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Zu den Porträts in “Über Geist und Macht” von Wilhelm von Sternburg


QU_Sternburg_U1_Entwurf.indd Dieser schöne Band versammelt biographische Studien, Abrisse und Essays von Wilhelm von Sternburg, die zwischen 1993-2017 in verschiedenen Publikationen (hauptsächlich der Frankfurter Rundschau) erschienen. Unter den Protagonist*innen finden sich ein paar der üblichen Verdächtigen (Schiller, Heinrich Böll, Stefan Zweig, Günter Grass, bei den Politikern Bismarck, Churchill und Willy Brandt), aber auch unbekanntere oder vergessene Namen wie Gustav Freytag, Bruno Frank, Elisabeth Langgässer und wenig thematisierte wie Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Golo Mann oder Herbert Wehner.

Mit Ausnahme von Lessing und Schiller waren alle Persönlichkeiten des Buches auf die eine oder andere Weise Zeitgenossen und Akteur*innen während der Entwicklungen und Verwerfungen der deutschen Nationalgeschichte zwischen 1848 und den Zeiten der Bonner Republik. Und obgleich Sternburg auch ein feinsinniger literarischer Rezipient ist – die Texte dieses Bandes (wie auch schon der Titel „Über Geist und Macht“ andeutet) richten ihr Hauptaugenmerk auf die zeitgeschichtlichen Aspekte des Werks, den Charakter und die Integrität, die Verwicklungen und Positionen der jeweiligen Geistes- und Machtgrößen.

Bei einigen Namen bleiben die Texte eher so etwas wie ein gut ausbalanciertes summa summarum (wobei es auch dann an interessanten Einblicken nicht fehlt). Zu Schiller beispielsweise gibt es selbstverständlich tiefere, mannigfaltigere Arbeiten (z.B. von Thomas Mann oder Rüdiger Safranski). Bei solchen Namen spürt man, das Sternburg klug gesammelt hat und mehr das bekräftigt, was zu Schiller bereits gesagt wurde und weniger eine eigene Deutung anstrebt (wenn er sie auch, hier und da, einfließen lässt). Auch bei Joseph Roth, dem ein längerer Text gewidmet ist, bewegt sich Sternburg etwas im Kreis, verdeutlicht und untermalt, stößt aber nicht wirklich in eine eigene Schilderung vor.

Sehr verdienstvoll sind hingegen die Beiträge zu den Unbekannteren – und das Highlight sind ein paar mutige Klarstellungen. Sehr fasziniert hat mich der längere Text zu Gustav Freytag, in dem Sternburg nicht nur die Geschichte des damals sehr erfolgreichen Literaten und Feuilletonisten erzählt, sondern auch ein nachvollziehbares Bild des Antisemitismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts zeichnet und beides in der Entwicklungsgeschichte des Publizisten Freytag zusammenbringt. Seine Texte zu Bismarck und zu fast allen anderen politischen Personen, die er portraitiert, haben eine Schonungslosigkeit, die sich stets ohne Verdammnis artikuliert – was oft ausgewogen wirkt, nur selten zu friedfertig und versöhnlich. Insgesamt legt er eine beeindruckende Differenziertheit an den Tag und bei den Publizisten und Politikern deckt er deren Schwächungen und Verfehlungen mitunter so konsequent auf, das man sie in in einem neuen, unspektakuläreren Licht sieht.

Nur Lob habe ich auch für seine Texte zu Böll und Grass. Bei Böll macht Sternburg klar, welch engagierten Geist und wichtigen (sicher auch großen, aber vor allem wichtigen) Künstler die Bonner Republik mit dieser Persönlichkeit hatte und wie erschreckend Boulevardpresse, Feuilleton und Regierung diesen Menschen teilweise behandelt haben. Aber er stellt ihn eben nicht als Opfer dar, sondern als den agierenden Humanisten, Vertreter der Entrechteten und eigenwilligen Zeitgenossen, den seine eigenen Schriften auch widerspiegeln. Und ich fühle mich Böll durch Sternburgs Darstellung wieder genauso verbunden, wie zu der Zeit, als ich vieles seiner Romane und Kurzgeschichten las.

Bei Grass wird Sternburg noch entschiedener zum Verteidiger und beklagt offen die verheerende Dimension der Verrisse und den Unbill, den man Grass Werk und dem geistesgegenwärtigen Prinzip darin über Jahrzehnte entgegenbrachte und -bringt. Obwohl schon ein älterer Text, ist er wohl nach wie vor aktuell. Natürlich hat Grass sich mit seinem Gedicht über Israel und seinen schwierigen Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“ weiter in Verruf gebracht, bevor er starb. Aber sein episches Werk ist zu großen Teilen nach wie vor seltsam verpönt, viele Dimensionen darin werden verkannt und falsch oder missgünstig oder nur autobiographisch gedeutet.

Andere Beiträge, bspw. zu Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger, sind schön zu lesen, manchmal etwas unordentlich strukturiert, was mir persönlich aber sympathisch ist. So wirkt es, als Reise man kreuz und quer durch den Geist und das Leben der Person. „Über Geist und Macht“ ist letztlich eine tolle Kombination aus Schmöker und Geistesgut – etwas, das man auf dem Feld der Essays leider allzu selten antrifft. Lesenswert!

Klare Kosmen – zu Ralph Grünebergers Gedichtband “Die Saison ist eröffnet”


„Im Hotel Wolfinger esse ich
Ein Mohnweckerl mit Wurst
Und lese in der Zeitung
Dass vor genau 92 Jahren
Ein Versicherungsangestellter
In Berlin-Steglitz einen Paß vorzeigte
Den in einigen Stunden das
New Yorker Aktionshaus Bonhams
feilbietet
Der Pass ist ausgestellt auf
Dr. F. Kafka František“

Die meisten Gedichtbände betritt man und ist sofort umringt von Worten, Bildern, Vergleichen. Bei Ralph Grüneberger ist das nicht so, obgleich man auch hier sofort ins Geschehen gezogen wird. Aber in seinen Gedichten kredenzt einem die Sprache nicht unentwegt dichte Ahnungen und zugeschnittene Unergründlichkeiten, sie zieht vielmehr ein offenes, anschauliches Panorama auf.

Anschaulichkeit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Wort, denn es könnte sonst fälschlicherweise der Verdacht aufkommen, man habe es hier mit prosaischen Dokumenten zu tun, die nur wegen der Zeilenumbrüche Gedichte genannt werden. Diese Anschaulichkeit aber macht sie auf subtile Weise poetisch. Sie zeigt sich in Details, in kleinen eleganten Wendungen und Verdichtungen, die manchmal plötzlich aus einer prosaähnlichen Struktur aufleuchten. So schreibt Grüneberger über einen katalanischen Arzt in Hohenstein-Ernstthal:

„Er nahm die Stelle für die sich
A priori kein in Sachsen
Approbierter Jungarzt fand
Und verzichtete auf den katalanischen
Hasen
Und südliche Sonnenstunden.

Gekommen aus dem Lande
des Ritters
Von der traurigen Gestalt
Empfängt er fortan
Die traurigen Gestalten Kranker
Aus dem Karl-May-Städtchen
In seiner Praxis.“

Die Gedichte sind Dokumentationen, Betrachtungen, Charakterstudien, aber eben doch mehr; sie verschmelzen die dokumentarische Tiefe mit der poetischen Frei- und Feinheit und dem poetischen Witz; legen über das Berichten fein eine Schicht lyrischer Finesse.

Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser Dichtung: Lebendigkeit. Die Lebendigkeit und Nähe der dargestellten Landschaften, Lokalkolorite, Personen, Atmosphären. Egal, ob wir uns am Schauplatz eines Ereignisses der deutschen Geschichte oder im Lebenslauf eines Geistlichen bewegen, in den Erinnerungen Grünebergers oder auf einem Friedhof: Der Autor schafft es, dass wir ganz nah am Kern um das Themas kreisen. Mit Ruhe und Klarheit und auch Bissigkeit werden die Bestandteile sorgsam ins Gedicht geknetet, gut instrumentiert.

„Die Fackelei der Nazis im Mai ‘ 33
Man habe die undeutschen Schriften
dem Feuer übergeben, übergeben
Doch lässt sich die Wahrheit
Nicht in Rauch auflösen.

Lieber tapfer zu leiden und zu nöten
Hieß die Parole auf dem Marburger
Kämpfrasen. Wer ahnte, dass
Am Ende Hölderlins Hyperion
Im Tornister die Kugel
Nicht würde abhalten können.“

Historie ist immer mit dabei, oft im Vordergrund und nicht selten, groß, im Hintergrund. Grüneberger findet oft eine gute Balance zwischen zur-Schau-Stellen und Kommentieren; etwas gelingt ihm vielleicht sogar besser als seinem Vorbild, dem späten Bertolt Brecht: der nicht zu starke, unpersönlichere Auftritt, sodass die Lesenden gefesselt bleiben und sich nicht vorkommen, als läsen sie eine Lektion.

Auch ein wichtiges Motiv in dem Band sind Widmungen. Widmungen über Widmungen. Und in diesem Bereich gibt es auch viele Gedichte, die sich mit Erinnerungen an Weggefährten und Vorbilder auseinandersetzen. So zum Beispiel ein Gedicht in Gedenken an Karl Mickel, das den Aufenthalt in einer Schreibvilla in Petzow umreißt und in dem man auch kurz in Grünebergers eigene Gemütswelt blicken kann:

„Dass auch junge Schreiber Kreise ziehen können
Ließ uns der See wissen, nach dem Sprung vom Steg
Der See, der unser Spiegelbild größer erscheinen ließ.“

Solche Momente sind rar, denn die Form der dokumentarischen Lyrik erlaubt nicht gerade viel seelisches Einbringen des Autors (auch wenn er stets präsent ist), zumindest tritt ein solches selten klar hervor. Dafür sind die Gedichte offener, leichter zugänglich. Wie der Titel bereits sagt: Die Saison ist eröffnet, treten sie ein. Und so tritt man ein in deutsche Erinnerungslandschaften, in kräftige Zeichnungen mit feinen Zügen.

„Nicht miterleben musste der spätere Herr

Zu Gotha, Groitzsch & Cossen, dem auch Pauline
Untertan war, die Sprengung des Wehrturms
Der Großburg Coucy. Sein Totenstein lässt offen, ob er
19-17 vom Pferde oder auf dem Feld gefallen ist.“

Man könnte meinen, dass aus mir die Begeisterung spricht und man sieht mich einigermaßen überrascht, wenn ich jetzt zugebe: ja, so ist es. Da ist irgendetwas in dieser Lyrik, was ich, noch über die genannten Qualitäten hinaus, schätze; vielleicht ist es das Engagement, vielleicht eine Vorliebe für die Anschaulichkeit, vielleicht das Beglücktsein über eine Form von Vermittlungsästhetik, die mir im Gedicht so noch nie begegnet ist.

In jedem Fall empfehle ich diesen Band zur Lektüre. Es gibt keine sprachlichen Höhenflüge darin, vielmehr bleibt Grüneberger mit seiner Sprache bei seinem Material – und das ist es wahrscheinlich, was ich so schätze: die Nähe der Sprache zum Objekt, das Dranbleiben, der Versuch, einem Objekt, einer Landschaft, einem Moment sprachlich gerecht zu werden, ohne sie mit Sprache zu übervorteilen oder zu überstrahlen. Diese Form von Erdung weist dennoch über sich hinaus, vermag viel zu zeigen, zu offenbaren; führt alles in seiner Zwangsläufigkeit und Offenheit vor.

„Unterm Kastanienbaum
Die Fruchtwaffen
Grüne Morgensterne.

Unter der Schale
Mit der Farbe alter Möbel
Schokolade oder der
Iris der Liebsten“