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Kein Masterpiece, trotz mitreißender Geschichte


Für die Ewigkeit

Helmut Krausser hat in einer Vielzahl von Büchern bewiesen, dass er sich auf die richtige Mischung aus Melancholie und Drastik versteht, die seine Plots nicht nur zu spannenden und unterhaltsamen Geschichten, sondern zu erfahrbaren Auslotungen von Gefühlslagen und Schicksalen macht (darüber hinaus ist er ein großartiger Dichter, seine Lyrik, mitunter wunderbar bis schrecklich komisch, dann wieder meditativ, existenziell und alles dazwischen, ist jeder/m ans Herz zu legen).

Mit dieser Geschichte einer verbotenen Liebe im Südamerika des frühen 20. Jahrhunderts ist ihm allerdings nicht eines seiner Meisterstücke geglückt. Zwar sind hier nach wie vor der Witz und die sprachliche Direktheit vorhanden, die viele seiner besten Bücher auszeichnen, aber das Setting und die Figuren nehmen sich, trotz der Bewegtheit, die sie dann und wann verströmen, ein bisschen sentimental und überzogen tragisch aus. Man kommt sich vor wie in einem erfolgreichen, aber schnell an seinen Grenzen gelangenden Fernsehfilm, in dem Historie, Romantik und Spannung zusammengebracht werden sollen.

Natürlich fälle ich dieses harte Urteil von der hohen Warte aus, auf der Kraussers beste Werke zu finden sind. Objektiv betrachtet hat die schnörkellose, aber dennoch immer wieder feingliedrige Erzählung durchaus viel für sich und verdient meinen Tadel wohl nicht im vollen Umfang. Dennoch: dieses Werk hat mir nicht, wie so manch anderes von Krausser, neue Horizonte und Untiefen eröffnet (oder um die Ohren geschlagen). Es ist ein in sich gelungenes Zelebrieren des eigenen Plots, auch gut für eine schnelle und spannende Lektüre, aber keine Offenbarung. Krausser kann mehr.

Zu “Herkunft” von Saša Stanišić


Herkunft Saša Stanišić ist ein Autor, der sich, ähnlich wie bspw. Kazuo Ishiguro, viel Zeit für seine Romane lässt. Zwischen dem ersten Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, der ihn zu einem Shootingstar der deutschen Literaturszene machte, und dem zweiten Roman „Vor dem Fest“ lagen acht Jahre, zwischen dem zweiten und dem dritten Roman „Herkunft“ dann immerhin auch noch fünf (wobei hier in der Zwischenzeit auch ein schmaler Band mit Erzählungen erschien).

Diese Langsamkeit hat etwas Sympathisches und lässt die Romane schon vor der Lektüre wie etwas Kostbares (und auch wie etwas sehr Gewissenhaftes) erscheinen. Möglicherweise ist es diesen Erwartungen und dem Sympathievorschuss geschuldet, dass ich mich mit „Herkunft“ ein bisschen schwergetan habe. Aber vielleicht zunächst zum Inhalt, auch wenn er wohl bereits jeder/m an dem Buch Interessierten durch Klappentext und andere Besprechungen bereits bekannt sein dürfte:

Der Roman liest sich wie eine fiktionalisierte und mit Ausschmückungen versehene Biographie des Autors, mit speziellem Fokus auf die Beziehung zu seiner Großmutter und den Jahren nach der Flucht aus dem ehem. Jugoslawien in der neuen „Heimat“ Deutschland. Die einzelnen Kapitel sind kurz und Stanišić bedient sich immer wieder unverhofft schöner Sprachkapriolen, statt einfach nur einen gelungenen Stil zu pflegen und springt viel in der Zeit hin und her, was manchmal einen etwas übereifrigen Eindruck macht.

So entsteht aus der Schilderung eines Lebens ein Gestrüpp/Geflecht von sich überlagernden Empfindungswelten, das zwar immer wieder beeindruckende Muster hervorbringt, aber auch genauso oft zu leichten Verhedderungen in der Wahrnehmung führt, zumindest bei mir war es so. Stanišić greift auf viele Register und Stilmittel zurück, sein Roman ist ein sehr agiles Konstrukt, aber manchmal wirkt es dabei nicht nur bravourös, sondern wie auf allzu flüchtigen Ideen erbaut.

Was dabei vor allem verloren geht, ist die Anschaulichkeit. In vielen Momenten hatte ich das Gefühl, das Stanišić einem wichtigen Detail viel Mühe angedeihen lässt, dabei aber über das Ziel hinausschießt, weil das Anschauliche eben eine Frage der Balance und nicht der Kompensation ist. Es mag vermessen wirken, dass ich über einen hochverdienten Autor solch eine Kritik verhänge, aber auch wenn ich viele meiner Eindrücke relativieren kann, dieser Eindruck bleibt doch bestehen.

Dabei ist Stanišićs Sprache keineswegs ohne Prägnanz. Vielmehr hat sie alles: Witz, Prägnanz, Ruhe, Dynamik, nur eben manchmal in für mich unpassenden Verhältnissen/Ausprägungen. So schwingt viel mit, aber wenig verdichtet sich zu einem Begriff, einem Verstehen, in das man sich begeben kann. Vielleicht ist die Erwartung, die aus dieser meiner Auseinandersetzung hervorscheint, auch einfach fehl am Platze. Vielleicht haben diese meine Erwartungen etwas mit der oben bereits genannten Aura der Sorgfalt zu tun, die (für mich) Stanišićs Romane umgibt. In jedem Fall ist „Herkunft“ ein wichtiges Buch, das mitunter auch blendend unterhält, aber einige Längen hat.

Offener Brief an Michael Kretschmer


Lieber Herr Kretschmer,

mit großem Interesse habe ich gestern die Diskussion in der Fernsehsendung Anne Will zum CO²-Gesetz verfolgt. Ich stimme Ihnen zu, dass es Kräfte braucht, die mit Vernunft und Augenmaß an den Problemen unserer Zeit arbeiten.

Dennoch möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass ich zutiefst verstört bin wegen der Art, mit der Sie Kevin Kühnert vorwarfen, er habe bei seinen Vorschlägen zur neuen Gesellschaft eine neue DDR (oder gleich Nordkorea) im Sinn gehabt. Sozialismus, das können sie überall nachschlagen, meint nicht unbedingt den historischen Kommunismus, der mehr totalitär/faschistisch als wahrhaft sozialistisch war und viel mehr plutokratische als kommunistische Elemente beinhaltete. Statt auf seine Argumente einzugehen, haben Sie einfach den Begriff, wie Sie ihn verstehen, gegen Ihn verwendet. Das nennt man Unterstellten und nicht Argumentieren.

Es ist mir ganz wichtig, dass Sie nicht glauben, ich wolle Ihre Wahrnehmung der DDR in Zweifel ziehen, ich stimme nur Ihrer Definition von Sozialismus nicht zu und glaube, dass Sie (um die Klage gegen Kühnert umzudrehen) mit solch Klitterungen von Begriffen das Klima anheizen und den vernünftigen Diskurs über Gesellschaftsmodelle eklatant schwächen – und tun damit genau das, was Sie ihm vorwerfen.

Zudem fürchte ich, dass viele Menschen den Eindruck bekommen werden, Sie glaubten wirklich, dass wir bereits in dem besten aller Systeme lebten. Sie erwähnten gestern “Die Weber” von Gerhart Hauptmann, ein grandioses Stück. Wie aber ein Bekannter von mir richtig erläuterte (Dank an dieser Stelle an Jan Kuhlbrodt, den ich hier zitiere): Die Weberei in dem Stück war verlagstechnisch organisiert, die Weber waren ähnlich wie selbstständige Paketzusteller heute, gewissermaßen Subunternehmer. Und Subunternehmer*innen werden nach wie vor unterbezahlt (und damit: ausgebeutet), das ist ein Fakt.

Wir leben nach wie vor im Kapitalismus, noch ist so etwas wie eine soziale Markwirtschaft Utopie, auch wenn der Begriff noch so oft für das verwendet wird, was derzeit als Wirtschaftsform in Deutschland etabliert ist. Anders kann ich mir nicht erklären, warum Menschen von ihrem Einkommen allenfalls überleben, nicht aber am Gemeinschaftsleben teilhaben können (#sozial1). Oder warum es Menschen mit sehr viel Geld und Menschen mit sehr wenig Geld gibt, obwohl beide im gleichen Maß zum Erhalt unserer Gesellschaft beitragen, nur an verschiedenen Stellen (#sozial2), etc.

Ein Begriff muss auch einlösen, was er verspricht, sonst ist er unzulässig.

Lieber Herr Kretschmer, ich mag nur ein Wähler sein, aber ich bin einer, der Ihnen sagt: ich halte Sie nicht für einen Populisten, aber gestern, in dieser Sendung, haben Sie sich streckenweise wie ein Populist und nicht wie ein vernünftiger Politiker geäußert. Ich hoffe sehr, dass meine Argumentation Ihnen an einigen Stellen einleuchten wird. Wenn Sie, wie Sie sagen, kleine Kinder haben, die in einer guten Welt leben sollen, dann, bitte, legen Sie doch nicht über jedes Denken Ihr Schema, sondern Denken Sie flexibel – dafür werden Sie als Politiker schließlich u.a. bezahlt.

Mit hochachtungsvollen Grüßen
Timo Brandt

Zu William Boyds “Die neuen Bekenntnisse”


Die neuen Bekenntnisse Bevor ich “Die neuen Bekenntnisse” las, hatte ich schon “Eines Menschen Herz” von William Boyd gelesen, ein Buch, das ich nur wärmstens empfehlen kann – vor allem den Leuten, denen “Die neuen Bekenntnisse” gefallen haben. Zwischen den Büchern gibt es ein paar Parallelen (nicht zu viele, aber sie fallen doch hier und da auf). Beiden gemein ist außerdem der epische Atem, in beiden Fällen wird ein ganzes Leben mit all seinen Auf und Abs, Ecken und Brüchen festgehalten.

Im Fall von “Die neuen Bekenntnisse” ist es das Leben von John James Todd, der in Schottland geboren wird und aufwächst und später, nach den Höllenfeuern des 1. Weltkriegs, im Berlin der Zwischenkriegszeit Stummfilmregisseur wird. Sein ehrgeiziges Ziel: die dreiteilige Verfilmung von Jean-Jacques Rousseau “Bekenntnissen”. Sämtliches technische Know-how der Zeit und viele innovative Einstellungen sollen den Film zu einem einzigartigen, sinnlichen Erlebnis machen. Aber Todd, so sehr er auch Künstler ist, kommt immer wieder das Leben und die Geschichte in die Quere…

Die Geschichte wird erzählt vom über 70jährigen Todd, der auf einer kleinen Mittelmeerinsel lebt und die Tage damit verbringt, alle seine Korrespondenzen und sonstigen Papiere zu sortieren und eben dieses “ehrliche” Buch über sein Leben zu schreiben, orientiert an der Offenheit von Rousseaus “Bekenntnissen”, dem Buch, das sein Leben prägte. Nach jedem Kapitel, das einen Abschnitt seines Lebens erzählt, reflektiert er seine Taten, leitet zum nächsten Teil über. Auf der Insel deuten sich allerdings auch ein paar letzte spannende Entwicklungen an.

Boyd bettet seinen Protagonisten, wie schon in “Eines Menschen Herz”, geschickt in die Geschicke und Ereignisse des Jahrhunderts ein; herausgekommen ist ein wendungsreiches Buch mit Sogwirkung, das dennoch eine gewisse Noblesse ausstrahlt. Boyd gelingt es, Todd eine sehr authentische Gefühlswelt zu verpassen – er ist ein gleichsam irritierender und doch sehr anschaulicher Charakter. Gepaart mit Boyds Gespür für die Grenzen des Individuums und den Wahn der Zeit, ergeben sich aus dieser Tatsache immer wieder intensive Szenen und Verläufe.

Die große Stärke von “Die neuen Bekenntnisse” und der Grund für die großartige Sinnlichkeit, die manchmal in dieser Prosa liegt, ist aber die (genau richtig dosierte) Detailverliebtheit, mit der Boyd die Arbeit von Todd, seine künstlerische Vision, schildert. Die spannende Geschichte tut ihr übriges, aber es sind die ungeheuer lebendigen und eindrücklichen Beschreibungen der Drehorte, Kameraeinstellungen, Ideen, die dieses Buch zu einem wirklich lesenswerten literarischen Werk machen, das in keinem Bücherschrank fehlen sollte.

Zu Florian Hartlebs “Einsame Wölfe”


Einsame Wölfe “Einem Einzeltäter traut man es scheinbar [anscheinend! – Anmerkung des Rezensenten] nicht zu, sich ohne direkte Anbindung an eine Gruppe zu radikalisieren und danach unter dem Denkmantel von politischem Fanatismus in Eigenregie loszuschlagen – als Ultima Ratio. […] Die Bezeichnung ‘Einzeltäter’ steht in diesen Fällen lediglich für die konkrete Tatplanung. Sie verneint nicht, dass die einschlägige Gewalt- und Ideologiefixierung der Täter Ursachen hat, dass ihre Taten Folge von Kommunikation und Interaktion mit Gleichgesinnten sein können und dass die Akteure sich angesichts von zunehmender Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft und des damit einhergehenden Diskurses motiviert fühlen. […] Sie wollen in erster Linie eine ethnische Minderheit im eigenen Land ins Mark treffen und stellvertretend die Gesellschaft als Ganzes. Gerade die Opferwahl unterscheidet den Rechtsterrorismus von anderen Varianten des Terrors – vom Linksterrorismus, der sich gegen Symbole des Kapitalismus richtet, und vom islamistischen Fundamentalismus, der den Westen und ‘Andersgläubige’ ins Visier nimmt. […] Dieses Buch will die längst notwendige Auseinandersetzung mit dem neuen rechten Terrorismus anstoßen, der gerade nicht importiert ist, sondern mitten unter uns entsteht.”

Einer der schlimmsten Terrorakte des 21. Jahrhundert wurde von einem rechtextremistischen Täter verübt: am 22. Juli 2011 zündete Anders Breivik im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe und erschoss anschließend 67 Menschen auf der Insel Utøya. Obwohl er zu einigen rechtsextremen Gruppen Kontakt hatte, plante er die Tat allein und führte sie auch allein aus. Genau fünf Jahre später erschoss der 18 jährige David Sonboly neun Menschen (die meisten mit Migrationshintergrund) im Olympia-Einkaufszentrum in München; auch er war ein Einzeltäter, der fast ausschließlich via Internet seine rechtsextremen Kontakte pflegte.

U.a. diese beiden miteinander verwobenen Terrorakte nimmt Florian Hartleb zum Anlass, in seinem Buch von einem Terrorismus der „einsamen Wölfe“ (von rechts) zu sprechen und ihn als eine der großen Gefahren unserer Zeit zu bezeichnen. Die Figuren, auf die er sich im Folgenden konzentriert (es sind etwa ein Dutzend konkrete Fälle) haben allesamt rassistisch oder ideologisch motivierte Straftaten begangen – von Amokläufern unterscheidet sie, dass nicht die persönliche Kränkung, sondern eine rechtsextreme Gesinnung, ein Weltbild oder ideologische Überzeugungen der Antrieb für die Taten waren; im einen Fall haben die Täter eine Sendungsauftrag, im anderen geht es ihnen nur um die Aufhebung ihrer Kränkung.

“Während bei islamistischen Tätern die Ideologie als zentraler Erklärungsansatz gilt, wird bei rechten Tätern die rassistische Gesinnung oft als Nebenaspekt abgetan.”

Hartleb durchleuchtet auch, in aller Kürze, die Ursprünge des rassistisch motivierten Terrors, die Standardwerke und Leitmotive dieser Szene, kommt auf den NSU und andere Formen des Terrors zu sprechen. Sein Buch ist ohne Frage ein wichtiger Beitrag und es weiß über weite Strecken mit seiner These zu überzeugen. Schwieriger wird es, wenn Hartleb die Psyche der einzelnen Täter zu analysieren beginnt – dabei häuft er teilweise zu viele Details an, manche davon werden einfach mal so in den Raum gestellt, manche genauestens hinterfragt; mitunter verirrt man sich in diesen Details und auch wenn Hartleb durch seine Darstellungsweise einen vielschichtigen Eindruck gewährt, wäre es doch besser gewesen, wenn er manchen Passagen ein einheitlicheres Narrativ gegeben hätte oder sie klarer sturkturiert hätte.

“Einsame Wölfe sind Teil eines globalisierten Rechtsterrorismus, eines virtuellen Netzwerks, in dem potenzielle Täter miteinander verbunden sind.”

Hartleb deckt einige klare Versäumnisse der Behörden auf und fördert Erschreckendes über die Vernetzung von Extremisten untereinander zutage. Sein Buch ist erfreulicherweise selbst kaum ideologisch aufgeladen, ihm geht es um die fehlende Auseinandersetzung und die Wichtigkeit seines Themas, nicht um die Einrichtung einer Front im Bedeutungskampf Rechtsterrorismus vs. islamistischer Terror (Julia Ebner hat in ihrem Buch „Wut“ eh schon gezeigt, wie wesensgleich diese beiden Extremismen sind).

Als Schlaglicht und übersichtlicher Einstieg taugt dieses Buch ganz wunderbar, zum Standardwerk dagegen nicht, dafür deckt es nicht genug ab, lässt einige Wege unbeschritten. An seinem Umfang gemessen ist es dennoch ausgesprochen informativ.

Die Spaltungen in der Gesellschaft (und generell unser Zeitalter) bringen eine höhere Anzahl radikalisierter Individuen hervor und darauf müssen Staat und Behörden vorbereitet sein, sie müssen möglichst früh eingreifen und bekannte Radikalisierungsprozesse irgendwie unterbinden. Hartleb nennt am Ende seines Buches ein paar gute Ansätze. Allein deswegen ist es lesenswert.

Zu dem Buch “Unsere Grundrechte” von Georg M. Oswald


Grundrechte.jpg „Die Grundrechte sind einfach, jeder kennt sie.
Sie heißen, kurz gefasst: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“

Das ist natürlich eine grobe, einfache Zusammenfassung. Aber auch wenn sich die Ideen hinter diesen Worten seit der französischen Revolution ausdifferenziert haben (klarerweise würde man, um eine der offensichtlichsten Wandlungen zu nennen, heute nicht mehr von Brüderlichkeit sprechen, weil diese geschlechtsspezifisch Wendung eine Hälfte der Menschheit ausklammert), es sind noch immer diese drei Bausteine, die das Grundgerüst jeder liberalen Gesellschaftsauffassung bilden.

Liberalität, Gleichberechtigung, Sozialität – die aktuelle Verbreitung dieser drei Grundsätze sind das Erbe und die gesellschaftliche Errungenschaft eines ganzen Zeitalters, ganz gleich wie problematisch und janusköpfig sie sich in einigen Fälle erwiesen haben und noch erweisen werden. Für viele, die an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (oder sogar erst in diesem Jahrhundert) in einem westlichen Industriestaat wie Deutschland geboren wurden, sind diese Werte nahezu selbstverständlich; ihre Würdigung gilt leider fast schon als obsolet.

Doch wir leben nicht nur in bewegten Zeiten, sondern müssen uns auch eingestehen, dass diese Grundsätze eigentlich nur auf dem Papier existieren. Sie müssen ausgeübt werden, um über die Verschriftlichung hinaus zu existieren – oder alles, was auf ihnen gründet, verliert irgendwann den Boden unter den Füßen.

„An dieser Stelle ist mir nur wichtig, Folgendes festzuhalten: Wenn wir wollen, dass die Grundrechte in unserem Leben Bedeutung haben, müssen wir sie vom Kopf auf die Füße stellen. E geht nicht darum, Listen auswendig zu lernen und Rechte aufzuzählen, deren Inhalt uns nicht klar ist. Wir sollten wissen, was unsere Rechte sind. Und, wie gesagt, eigentlich wissen wir das bereits […] mir geht es in diesem Buch jedoch darum, zu zeigen, wie sehr die Grundrechte in unseren aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen wirken, wo sie infrage gestellt, eingeschränkt, übergangen werden und wo wir aufgefordert sind, für sie zu kämpfen. Sie sind das Regelwerk für eine andauernde gesamtgesellschaftliche Diskussion.“

Georg M. Oswald, Autor und Jurist, macht sich in seinem Buch genau daran: die Grundrechte vom Kopf auf die Füße zu stellen. In seinem kurzen, schlichten, aber doch bemerkenswerten und vor allem anschaulichen Buch, zeigt er anhand der ersten neunzehn Artikel des Grundgesetzes (die im Prinzip die Grundrechte jedes Bürgers, jeder Bürgerin darstellen und stark an den allgemeinen Menschenrechten orientiert sind), wie wichtig, knifflig und erhellend die Auseinandersetzung mit den Grundrechten ist.

Denn sie sind nicht nur ein Katalog der wichtigsten staatlichen Grundsätze, sie stiften zu vielerlei Überlegungen an, sowohl metaphysischer als auch praktischer Natur. Oswald führt einige dieser Überlegungen vor und wahrt dabei eine nahezu perfekte Balance: ihm gelingt ein erfreulich zugänglicher Mix aus rechtlicher und philosophischer Betrachtung und Analyse. Dabei bringt er die Grundrechte konsequent in Verbindung mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten, mit Überlegungen der letzten Jahre, mit juristischen Fällen, Literatur, etc. Er stilisiert sich nicht einfach als Verfechter eherner Prinzipien, sondern bewegt sich, ambivalent, sorgsam und geduldig, durch die Materie, mit einem Auge für beides: Chancen und Probleme.

„Der große Nachteil der repräsentativen Demokratie besteht in der Herausbildung einer »politischen Klasse«. Im schlechtesten Fall ist sie geprägt durch Opportunismus, Fraktionszwang, Karrierismus und Lobbyismus.“

Er weist also sowohl auf die Dilemmata hin, die sich aus den Grundrechten (und den Apparaten und Strukturen, die diese gewährleisten sollen) ergeben, aber auch auf ihre Funktion als unabkömmliche Leitmotive. Seine Stellungnahmen sind differenziert und er hat den Mut, einige Punkte offen zu lassen; bei anderen wiederum die Weitsicht, doch einen klaren Punkt zu markieren. Er weist keine direkten Wege, führt aber die Leser*innen an vielerlei Themen heran, gibt ihnen einen Einblick in die grundsätzliche juristische Perspektive auf die Dinge und sagt auch, warum eine juristische Perspektive allein oft nicht reicht.

Kurzum: Dies ist eines dieser wunderbaren, besonnenen Bücher mit Aktualitätsbezug, denen ich viel mehr Leser*innen wünschen würde als dem ganzen polemischen Mist, der ständig im Gespräch ist. Ich fürchte ja, dass das Buch, weil es einfach „nur“ klug und anregend ist, wenig Aufmerksamkeit bekommen wird. Ich hoffe natürlich, dass ich mich irre. In jedem Fall: ich war dankbar, es lesen zu dürfen.

Zu Mascha Kalékos Gedichtband “Verse für Zeitgenossen”, neu aufgelegt bei dtv


Verse für Zeitgenossen besprochen beim Signaturen-Magazin.de

Zu Daniel Kehlmanns “Tyll”


Tyll Romane können unseren Horizont sprengen und im besten Fall setzen sie ihn dann auch wieder neu zusammen, bis wir gebannt sind von der “anderen” Wirklichkeit. Die letzten beiden Romane von Daniel Kehlmann, “Ruhm” und “F”, schienen sich bedenklich weit ins Postmoderne und in die Eigenreflexion zu neigen und sich gleichzeitig mit Zeitgeist schmücken zu wollen. In “Tyll” hat er meiner Meinung nach wieder zu dem Modus zurückgefunden, der seine stärksten Romane (für mich “Beerholms Vorstellung”, “Mahlers Zeit” und “Die Vermessung der Welt”) auszeichnet: die nahtlose Verknüpfung von Wirklichkeit und Phantastik, in deren Grauzone die ganze Palette von menschlichem Fehl und Fatum anzutreffen ist.

“Tyll” ist ein Eulenspiegelroman, ein Schelmenstück, formal wie inhaltlich, aber zugleich ist das Buch auch ein Zeitdokument. Und doch wieder nicht. Das lässt sich schwer verifizieren und auseinander differenzieren. Zu gekonnt spielt Kehlmann mit Sein und Schein, mit Fakten und Phantasmen, mit brutaler Realität und irrealem doppeltem Boden.

Den Rahmen für das Buch bildet im Wesentlichen die Zeit des dreißigjährigen Krieges von 1618-1648, allgemein eine Zeit der Unruhen und Umwälzungen, des Übergangs, auch vom Spätmittelalter in die Moderne (großartig beleuchtet wird diese Umbruchszeit in Philipp Bloms [[ASIN:3446254587 Die Welt aus den Angeln: Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700]]).

Protagonist ist nicht nur Tyll, wichtige Figur ist auch Friedrich der V., Winterkönig von Böhmen und eine der unglücklichsten Gestalten der deutschen Geschichte, und seine Frau Elisabeth aus dem englisch-schottischen Hause Stuart, sowie Athanasius Kircher, eine schillernde Gelehrtenexistenz. Kehlmann schlüpft im Verlauf des Buches nicht nur in ihre Haut, sondern auch in die einiger Nebencharaktere, die den Krieg und die Zeit auf ihre Art erleben, wahrnehmen. “In die Haut” ist hier nicht nur eine rhetorische Floskel: Kehlmann entfaltet hier wieder einmal eines seiner bestechenden Talente, nämlich die authentische Intonierung der Geisteswelten, in denen sich seine Charaktere bewegen, in all ihrer Profanität und Eigenständigkeit. Ich habe schon oft gehört, dass diese Art des inneren Monologs, der detaillierten Sezierung, Leuten auf die Nerven geht, was ich wirklich nicht verstehen kann. Ich bin immer wieder fasziniert wie kompromisslos Kehlmann seine Figuren nicht nur typisiert, sondern ganz tief in ihren jeweiligen Horizonten verankert, ja, einkerkert, auch in Relation mit den Gegebenheiten, die sie umgeben, in denen sie leben müssen. Er unterwirft sie quasi vollends den Realien.

Und doch wieder nicht. Denn da ist natürlich immer mehr zwischen Himmel und Erde, als die Geschichtsbuchweisheit aufzeichnen kann; hinter der Geschichte liegen die Geschichten von unzähligen Individuen und durch sie lebt die Geschichte, aber an ihnen bricht sie auch auseinander. Das “mehr” ist nicht nur die artistische und teilweise magische Kunst des Tyll Eulenspiegel, sondern die allgemeine Unschärfe der Wirklichkeit, die Kehlmann immer wieder herausstreicht, dann wieder zerstreut, die aber nie ganz verschwindet. In dieser Unschärfe tritt nicht nur der Aberglaube, das Mystische und Mythische zutage, sondern auch die Ungeheuerlichkeit des menschlichen Geistes, der menschlichen Vorstellung: Was kann der Verstand ertragen, was kann er erdenken, wie sind Erinnerungen gebaut und erzählen wir uns nicht selbst immer Geschichten, wenn wir erinnern, gibt es Erinnerung denn überhaupt, gibt es nicht nur Narrative, die wir erdenken und über unser Leben legen? Und ist nicht Geschichte oder sogar Wirklichkeit ein Narrativ, das, ebenso erfunden, nur im größeren Stil, unser aller Erinnerung und Wahrnehmung bestimmt?

Diese Fragen tun sich auf, mitten in einem scheinbar historisch akkuraten Szenario, das auf der Mikro- und Makroebene ausgelotet wird. Und in all dem offenbart sich das Übergreifende, Unfassbare und entzieht sich gleichsam. Die Kunst der Fiktion: ein Spiel mit Möglichkeiten, die so schmerzlich nah an der Gewissheit, am Ausweg, an der Sehnsuchtserfüllung und -verdrängung liegen, dass daraus ein tiefer Spiegel wird, so tief, dass man das, was gespiegelt wird, fast nicht mehr erkennen kann.

Es gibt allerhand Gründe, Tyll zu lesen. Es ist, alle Metaphysik und Meta-Textualität beiseite lassend, auch ein recht unterhaltsames Buch, finde ich. Man muss an Kehlmanns profan-phantastischer Art der Darstellung und seiner schnörkelosen Erzählhaltung gefallen finden, sonst wird einem das Ganze ungenießbar und wenig reizvoll erscheinen. Ich plädiere aber dafür, sich genau auf dieses Ungenießbare einzulassen: denn obwohl sein Schreiben Fiktion durch und durch ist und sich nur in den entscheidenden Momenten vollkommen ernst nimmt (was dann umso deutlicher wird) – Kehlmann gelangt darin zu einer Erscheinung der Wirklichkeit, die die Profanität unseres Daseins eben nicht nur darstellt, sondern verkörpert. Das ist mitunter unbequem und unschön. Aber der Mantel der Seriosität, den die Menschen um die Historie, die Wissenschaft, die Vernunft, das Ideal, die Kunst und den guten Willen geworfen haben, er erweist sich oft als Verschleierung der darin liegenden Unseriosität. Das stellt Kehlmann immer wieder, augenzwinkernd, aber auch bezwingend, dar. Für mich: große Erzählkunst.

Zu dem wichtigen Buch “Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie” von Hajo Funke und Walid Nakschbandi


“Viel unmittelbarer und weitreichender als anderswo ist die Entwicklung der Demokratie und ihrer Institutionen in West-Deutschland (und Österreich) immer auch abhängig von der Auseinandersetzung mit einer Geschichte, von der sich die Republik absetzte. Die Auseinandersetzung von Gesellschaft und Politik mit Rechtsextremismus und Antisemitismus ist in diesem Sinn auch ein Index für den Grad der Etablierung der demokratischen Institutionen und der demokratischen Kultur selbst.”

Der Klappentext von „Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie“ ist leicht irreführend, geht es doch in diesem Buch nicht um alle Probleme, mit denen die demokratisch organisierte gesellschaftliche Grundordnung in Deutschland derzeit zu kämpfen hat. Globalisierung, Finanzmarktwillkür und die damit verbundenen wirtschaftlich-sozialen Folgen werden nur am Rand gestreift (Für diese Themen empfehle ich eher „Kein Wohlstand für alle!?“ von Ulrich Schneider).

In diesem Buch geht es um die Bedrohung durch rechtextremistische und fremdenfeindliche Positionen, die in den Jahren der Geflüchteten-Krise neuen Aufwind bekommen haben und bereits seit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wie konnte das passieren? Diese Frage nimmt sich naiv und unbescholten aus, zumal die Geflüchteten-Krise und ihre Begleiterscheinungen oft als „Ursachen“ benannt werden, aber sie ist trotzdem folgerichtig. Denn wie können in einem Land, dessen jüngste Vergangenheit die Auswüchse und Folgen eines ungeheuerlichen Unrechtsregimes (oder zweier Unrechtsregime, was Ostdeutschland angeht) gesehen hat, in dem ähnliche Formen der Fremdenfeindlichkeit zu beispiellosen Gräueltaten geführt haben, die liberalen und toleranten Grundsätze so schnell zersetzt und offenkundig mit Füßen getreten werden?

“Für eine ganze Generation, die sogenannte Generation Golf, gab es nichts anderes als Helmut Kohl und eine zufriedene Bundesrepublik, die sich dann um Ostdeutschland zum wiedervereinigten Deutschland erweiterte. Man schien mit sich zufrieden und brauchte politisch nicht allzu wach sein. Man war sich seiner selbst bewusst. Große Konflikte schien es nicht mehr zu geben.”

Am Anfang – und das macht dieses Buch im Verlauf einer Nacherzählung über die Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft deutlich – stand das zähe Ringen einiger weniger, die sich im Deutschland der Adenauerzeit nicht mit einem Neuanfang begnügen, sondern die Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten und klar als Teil der deutschen Vergangenheit ausgestellt wissen wollten. Vielen Menschen in meiner Generation dürfte es gar nicht wirklich bewusst sein (und deswegen sollten auch sie dieses Buch lesen) wie lange es dauerte, bis die Gesellschaft und die mediale Öffentlichkeit zu einem offenen, deutlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorgedrungen waren. Erst 2005 (!) wurde z.B. in Berlin ein Denkmal für die 6 Millionen getöteten europäischen Juden errichtet.

Lange Jahre war die Diskussion in der Bundesrepublik umkämpft, das Thema wenig sensibilisiert. Wenn Paul Celan (dessen Eltern von den Nazis ermordet worden waren und der selbst in einem ihrer Arbeitslager nur knapp dem Tod entronnen war) sich auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1951 vom linken Schriftsteller Hans Werner Richter anhören musste, die Vortagsweise seines Gedichts „Die Todesfuge“ erinnere an die rhetorische Intonation eines Joseph Goebbels, zeigt das nur, dass selbst antifaschistisch, antikonservativ und antirestriktiv eingestellte Menschen die Tragweite der deutschen Vergangenheit vernachlässigten oder nicht verstanden. Als die jüdische Autorin Mascha Kaléko 1960 den Fontane-Preis der Akademie der Künste in Berlin ablehnte, weil das ehemalige SS-Mitgliedes Hans Egon Holthusen in der Jury saß, empfahl der Geschäftsführer der Akademie, Herbert von Buttlar, nachdem er Holthusens SS-Mitgliedschaft wegdiskutiert hatte, den Emigranten, wenn es ihnen hier nicht gefalle, doch einfach fortzubleiben. Noch in den 80er Jahren konnte Helmut Kohl nach Israel reisen und als nahezu einzigen Intellektuellen einen ziemlich dubiosen Journalisten wie Kurt Ziesel mit sich führen, ohne dass dies ungewöhnlich war für die Haltung der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber der Vergangenheit.

Der Kampf um das Anerkennen und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des dritten Reichs (und damit einhergehend: den Verbrechen der deutschen Bevölkerung, welche dieses Regime wählte und in großen Teilen stützte) währte lang und ist auch noch nicht abgeschlossen – auch das zeigt das Buch anhand einiger Beispiel aus neuster Zeit, wie etwa dem Film „Der Untergang“ (2004) oder dem Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013). Ein früher großer Rückschlag war hier sicherlich die Rede, die Martin Walser 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hielt, in der unter anderem von der „Auschwitz-Keule“ die Rede war und die Überwindung der deutschen Vergangenheit propagiert wurde.

“Die Bereitschaft zu solchen Aussagen kommt nicht von ungefähr. Autoren wie Walser […] bedienen Teile der deutschen Bevölkerung, und sie wollen ihre Motive nach einem Schlussstrich oder danach, die eigene Erfahrung als Opfer, sei es als Vertriebene, in Luftschutzkellern oder des nationalsozialistischen Systems selbst mehr zur Geltung gebracht sehen. Sie sehen sich als die unterschlagene Seite der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn diese Geschichte stets in den Familienromanen und erst recht in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum stand. […] Die Walser-Debatte repräsentierte den unwürdigen Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus vonseiten führender Kräfte in Politik und Wirtschaft”

Anhand solcher Beispiele und ihrer Einbettung zeigt das Buch die von Anfang an und bis heute herausgeforderte Demokratie Deutschland. Die Herausforderung ging anfangs vor allem von ihrer Vergangenheit aus, heute auch in großen Teilen von ihrer Zukunft. Denn wo liegt diese Zukunft?

“das Ausmaß von Politik- und Demokratieverdrossenheit sowie die Enttäuschung darüber, wie Demokratie funktioniert, ist schon länger dramatisch. Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass trotz des relativen Wohlehrgehens der Bundesrepublik Deutschland die Enttäuschungen in den letzten 25 Jahren nicht abgenommen, sondern sich zum Teil noch verstärkt haben.”

Lange Zeit über lag die Zukunft in einer Annäherung der deutschen Staaten, nach 1989 schien die Zukunft auf einmal gesichert und idyllisch. Doch gerade in dieser Zeit, den 90er Jahren, gab es wieder vermehrt fremdenfeindliche und rechtsextreme Gewalttaten. Das fehlende Eingeständnis, dass Deutschland bereits seit 20, 30 Jahren ein Einwanderungsland war und die Probleme bei der Eingliederung der ostdeutschen Gebiete, führten bei vielen perspektivlosen Menschen zu einer Suche nach Sündenböcken und nach alternativen Ideologien.

Von diesen ersten Erschütterungen aus führt ein direkter Weg in die heutige Zeit, zu den Bewegungen von Pegida und zu Parteien wie der AfD, die allerdings nicht so schnell und durchschlagend möglich gewesen wären ohne Thilo Sarrazin, der kurz nach dem Anfang der Finanzkrise eben jenen Topos vom Sündenbock ausnutzte, um armen- und migrantenfeindliche Thesen unter dem Deckmantel der zeitgeschichtlichen Kritik zu publizieren.

“Die Sarrazin-Antwort heißt: Es ist der Sündenbock, der Schuld ist. Nicht die Finanz- und Ökonomiepolitik. Und nur die Abschaffung des Sündenbocks hilft uns aus der Krise, nicht eine andere Krisenreaktionspolitik.”

Die neuen Sündenböcke sind die Muslime oder allgemein die eingewanderten Menschen, die uns angeblich auf der Tasche liegen und unsere Kultur zerstören wollen. Dass ausländisch stämmige Mitbürger*innen seit vielen Jahren mehr in die Sozialsysteme einzahlen als sie von dort beziehen, scheint die meisten Stammtische noch nicht erreicht zu haben, ebenso wenig wie die Studien, die nachweisen, dass viele nach Deutschland emigrierte Menschen sich Integrationsmaßnamen wünschen, die aber vielfach einfach nicht gewährleistet werden (und anfangs, in der Zeit der ersten Gastarbeiter*innen, überhaupt nicht gewährleistet wurden, stattdessen wurden diese Menschen wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt).

Der Umgang mit dem Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist ein weiteres zentrales Thema dieses Buches. Die Geschichte dieses Umgangs in den Jahren seit 9/11 wird kurz, aber anschaulich, beleuchtet. Die Verteufelung des Islam hat dabei an einigen Stellen Züge angenommen, die beschämend sind, wenn man weiß (und alle Leute sollten es doch wissen), dass gerade in Deutschland die Verteufelung einer Religionsgemeinschaft bereits einmal zu ungeheuren Verbrechen geführt hat. Und engstirnig und plump, vorurteilsbehaftet und destruktiv sind diese Verteufelungen in den meisten Fällen sowieso.

“Alle Probleme der islamischen Welt werden aus zeitlosen Vorschriften des Islam abgeleitet. Eine Verzerrung und Irreführung gleichermaßen.”

Die bundesdeutsche Demokratie ist herausgefordert und viele Menschen in diesem Land sind zurecht unzufrieden mit den demokratischen und gesellschaftlichen Missständen. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht gut leben, viele Menschen in diesem Land wurden von den Mechanismen der Wirtschaft abgehängt, es wird zu wenig in Bildung und Wohnungsbau investiert und zu wenig in puncto Integration- und Toleranzprogramme getan. Das alles sind Missstände, die es anzugehen gilt, aber stattdessen wählen Leute aus Frustration die AfD, die weder eine „kleine Leute“-Partei ist, noch irgendwie zur Verbesserung der bundesdeutschen Situation beitragen wird, wenn sie das einlösen wollen, was in ihrem Wahlprogramm steht. Weder die Sozialsysteme, noch ein Großteil der Bevölkerung würden von diesem Programm profitieren. Stattdessen würden liberale und soziale Errungenschaften stark darunter leiden. Die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ fasste die autoritäre Position der AfD einmal gut zusammen:

“Für die AFD enden die Freiheiten der Individuen dort, wo sie mit dem Willen einer angeblichen deutschen Volksmehrheit und ihrer Volkskultur kollidieren. Die Partei vertritt ein Politikverständnis, in dem die Mehrheit immer Recht hat und Minderheiten sich unterzuordnen haben.”

Das ist eine Gesellschaft, in der ich nicht leben will. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der die Mehrheit sich der Minderheit gegenüber verpflichtet fühlt. Der Wert einer Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten, mit ihren Bedürftigen, mit ihren Kindern umgeht. Und die Demokratie kann immer nur so stark sein wie die Gesellschaft. Ob die Gesellschaft die Herausforderungen, der sich unsere Demokratie gerade zu stellen hat, annimmt, ist daher entscheidend.

Man spürt, dass dann und wann eine unterschwellige Wut in dieses Buch einfließt, nicht was die Aussagen und Stellungnahmen angeht, aber in der Klarheit und der schnellen Reaktion auf eingebrachte Beispiele konservativer oder regressiver Argumentation kann man sie spüren. Diese Wut lässt das Buch hier und da vielleicht etwas zu perfekt sitzend wirken, weil wenig Raum für Ambivalenzen bleibt. Allerdings macht das Buch von Anfang an klar, dass es darin um die Darstellung einer Gefahr, ihrer Geschichte und ihrer Ausmaße, und nicht um eine erschöpfende, umfassende Analyse der derzeitigen Situation geht. „Deutschland – Die Herausgeforderte Demokratie“ ist eine Studie, die aufklärerisch wirken soll, die zeigen soll, wie wichtig es nach wie vor ist, die demokratische und tolerante Grundordnung zu unterstützen und zu verteidigen – sie ist eine Errungenschaft, die nicht selbstverständlich ist.

Das zu zeigen, knapp und eindringlich und mit einer Fülle an Beispielen, die anschaulich und klar sind, und vielen (aber nicht überhand nehmenden) Verweisen auf Studien, Originalzitate und andere Phänomene des Zeitgeistes, ist der Verdienst dieses Buches. Ein wichtiges Buch über die Vergangenheit und die Zukunft unserer Demokratie.