bewusst sein (und deswegen sollten auch sie dieses Buch lesen) wie lange es dauerte, bis die Gesellschaft und die mediale Öffentlichkeit zu einem offenen, deutlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorgedrungen waren. Erst 2005 (!) wurde z.B. in Berlin ein Denkmal für die 6 Millionen getöteten europäischen Juden errichtet.

Lange Jahre war die Diskussion in der Bundesrepublik umkämpft, das Thema wenig sensibilisiert. Wenn Paul Celan (dessen Eltern von den Nazis ermordet worden waren und der selbst in einem ihrer Arbeitslager nur knapp dem Tod entronnen war) sich auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1951 vom linken Schriftsteller Hans Werner Richter anhören musste, die Vortagsweise seines Gedichts „Die Todesfuge“ erinnere an die rhetorische Intonation eines Joseph Goebbels, zeigt das nur, dass selbst antifaschistisch, antikonservativ und antirestriktiv eingestellte Menschen die Tragweite der deutschen Vergangenheit vernachlässigten oder nicht verstanden. Als die jüdische Autorin Mascha Kaléko 1960 den Fontane-Preis der Akademie der Künste in Berlin ablehnte, weil das ehemalige SS-Mitgliedes Hans Egon Holthusen in der Jury saß, empfahl der Geschäftsführer der Akademie, Herbert von Buttlar, nachdem er Holthusens SS-Mitgliedschaft wegdiskutiert hatte, den Emigranten, wenn es ihnen hier nicht gefalle, doch einfach fortzubleiben. Noch in den 80er Jahren konnte Helmut Kohl nach Israel reisen und als nahezu einzigen Intellektuellen einen ziemlich dubiosen Journalisten wie Kurt Ziesel mit sich führen, ohne dass dies ungewöhnlich war für die Haltung der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber der Vergangenheit.

Der Kampf um das Anerkennen und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des dritten Reichs (und damit einhergehend: den Verbrechen der deutschen Bevölkerung, welche dieses Regime wählte und in großen Teilen stützte) währte lang und ist auch noch nicht abgeschlossen – auch das zeigt das Buch anhand einiger Beispiel aus neuster Zeit, wie etwa dem Film „Der Untergang“ (2004) oder dem Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013). Ein früher großer Rückschlag war hier sicherlich die Rede, die Martin Walser 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hielt, in der unter anderem von der „Auschwitz-Keule“ die Rede war und die Überwindung der deutschen Vergangenheit propagiert wurde.

“Die Bereitschaft zu solchen Aussagen kommt nicht von ungefähr. Autoren wie Walser […] bedienen Teile der deutschen Bevölkerung, und sie wollen ihre Motive nach einem Schlussstrich oder danach, die eigene Erfahrung als Opfer, sei es als Vertriebene, in Luftschutzkellern oder des nationalsozialistischen Systems selbst mehr zur Geltung gebracht sehen. Sie sehen sich als die unterschlagene Seite der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn diese Geschichte stets in den Familienromanen und erst recht in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum stand. […] Die Walser-Debatte repräsentierte den unwürdigen Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus vonseiten führender Kräfte in Politik und Wirtschaft”

Anhand solcher Beispiele und ihrer Einbettung zeigt das Buch die von Anfang an und bis heute herausgeforderte Demokratie Deutschland. Die Herausforderung ging anfangs vor allem von ihrer Vergangenheit aus, heute auch in großen Teilen von ihrer Zukunft. Denn wo liegt diese Zukunft?

“das Ausmaß von Politik- und Demokratieverdrossenheit sowie die Enttäuschung darüber, wie Demokratie funktioniert, ist schon länger dramatisch. Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass trotz des relativen Wohlehrgehens der Bundesrepublik Deutschland die Enttäuschungen in den letzten 25 Jahren nicht abgenommen, sondern sich zum Teil noch verstärkt haben.”

Lange Zeit über lag die Zukunft in einer Annäherung der deutschen Staaten, nach 1989 schien die Zukunft auf einmal gesichert und idyllisch. Doch gerade in dieser Zeit, den 90er Jahren, gab es wieder vermehrt fremdenfeindliche und rechtsextreme Gewalttaten. Das fehlende Eingeständnis, dass Deutschland bereits seit 20, 30 Jahren ein Einwanderungsland war und die Probleme bei der Eingliederung der ostdeutschen Gebiete, führten bei vielen perspektivlosen Menschen zu einer Suche nach Sündenböcken und nach alternativen Ideologien.

Von diesen ersten Erschütterungen aus führt ein direkter Weg in die heutige Zeit, zu den Bewegungen von Pegida und zu Parteien wie der AfD, die allerdings nicht so schnell und durchschlagend möglich gewesen wären ohne Thilo Sarrazin, der kurz nach dem Anfang der Finanzkrise eben jenen Topos vom Sündenbock ausnutzte, um armen- und migrantenfeindliche Thesen unter dem Deckmantel der zeitgeschichtlichen Kritik zu publizieren.

“Die Sarrazin-Antwort heißt: Es ist der Sündenbock, der Schuld ist. Nicht die Finanz- und Ökonomiepolitik. Und nur die Abschaffung des Sündenbocks hilft uns aus der Krise, nicht eine andere Krisenreaktionspolitik.”

Die neuen Sündenböcke sind die Muslime oder allgemein die eingewanderten Menschen, die uns angeblich auf der Tasche liegen und unsere Kultur zerstören wollen. Dass ausländisch stämmige Mitbürger*innen seit vielen Jahren mehr in die Sozialsysteme einzahlen als sie von dort beziehen, scheint die meisten Stammtische noch nicht erreicht zu haben, ebenso wenig wie die Studien, die nachweisen, dass viele nach Deutschland emigrierte Menschen sich Integrationsmaßnamen wünschen, die aber vielfach einfach nicht gewährleistet werden (und anfangs, in der Zeit der ersten Gastarbeiter*innen, überhaupt nicht gewährleistet wurden, stattdessen wurden diese Menschen wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt).

Der Umgang mit dem Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist ein weiteres zentrales Thema dieses Buches. Die Geschichte dieses Umgangs in den Jahren seit 9/11 wird kurz, aber anschaulich, beleuchtet. Die Verteufelung des Islam hat dabei an einigen Stellen Züge angenommen, die beschämend sind, wenn man weiß (und alle Leute sollten es doch wissen), dass gerade in Deutschland die Verteufelung einer Religionsgemeinschaft bereits einmal zu ungeheuren Verbrechen geführt hat. Und engstirnig und plump, vorurteilsbehaftet und destruktiv sind diese Verteufelungen in den meisten Fällen sowieso.

“Alle Probleme der islamischen Welt werden aus zeitlosen Vorschriften des Islam abgeleitet. Eine Verzerrung und Irreführung gleichermaßen.”

Die bundesdeutsche Demokratie ist herausgefordert und viele Menschen in diesem Land sind zurecht unzufrieden mit den demokratischen und gesellschaftlichen Missständen. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht gut leben, viele Menschen in diesem Land wurden von den Mechanismen der Wirtschaft abgehängt, es wird zu wenig in Bildung und Wohnungsbau investiert und zu wenig in puncto Integration- und Toleranzprogramme getan. Das alles sind Missstände, die es anzugehen gilt, aber stattdessen wählen Leute aus Frustration die AfD, die weder eine „kleine Leute“-Partei ist, noch irgendwie zur Verbesserung der bundesdeutschen Situation beitragen wird, wenn sie das einlösen wollen, was in ihrem Wahlprogramm steht. Weder die Sozialsysteme, noch ein Großteil der Bevölkerung würden von diesem Programm profitieren. Stattdessen würden liberale und soziale Errungenschaften stark darunter leiden. Die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ fasste die autoritäre Position der AfD einmal gut zusammen:

“Für die AFD enden die Freiheiten der Individuen dort, wo sie mit dem Willen einer angeblichen deutschen Volksmehrheit und ihrer Volkskultur kollidieren. Die Partei vertritt ein Politikverständnis, in dem die Mehrheit immer Recht hat und Minderheiten sich unterzuordnen haben.”

Das ist eine Gesellschaft, in der ich nicht leben will. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der die Mehrheit sich der Minderheit gegenüber verpflichtet fühlt. Der Wert einer Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten, mit ihren Bedürftigen, mit ihren Kindern umgeht. Und die Demokratie kann immer nur so stark sein wie die Gesellschaft. Ob die Gesellschaft die Herausforderungen, der sich unsere Demokratie gerade zu stellen hat, annimmt, ist daher entscheidend.

Man spürt, dass dann und wann eine unterschwellige Wut in dieses Buch einfließt, nicht was die Aussagen und Stellungnahmen angeht, aber in der Klarheit und der schnellen Reaktion auf eingebrachte Beispiele konservativer oder regressiver Argumentation kann man sie spüren. Diese Wut lässt das Buch hier und da vielleicht etwas zu perfekt sitzend wirken, weil wenig Raum für Ambivalenzen bleibt. Allerdings macht das Buch von Anfang an klar, dass es darin um die Darstellung einer Gefahr, ihrer Geschichte und ihrer Ausmaße, und nicht um eine erschöpfende, umfassende Analyse der derzeitigen Situation geht. „Deutschland – Die Herausgeforderte Demokratie“ ist eine Studie, die aufklärerisch wirken soll, die zeigen soll, wie wichtig es nach wie vor ist, die demokratische und tolerante Grundordnung zu unterstützen und zu verteidigen – sie ist eine Errungenschaft, die nicht selbstverständlich ist.

Das zu zeigen, knapp und eindringlich und mit einer Fülle an Beispielen, die anschaulich und klar sind, und vielen (aber nicht überhand nehmenden) Verweisen auf Studien, Originalzitate und andere Phänomene des Zeitgeistes, ist der Verdienst dieses Buches. Ein wichtiges Buch über die Vergangenheit und die Zukunft unserer Demokratie.