“Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die eben jenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne. […] Wenn die Zusammenbrüche von Demokratien in der Geschichte uns eines lehren, dann, dass extreme Polarisierung für Demokratien tödlich ist.”
Aus dem Vorwort des Buches
“So geht also die Freiheit zugrunde – mit donnerndem Applaus.”
Padmé Amidala, Star Wars Episode III
Wenn man popkulturelle Referenzen nicht scheut, dann könnte man die letzten 20 Jahre als palpatinische Periode bezeichnen. Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, Hugo Chávez und nicht zuletzt Donald Trump – dies nur die populärsten Beispiele für Staatschefs, die demokratisch gewählt wurden und danach begangen, die demokratischen Strukturen so zu schwächen oder zu verbiegen, dass sie ihren Machterhalt sichern und keine offene, pluralistische Demokratie mehr gewährleisten. Auch in Ländern, in denen noch keine Autokraten regieren, gibt es verstärkt autokratische Bewegungen. Noch ist die Welt nicht so düster wie das Titelblatt, aber wer wirklich in einer offenen Gesellschaft leben will, der hat es dieser Tage in vielen Ländern der Welt immer schwerer.
Von einer Krise der Demokratie zu reden ist also angebracht, aber letztlich steckte die Demokratie schon immer in der Krise – nur weil sie das fairste und vernünftigste, ja sogar beste politische System ist, heißt das nicht, dass sie auch das einfachste ist oder das am wenigsten anfällige. Ganz im Gegenteil. Demokratien sind komplex und stets bedroht. Schon kleinste Ungleichgewichte oder kurzfristige Veränderungen können sie aus der Bahn werfen. Und die Demokratie ist zwar oft gegen Angriffe von außen, aber meist sehr schlecht gegen Angriffe von innen gewappnet. Was einmal demokratisch legitimiert ist, kann die Demokratie an empfindlichen Stellen erreichen und ihr dort schaden.
“Wer nicht aus der Geschichte lernt, der ist gezwungen, sie zu wiederholen” – dieser Aphorismus könnte in fetten Lettern als Credo auf der ersten Seite dieses Buches stehen. Denn die Autoren unternehmen nicht nur eine Analyse der Gegenwart, die sich vor allem auf Trump und seine Gefahr für die amerikanische Rechtsstaatlichkeit konzentriert, sondern greifen viele anschauliche Beispiele aus der Historie auf, um zu zeigen, wie Demokratien in den letzten 100 Jahren “gestorben” sind, wie es dazu kommen konnte.
Dabei werden im Akkord Nägel auf dem Kopf getroffen. Zu sagen, dieses Buch sei schlicht gut, wäre eine Untertreibung und doch könnte man es eigentlich dabei belassen: es ist schlicht ein gutes Buch, im Schreibstil, in der Argumentation, in der Anschaulichkeit. Die Autoren argumentieren keinen Moment lang ideologisch, sondern stellen lediglich fest, führen an, belegen. Sie weisen undemokratisches Verhalten nicht nur in den faschistischen Regimen der 20er, 30er und 40er Jahre oder den heute von Autokraten regierten Staaten nach, sondern auch in den US-amerikanischen Südstaaten der 1880er und 1890er Jahre und an anderen, teilweise überraschenden Orten.
Das ganze Buch erarbeitet ein klares Spektrum antidemokratischer Instrumentarien und ermittelt viele alarmierende Beispiele für ihre Anwendung in unserer Zeit. Dabei ergeben sich (zumindest für mich) wie von selbst Parallelen zu anderen Erscheinungen, auch in der eigenen Demokratie.
So martialisch der Titel auch klingen mag – er ist gerechtfertigt. Demokratien können sterben und wer ihre drohende Anfälligkeit nicht bemerkt oder sich nicht dagegen wehrt, sie als krank oder als angeschlagen zu betrachten, der hilft durchaus dabei sie zu töten. Donald Trump kam an die Macht, obgleich er in vielerlei Hinsicht als problematische Figur bekannt war – viel zu selten wurde er als antidemokratisch wahrgenommen und von diesem Aspekt geht die eigentliche Gefahr bei ihm aus.
Wieder mal so ein Buch, das eigentlich jeder lesen sollte. Es werden wohl wieder nur die lesen, die eh schon ahnen, was auf uns zurollt. Vielleicht ist dies hier nur ein weiteres Testament. Ich hoffe, dem ist nicht so.
„Die Grundrechte sind einfach, jeder kennt sie.
Sie heißen, kurz gefasst: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“
Das ist natürlich eine grobe, einfache Zusammenfassung. Aber auch wenn sich die Ideen hinter diesen Worten seit der französischen Revolution ausdifferenziert haben (klarerweise würde man, um eine der offensichtlichsten Wandlungen zu nennen, heute nicht mehr von Brüderlichkeit sprechen, weil diese geschlechtsspezifisch Wendung eine Hälfte der Menschheit ausklammert), es sind noch immer diese drei Bausteine, die das Grundgerüst jeder liberalen Gesellschaftsauffassung bilden.
Liberalität, Gleichberechtigung, Sozialität – die aktuelle Verbreitung dieser drei Grundsätze sind das Erbe und die gesellschaftliche Errungenschaft eines ganzen Zeitalters, ganz gleich wie problematisch und janusköpfig sie sich in einigen Fälle erwiesen haben und noch erweisen werden. Für viele, die an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (oder sogar erst in diesem Jahrhundert) in einem westlichen Industriestaat wie Deutschland geboren wurden, sind diese Werte nahezu selbstverständlich; ihre Würdigung gilt leider fast schon als obsolet.
Doch wir leben nicht nur in bewegten Zeiten, sondern müssen uns auch eingestehen, dass diese Grundsätze eigentlich nur auf dem Papier existieren. Sie müssen ausgeübt werden, um über die Verschriftlichung hinaus zu existieren – oder alles, was auf ihnen gründet, verliert irgendwann den Boden unter den Füßen.
„An dieser Stelle ist mir nur wichtig, Folgendes festzuhalten: Wenn wir wollen, dass die Grundrechte in unserem Leben Bedeutung haben, müssen wir sie vom Kopf auf die Füße stellen. E geht nicht darum, Listen auswendig zu lernen und Rechte aufzuzählen, deren Inhalt uns nicht klar ist. Wir sollten wissen, was unsere Rechte sind. Und, wie gesagt, eigentlich wissen wir das bereits […] mir geht es in diesem Buch jedoch darum, zu zeigen, wie sehr die Grundrechte in unseren aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen wirken, wo sie infrage gestellt, eingeschränkt, übergangen werden und wo wir aufgefordert sind, für sie zu kämpfen. Sie sind das Regelwerk für eine andauernde gesamtgesellschaftliche Diskussion.“
Georg M. Oswald, Autor und Jurist, macht sich in seinem Buch genau daran: die Grundrechte vom Kopf auf die Füße zu stellen. In seinem kurzen, schlichten, aber doch bemerkenswerten und vor allem anschaulichen Buch, zeigt er anhand der ersten neunzehn Artikel des Grundgesetzes (die im Prinzip die Grundrechte jedes Bürgers, jeder Bürgerin darstellen und stark an den allgemeinen Menschenrechten orientiert sind), wie wichtig, knifflig und erhellend die Auseinandersetzung mit den Grundrechten ist.
Denn sie sind nicht nur ein Katalog der wichtigsten staatlichen Grundsätze, sie stiften zu vielerlei Überlegungen an, sowohl metaphysischer als auch praktischer Natur. Oswald führt einige dieser Überlegungen vor und wahrt dabei eine nahezu perfekte Balance: ihm gelingt ein erfreulich zugänglicher Mix aus rechtlicher und philosophischer Betrachtung und Analyse. Dabei bringt er die Grundrechte konsequent in Verbindung mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten, mit Überlegungen der letzten Jahre, mit juristischen Fällen, Literatur, etc. Er stilisiert sich nicht einfach als Verfechter eherner Prinzipien, sondern bewegt sich, ambivalent, sorgsam und geduldig, durch die Materie, mit einem Auge für beides: Chancen und Probleme.
„Der große Nachteil der repräsentativen Demokratie besteht in der Herausbildung einer »politischen Klasse«. Im schlechtesten Fall ist sie geprägt durch Opportunismus, Fraktionszwang, Karrierismus und Lobbyismus.“
Er weist also sowohl auf die Dilemmata hin, die sich aus den Grundrechten (und den Apparaten und Strukturen, die diese gewährleisten sollen) ergeben, aber auch auf ihre Funktion als unabkömmliche Leitmotive. Seine Stellungnahmen sind differenziert und er hat den Mut, einige Punkte offen zu lassen; bei anderen wiederum die Weitsicht, doch einen klaren Punkt zu markieren. Er weist keine direkten Wege, führt aber die Leser*innen an vielerlei Themen heran, gibt ihnen einen Einblick in die grundsätzliche juristische Perspektive auf die Dinge und sagt auch, warum eine juristische Perspektive allein oft nicht reicht.
Kurzum: Dies ist eines dieser wunderbaren, besonnenen Bücher mit Aktualitätsbezug, denen ich viel mehr Leser*innen wünschen würde als dem ganzen polemischen Mist, der ständig im Gespräch ist. Ich fürchte ja, dass das Buch, weil es einfach „nur“ klug und anregend ist, wenig Aufmerksamkeit bekommen wird. Ich hoffe natürlich, dass ich mich irre. In jedem Fall: ich war dankbar, es lesen zu dürfen.
„bestünde die Rechte mehrheitlich aus Holocaustleugnern, Hitlerfans, Brandstiftern und Terroristen, handelte es sich bei Ihnen, mit einem Wort, vor allem um gewaltbereite Neonazis, dann hätten wir kein Problem mit ihnen. Wir hätten einen Job zu erledigen. Die Umtriebe einer staatsfeindlichen und latent kriminellen Subkultur könnten wir getrost den Wächtern überlassen: der Polizei, der Bundeszentrale für politische Bildung, Ursula von der Leyen und der Antifa. Unsere Perspektive schließt Rechtsterroristen und Neonazis nicht aus, aber wir halten es mit einer Maxime der angelsächsischen Rechtspraxis: Hard cases make bad law. Wir werden, heißt das, die Extremfälle der Rechten von ihren moderaten Varianten her verstehen, nicht umgekehrt.“
Das Böse wird nur siegen, wenn die Guten es zulassen. Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen. Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.
Jeder hat sicherlich schon einmal eine Abwandlung des Zitats “The only thing necessary for the triumph of evil is for good men to do nothing” von Edmund Burke gehört. Damit lässt sich das Herz kampfeslustig und gleichsam rührig anheizen und man kann es allen entgegenhalten, die noch unschlüssig am Rande des Schlachtfelds stehen und sich fragen, worum hier genau gekämpft wird und was passiert wenn die eine oder die andere Seite gewinnt.
Ich mag diesen Spruch, nicht ob seines Pathos, aber wegen dem Wunsch, der Hoffnung, die darin enthalten sind. Die Hoffnung, dass die Entwicklung des Menschen doch einen guten Weg einschlagen kann, der wegführt von den vielen zersetzenden Elementen in unserer Natur, und es uns ermöglichen wird, die bestmöglichen Gesellschaften einzurichten, auf diesem einzigen Planeten, auf dem wir derzeit leben können.
Natürlich ist dieser Spruch auch problematisch und das nicht nur, weil er das biblisch-abstrakte Schema von Gut und Böse mit sich führt. Er kann nämlich auch als eine Anstiftung zum unveräußerlichen Konflikt verstanden werden, der nur dadurch enden kann, dass eine der beiden Seiten endgültig obsiegt. Dass das nicht nur global, sondern auch zwischenmenschlich ein Holzweg ist, hat die Historie gezeigt, die persönliche wie auch die globale. Wenn das Gute triumphiert, ist es längst nicht mehr das Gute. Dialektik steckt überall drin – wenn man eine Hälfte wegschneidet, spaltet sich die übriggebliebene.
Auch bei den Kategorien Links und Rechts hat sich das gezeigt: den Triumph linker Politik und linker Gesellschaftsmodelle schien in der Zeit zwischen 2. Weltkrieg und Jahrtausendwende nicht aufzuhalten. Freie Liebe, freie Gesellschaften, freie Meinung, freies Denken, Selbstbestimmung Sozialpolitik, etc. Die Linke, so schien es, hatte „gesiegt“. Und ignorierte in Folge alles, was nicht in ihr Weltbild passte. Leider gab es aber viele Leute, die diese Dinge weiterhin glaubten, welche die Linke ausführlichst ignorierte. Zu viele. Und dass die Linke mit ihren Meinungen ein Problem hatte, hörte mit der Zeit auf, ihr Problem zu sein.
„Wenn ich jemandem nicht helfen will, kann ich sagen: das ist dein Problem. Und genau das könnte mir auch derjenige antworten, dem ich mitteile, ich hätte ein Problem mit ihm. Er könnte nämlich zurecht feststellen, dass dieser Satz mehr über mich sagt als über ihn. Wenn du ein Problem mit mir hast, könnte er entgegnen, dann ist das dein Problem. Ich bin, wie ich bin. […] Dies ist nämlich kein Buch über Rechte und auch kein Buch gegen Rechte. Zumindest nicht nur. Was immer wir an ihnen kritisieren mögen, allein dadurch, dass wir die Rechten als Teil eines gemeinsamen Problems auffassen, nehmen wir eine andere Perspektive ein als all jene, die meinen, es sei damit getan, sie identifizieren, zu beobachten, zu beschreiben und dann Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung zu ergreifen.“
Womit wir endlich in diesem Buch angekommen sind, das sich ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt hat: Rechte und Linke an einen Tisch zu bringen. Nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten – und mit dem Verweis darauf, dass sie ohne einander nicht auskommen. Denn ob sie wollen oder nicht: sie leben in einer Gesellschaft, die nicht einer allein bestimmen wird; auch eine links ausgerichtete autoritäre Regierung wäre immer noch autoritär. Solange beide den anderen besiegen/zerstörten oder seine Meinungen verbieten/unter Strafe stellen wollen, ist diese Auseinandersetzung kein Gewinn für die Gesellschaft, sondern ein Scheingefecht, in dem nichts entschieden, dafür aber alles aufgefahren wird – was letztendlich den Blick auf die wichtigen Themen, die es anzugehen gilt, eher verstellt und wodurch die Auseinandersetzung zu einem Spiel wird, das nicht nur unproduktiv, sondern auch verdammt lästig ist, weil beide Seiten Regeln aufstellen, die der andere nicht befolgen will, was beide Seiten nur frustriert – oder im Fall der Neuen Rechten: freut.
Denn dann können sie sich als Opfer unfairer Mitspieler präsentieren, die sich nicht mal mit ihnen auf offensichtliche Regeln einigen können und unrealistische Parameter vorschlagen. Und so müssen sie nicht über ihre Inhalte reden, sondern reden über das Wie oder Wann oder Wo oder Warum oder Wer.
„Nein, allein über die Inhalte kriegt man die Rechten nicht. Entweder man verharmlost sie als Sekte schrulliger Modernitätsverweigerer, oder man dämonisiert sie als Untote aus dunkler Vergangenheit. Beides verfehlt den Kern der Rechten. Aber beides gefällt ihnen. Sie spielen nämlich ein Spiel mit uns. […] Nun heißt unser Buch aus guten Gründen nicht: wie man mit Rechten redet. Denn das würde ja voraussetzen, eine »man« und eine »Rechte« genannte Gruppe ließen sich ebenso deutlich voneinander unterscheiden wie Untergebene und Chefs […] Wir begreifen, so viel sei verraten, als »rechts« keine eingrenzbare Menge von Überzeugungen oder Personen, sondern eine bestimmte Art des Redens. […] Wir wollen eingreifen, aber nicht in bestehenden Debatten, sondern in eine Republik, die dabei ist, in den Arenen des Spektakels und den Stuben Verwaltung eines ihrer kostbarsten Güter zu verspielen: die Lust am offenen Streit.“
Gerade dieser letzte Satz ist immanent wichtig. Die Debatten werden geführt und sollen geführt werden. Aber die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft mit diesen Debatten umgehen, ist oft, gelinde gesagt, furchtbar. Auf beiden Seiten. Ich selbst erlebe es jeden Tag auf Facebook. Einen Tag Facebook-Kommentare lesen und schon glaubt man nicht mehr, dass die Menschheit wirklich mit der Fähigkeit zur Reflexion, zum wertfreien Denken, zur Dialektik oder mit Vernunft ausgestattet ist. Oder muss feststellen, dass diese Fähigkeiten anscheinend von dem Wunsch, sich zu profilieren, schnell übervorteilt werden können. Das ist zugegebenermaßen eine heftige Wertung, die nicht umhinkommt, so auszusehen, als würde sie von einem hohen Ross gesprochen werden. Mir ist klar, dass sie etwas zu allgemein formuliert ist und stelle hiermit klar, dass diese Polemik auf Probleme hinweist und sie nicht detailiert schildert. Dieser Text soll ein Anstoß sein. Ein Anstoß über einige Punkte nachzudenken – ein Anstoß, das Buch zu lesen.
„Die Frage, wer die Rechten für uns sind, ist nämlich nicht zu beantworten ohne die Frage, was die Rechten aus uns machen.“
Wer sind die Rechten denn für mich? Sind sie die, deren Meinung ich nicht teile? Deren MeinungEN ich nicht teile? Deren Meinungen ich auf einem bestimmten Gebiet nicht teile? Die ihre andersgeartete Meinung sagen (statt sie zu denken und dementsprechend zu wählen, zu handeln, zu glauben)? Die sich asozial verhalten? Die sich inhuman verhalten? Die nicht progressiv sind, sondern konservativ? Die nicht liberal sind, sondern elitär? Die nicht idealistisch sind, sondern materialistisch? Die nicht vegan sind, sondern überzeugte Benzinfahrer und Fleischesser und auch gerne Klamotten einkaufen?
Ich weiß, wer die Rechten in jedem Fall nicht sind: der Feind. Es sind Menschen wie ich einer bin. Ich bin dafür, dass ihnen geholfen wird, wenn sie Not leiden und dass sie verhaftet werden, wenn sie ein Verbrechen begangen haben. Ich bin dafür, dass sie ihre Steuern zahlen und dass sie das Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben (ganz abgesehen davon, dass Konzepte wie Straffvollzug, Steuern, Not und freie Meinungsäußerung natürlich individuell diskutiert werden können und ich an dieser Stelle auch nicht mit einer abschließenden Definition dieser Konzepte dienen kann).
Worum es mir und auch den Autoren des Buches geht, wenn ich/sie dermaßen polemisieren: Um ein Auflösen des ewigen: gegen-gegen-gegen! Zugunsten eines: wie können wir denn wirklich an einer besseren Welt arbeiten? Ist es dazu hilfreich, einfach nur die Rechte zu bekämpfen? Tritt das Gute allein dadurch ein, dass man das Böse bezwingt, verbietet, brandmarkt? Offensichtlich nicht, ganz im Gegenteil.
„Wer die Moral im Schilde führt, so die Rechten mit Nietzsche, will herrschen. Und wer die Menschheit sagt, so die Rechte mit Carl Schmitt, will betrügen.“
Wer davon spricht, dass das Rechte wieder „salonfähig“ geworden ist, der sollte sich das nächste Mal, wenn er andere Leute ob ihrer Sprachwahl kritisiert, auf die Zunge beißen. Salons sind nicht gerade gesellschafsnahe Orte – sondern bestimmten Gesellschaften vorbehaltene Orte. Es sind genau die Orte, in denen sich große Teile der intellektuellen Linken in den letzten Jahrzehnten eingerichtet haben. Nun sind sie fassungslos, dass die Rechten eintreten: was machen die denn in unserem schönen Salon. Das ist unser Salon, unserer! Hier können wir uns in Ruhe dort kratzen, wo es andere juckt!
„Als ob die Demokratie ein Salon wäre! Als ob Sätze allein dadurch gälten, dass irgendjemand sie äußert! Als ob da Sagbare eine Erlaubnis bräuchte. […] Wenn die Rechten und die Moralisten nur diese wenigen Unterschiede kapieren würden, den Unterschied zwischen Faktizität und Geltung, den Unterschied zwischen dem Stoff und dem Werk und den Unterschied zwischen dem Hass und dem Schönheit, dann hätten wir kein Problem mehr. Dann könnten wir streiten, in dem die einen die Existenz der Ungleichheit gegen die nivellierende Tendenz der Moral verteidigen, und die anderen das Recht auf Gleichheit gegen die Anmaßung der Stärke. Denn Menschen sind einander ja nie nur gleich oder ungleich. Sie sind immer beides.“
Seien wir ehrlich: Es gibt Unterschiede. Zwischen allen Menschen. Nur sollten diese Unterschiede, die ja alles in allem etwas Wunderbares sind (es wäre ja schlimm, würden alle dieselben Texte schreiben, dieselben Kaffeetassen designen, sich dieselben Witze ausdenken, etc.), eben keine Rolle spielen, wenn es um die Eignung und die Privilegien von Menschen geht, in jeder Hinsicht.
Es ist diese Form der Einteilung, die die Unterschiede erst problematisch macht – sie sind es nicht aus sich heraus. Sie zu leugnen ist daher problematisch; die Einteilung muss geleugnet werden, die Unterschiede zu leugnen kann schwer nach hinten losgehen. Die Grenzen verschwimmen, die Dinge werden hohl. Identität, diese komplexe Idee, wird von den Rechten stark vereinfacht. Sie wird aber auch von den Linken vereinfacht, wenn die behaupten, dass sie völlig willkürlich ist. Sie ist sehr ambivalent, vielschichtig und sollte letztlich abseits des Persönlichen auch keine Rolle spielen. Aber sie ist nicht willkürlich und gegenstandslos (was auch nicht alle Linken behaupten, aber ich habe es schon linkausgerichtete Person behaupten hören).
Die Linke. Leo, Steinbeis und Zorn richten einen deutlichen Appell an sie:
„Aus einer Bewegung zur Emanzipation der Arbeiterklasse war eine Partei von Anti-Faschisten, Anti-Imperialisten und Anti-Kapitalisten geworden. Und genau das machte sie ideologisch verwundbar. Denn der geistige Preis für den Sieg war hoch. Um sich in der Welt zu behaupten, hatte die Linke ihre beiden größten Schätze, die Dialektik und den Humanismus, geopfert. […] Die Linke dachte im Freund-Feind-Schema. Wie die Rechte. […] Ein kaum erträglicher Zustand, aus dem nur Selbsterkenntnis, eine Rückkehr zu Marx, und Erneuerung, herausgeführt hätte. Aber die Linke entschied sich für den Selbstbetrug. Statt das Denkschema eines nicht besonders denkstarken Feindes zu kritisieren, fügte sie sich ihm. Und schminkte es mit Moral. Freunde und Feinde verwischte sie zu Opfern und Tätern, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Geschlechter unterschied sie nach unterdrückten Schwachen und abzuwehrenden Starken.“
Natürlich blieb die Linke eine Bewegung der Emanzipation. Und diese Emanzipation ist eine mehr als großartige Errungenschaft, sie weist Wege zu einem Miteinander, das dem menschlichen Bedürfnis nach Entfaltung und nach Harmonie gleichermaßen entspricht. Und viele „Rechte“ verstehen seltsamerweise nicht, dass „Sicherheit“ eben gerade aus der Selbstbestimmung abseits der Norm entstehen kann und nicht an Traditionen oder etwas Übergreifendes geknüpft sein muss.
Dennoch: die Linke ist mit ihrer moralisierenden (nicht moralistischen) Tendenz teilweise ins Abseits geraten, in die eigenen Echoräume. Dort werden Debatten geführt, die auf den ersten Blick entscheidend, auf den zweiten Blick künstlich wirken; wie ein Meinungsboard, an dem sich alle einmal austoben und Ferien vom Über-Ich nehmen können. Nicht immer, nicht zwangsläufig. Aber stetig. Manchmal werden dabei die menschlichen Faktoren gut in den Mittelpunkt gerückt – und manchmal im theoretischen Höhenflug außer Acht gelassen, über Bord geworfen. Was bedauerlich ist, denn das kreative, intellektuelle und dialektische Potential, das sich dabei zeigt, ist eigentlich grandios. Nur bewegt es sich oft im Kreis. Oder wird einfach per Katapult zu den Rechten rübergeschossen.
„Die Rechte ist Wille zur Macht ohne Kraft zur Gestalt. […] Die Ziele der Linken waren immer schon richtig, so wie ihr Hang zur Selbstgerechtigkeit schon immer fatal war. […] Und darum macht es uns fassungslos, dass sie ihr einst so überlegendes Denken durch moralischen Eifer ersetzt hat – von dem wir uns haben einlullen lassen. Wir haben eine rote Schleife um das Weiße Haus gebunden und es Donald Trump geschenkt.“
Wir müssen wieder ins Gespräch, wir Menschen von rechts und links und dazwischen. Denn nur am Tisch, im Gespräch, sind die Argumente der linken Seite besser, stärker – im Kampf auf offener Straße, emotionsgeladen, schmierig, in den Medien, mit Gewalt und Fake, können die Linken keinen Blumentopf gewinnen. Gott sei Dank! Es wäre bedenklich, wenn es nicht so wäre. Vor allem zeigen sich die Rechten am Tisch, im Gespräch, dann oft als das, was sie wirklich sind: quängelnde Phrasendrescher, kleine Kinder, die zürnen und heulen, die prahlen und Luftschlösser bauen, die Fakten verdrehen. Die nicht mehr der Erfahrung klarkommen, in einer Welt zu leben, in der nicht alles nach ihren Vorstellungen eingerichtet ist (im Gegensatz zu den Linken, die das fast schon überproportional verinnerlicht haben).
„Die Erfahrung, dass man selbst, so wie man ist, und die Welt, so wie sie ist, nicht zusammenpassen wie Mutter und Schraube, kennt auf die eine oder andere Weise doch jeder.“
Ich weiß nicht wie und ob es möglich ist. Aber es wäre wichtig, wieder Kommunikationskanäle einzurichten und die Politik, die Gesellschaft wieder daran zu orientieren, was sich in klaren Debatten als die bessere Lösung erweist. Es wird oft die linke Lösung sein. Aber solange man den Dialog mit Rechten meidet, wird die rechte Lösung öfter gewählt, weil sie lauter und (in Ermangelung der Reflexion) selbstbewusster schreit und zu den komplexesten Problemen die einfachsten Lösungen präsentiert und sich auch als exquisite Alternative verkaufen kann.
Also, im Sinne dieses Buch, das eine kritische Lektüre lohnt und viel Stoff zum Nachdenken gibt (noch mehr als ich hier auffächern, ansprechen kann): mit Rechten reden. Nicht ihnen eine Bühne bieten, nicht ihnen auf den Leim gehen – das würde voraussetzen, dass man die Diskussionen verliert oder zu schnell zu einem Ende führen will, weil man eh glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben. Wie die Geschichte gezeigt hat, kann sich der Mensch längerfristig vernünftigen und logischen Argumenten nicht widersetzen. Darauf ist wieder zu bauen, zu hoffen.
„Wir machen euch ein Angebot: Wir hören auf euch mit Moral zu traktieren. Ihr wollt die Syrer hier nicht haben? Gut, das können wir euch nicht verbieten. Ihr habt das Recht, diese Position einzunehmen. Aber lasst uns eure Argumente hören, eure Wertungen, eure Kosten-Nutzen-Rechnungen, eure Gefahrenprognosen, eure Lesart des Rechts. Versucht uns zu überzeugen, dass die Bundesregierung das Recht eklatant gebrochen hat. Wir sehen das nämlich anders.“
“Viel unmittelbarer und weitreichender als anderswo ist die Entwicklung der Demokratie und ihrer Institutionen in West-Deutschland (und Österreich) immer auch abhängig von der Auseinandersetzung mit einer Geschichte, von der sich die Republik absetzte. Die Auseinandersetzung von Gesellschaft und Politik mit Rechtsextremismus und Antisemitismus ist in diesem Sinn auch ein Index für den Grad der Etablierung der demokratischen Institutionen und der demokratischen Kultur selbst.”
Der Klappentext von „Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie“ ist leicht irreführend, geht es doch in diesem Buch nicht um alle Probleme, mit denen die demokratisch organisierte gesellschaftliche Grundordnung in Deutschland derzeit zu kämpfen hat. Globalisierung, Finanzmarktwillkür und die damit verbundenen wirtschaftlich-sozialen Folgen werden nur am Rand gestreift (Für diese Themen empfehle ich eher „Kein Wohlstand für alle!?“ von Ulrich Schneider).
In diesem Buch geht es um die Bedrohung durch rechtextremistische und fremdenfeindliche Positionen, die in den Jahren der Geflüchteten-Krise neuen Aufwind bekommen haben und bereits seit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wie konnte das passieren? Diese Frage nimmt sich naiv und unbescholten aus, zumal die Geflüchteten-Krise und ihre Begleiterscheinungen oft als „Ursachen“ benannt werden, aber sie ist trotzdem folgerichtig. Denn wie können in einem Land, dessen jüngste Vergangenheit die Auswüchse und Folgen eines ungeheuerlichen Unrechtsregimes (oder zweier Unrechtsregime, was Ostdeutschland angeht) gesehen hat, in dem ähnliche Formen der Fremdenfeindlichkeit zu beispiellosen Gräueltaten geführt haben, die liberalen und toleranten Grundsätze so schnell zersetzt und offenkundig mit Füßen getreten werden?
“Für eine ganze Generation, die sogenannte Generation Golf, gab es nichts anderes als Helmut Kohl und eine zufriedene Bundesrepublik, die sich dann um Ostdeutschland zum wiedervereinigten Deutschland erweiterte. Man schien mit sich zufrieden und brauchte politisch nicht allzu wach sein. Man war sich seiner selbst bewusst. Große Konflikte schien es nicht mehr zu geben.”
Am Anfang – und das macht dieses Buch im Verlauf einer Nacherzählung über die Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft deutlich – stand das zähe Ringen einiger weniger, die sich im Deutschland der Adenauerzeit nicht mit einem Neuanfang begnügen, sondern die Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten und klar als Teil der deutschen Vergangenheit ausgestellt wissen wollten. Vielen Menschen in meiner Generation dürfte es gar nicht wirklich bewusst sein (und deswegen sollten auch sie dieses Buch lesen) wie lange es dauerte, bis die Gesellschaft und die mediale Öffentlichkeit zu einem offenen, deutlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorgedrungen waren. Erst 2005 (!) wurde z.B. in Berlin ein Denkmal für die 6 Millionen getöteten europäischen Juden errichtet.
Lange Jahre war die Diskussion in der Bundesrepublik umkämpft, das Thema wenig sensibilisiert. Wenn Paul Celan (dessen Eltern von den Nazis ermordet worden waren und der selbst in einem ihrer Arbeitslager nur knapp dem Tod entronnen war) sich auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1951 vom linken Schriftsteller Hans Werner Richter anhören musste, die Vortagsweise seines Gedichts „Die Todesfuge“ erinnere an die rhetorische Intonation eines Joseph Goebbels, zeigt das nur, dass selbst antifaschistisch, antikonservativ und antirestriktiv eingestellte Menschen die Tragweite der deutschen Vergangenheit vernachlässigten oder nicht verstanden. Als die jüdische Autorin Mascha Kaléko 1960 den Fontane-Preis der Akademie der Künste in Berlin ablehnte, weil das ehemalige SS-Mitgliedes Hans Egon Holthusen in der Jury saß, empfahl der Geschäftsführer der Akademie, Herbert von Buttlar, nachdem er Holthusens SS-Mitgliedschaft wegdiskutiert hatte, den Emigranten, wenn es ihnen hier nicht gefalle, doch einfach fortzubleiben. Noch in den 80er Jahren konnte Helmut Kohl nach Israel reisen und als nahezu einzigen Intellektuellen einen ziemlich dubiosen Journalisten wie Kurt Ziesel mit sich führen, ohne dass dies ungewöhnlich war für die Haltung der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber der Vergangenheit.
Der Kampf um das Anerkennen und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des dritten Reichs (und damit einhergehend: den Verbrechen der deutschen Bevölkerung, welche dieses Regime wählte und in großen Teilen stützte) währte lang und ist auch noch nicht abgeschlossen – auch das zeigt das Buch anhand einiger Beispiel aus neuster Zeit, wie etwa dem Film „Der Untergang“ (2004) oder dem Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013). Ein früher großer Rückschlag war hier sicherlich die Rede, die Martin Walser 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hielt, in der unter anderem von der „Auschwitz-Keule“ die Rede war und die Überwindung der deutschen Vergangenheit propagiert wurde.
“Die Bereitschaft zu solchen Aussagen kommt nicht von ungefähr. Autoren wie Walser […] bedienen Teile der deutschen Bevölkerung, und sie wollen ihre Motive nach einem Schlussstrich oder danach, die eigene Erfahrung als Opfer, sei es als Vertriebene, in Luftschutzkellern oder des nationalsozialistischen Systems selbst mehr zur Geltung gebracht sehen. Sie sehen sich als die unterschlagene Seite der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn diese Geschichte stets in den Familienromanen und erst recht in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum stand. […] Die Walser-Debatte repräsentierte den unwürdigen Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus vonseiten führender Kräfte in Politik und Wirtschaft”
Anhand solcher Beispiele und ihrer Einbettung zeigt das Buch die von Anfang an und bis heute herausgeforderte Demokratie Deutschland. Die Herausforderung ging anfangs vor allem von ihrer Vergangenheit aus, heute auch in großen Teilen von ihrer Zukunft. Denn wo liegt diese Zukunft?
“das Ausmaß von Politik- und Demokratieverdrossenheit sowie die Enttäuschung darüber, wie Demokratie funktioniert, ist schon länger dramatisch. Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass trotz des relativen Wohlehrgehens der Bundesrepublik Deutschland die Enttäuschungen in den letzten 25 Jahren nicht abgenommen, sondern sich zum Teil noch verstärkt haben.”
Lange Zeit über lag die Zukunft in einer Annäherung der deutschen Staaten, nach 1989 schien die Zukunft auf einmal gesichert und idyllisch. Doch gerade in dieser Zeit, den 90er Jahren, gab es wieder vermehrt fremdenfeindliche und rechtsextreme Gewalttaten. Das fehlende Eingeständnis, dass Deutschland bereits seit 20, 30 Jahren ein Einwanderungsland war und die Probleme bei der Eingliederung der ostdeutschen Gebiete, führten bei vielen perspektivlosen Menschen zu einer Suche nach Sündenböcken und nach alternativen Ideologien.
Von diesen ersten Erschütterungen aus führt ein direkter Weg in die heutige Zeit, zu den Bewegungen von Pegida und zu Parteien wie der AfD, die allerdings nicht so schnell und durchschlagend möglich gewesen wären ohne Thilo Sarrazin, der kurz nach dem Anfang der Finanzkrise eben jenen Topos vom Sündenbock ausnutzte, um armen- und migrantenfeindliche Thesen unter dem Deckmantel der zeitgeschichtlichen Kritik zu publizieren.
“Die Sarrazin-Antwort heißt: Es ist der Sündenbock, der Schuld ist. Nicht die Finanz- und Ökonomiepolitik. Und nur die Abschaffung des Sündenbocks hilft uns aus der Krise, nicht eine andere Krisenreaktionspolitik.”
Die neuen Sündenböcke sind die Muslime oder allgemein die eingewanderten Menschen, die uns angeblich auf der Tasche liegen und unsere Kultur zerstören wollen. Dass ausländisch stämmige Mitbürger*innen seit vielen Jahren mehr in die Sozialsysteme einzahlen als sie von dort beziehen, scheint die meisten Stammtische noch nicht erreicht zu haben, ebenso wenig wie die Studien, die nachweisen, dass viele nach Deutschland emigrierte Menschen sich Integrationsmaßnamen wünschen, die aber vielfach einfach nicht gewährleistet werden (und anfangs, in der Zeit der ersten Gastarbeiter*innen, überhaupt nicht gewährleistet wurden, stattdessen wurden diese Menschen wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt).
Der Umgang mit dem Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist ein weiteres zentrales Thema dieses Buches. Die Geschichte dieses Umgangs in den Jahren seit 9/11 wird kurz, aber anschaulich, beleuchtet. Die Verteufelung des Islam hat dabei an einigen Stellen Züge angenommen, die beschämend sind, wenn man weiß (und alle Leute sollten es doch wissen), dass gerade in Deutschland die Verteufelung einer Religionsgemeinschaft bereits einmal zu ungeheuren Verbrechen geführt hat. Und engstirnig und plump, vorurteilsbehaftet und destruktiv sind diese Verteufelungen in den meisten Fällen sowieso.
“Alle Probleme der islamischen Welt werden aus zeitlosen Vorschriften des Islam abgeleitet. Eine Verzerrung und Irreführung gleichermaßen.”
Die bundesdeutsche Demokratie ist herausgefordert und viele Menschen in diesem Land sind zurecht unzufrieden mit den demokratischen und gesellschaftlichen Missständen. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht gut leben, viele Menschen in diesem Land wurden von den Mechanismen der Wirtschaft abgehängt, es wird zu wenig in Bildung und Wohnungsbau investiert und zu wenig in puncto Integration- und Toleranzprogramme getan. Das alles sind Missstände, die es anzugehen gilt, aber stattdessen wählen Leute aus Frustration die AfD, die weder eine „kleine Leute“-Partei ist, noch irgendwie zur Verbesserung der bundesdeutschen Situation beitragen wird, wenn sie das einlösen wollen, was in ihrem Wahlprogramm steht. Weder die Sozialsysteme, noch ein Großteil der Bevölkerung würden von diesem Programm profitieren. Stattdessen würden liberale und soziale Errungenschaften stark darunter leiden. Die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ fasste die autoritäre Position der AfD einmal gut zusammen:
“Für die AFD enden die Freiheiten der Individuen dort, wo sie mit dem Willen einer angeblichen deutschen Volksmehrheit und ihrer Volkskultur kollidieren. Die Partei vertritt ein Politikverständnis, in dem die Mehrheit immer Recht hat und Minderheiten sich unterzuordnen haben.”
Das ist eine Gesellschaft, in der ich nicht leben will. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der die Mehrheit sich der Minderheit gegenüber verpflichtet fühlt. Der Wert einer Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten, mit ihren Bedürftigen, mit ihren Kindern umgeht. Und die Demokratie kann immer nur so stark sein wie die Gesellschaft. Ob die Gesellschaft die Herausforderungen, der sich unsere Demokratie gerade zu stellen hat, annimmt, ist daher entscheidend.
Man spürt, dass dann und wann eine unterschwellige Wut in dieses Buch einfließt, nicht was die Aussagen und Stellungnahmen angeht, aber in der Klarheit und der schnellen Reaktion auf eingebrachte Beispiele konservativer oder regressiver Argumentation kann man sie spüren. Diese Wut lässt das Buch hier und da vielleicht etwas zu perfekt sitzend wirken, weil wenig Raum für Ambivalenzen bleibt. Allerdings macht das Buch von Anfang an klar, dass es darin um die Darstellung einer Gefahr, ihrer Geschichte und ihrer Ausmaße, und nicht um eine erschöpfende, umfassende Analyse der derzeitigen Situation geht. „Deutschland – Die Herausgeforderte Demokratie“ ist eine Studie, die aufklärerisch wirken soll, die zeigen soll, wie wichtig es nach wie vor ist, die demokratische und tolerante Grundordnung zu unterstützen und zu verteidigen – sie ist eine Errungenschaft, die nicht selbstverständlich ist.
Das zu zeigen, knapp und eindringlich und mit einer Fülle an Beispielen, die anschaulich und klar sind, und vielen (aber nicht überhand nehmenden) Verweisen auf Studien, Originalzitate und andere Phänomene des Zeitgeistes, ist der Verdienst dieses Buches. Ein wichtiges Buch über die Vergangenheit und die Zukunft unserer Demokratie.