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Ein Meisterwerk langsam anschwellender Ungeheuerlichkeit


Der Schrei der Eule

Am 19. Januar dieses Jahres hätte die große Erzählerin Patricia Highsmith ihren 100. Geburtstag gefeiert. Sehr zu meiner Freude hat der Diogenes Verlag anlässlich dieses runden Jubeljahres einige Roman ihrer Stammautorin neu aufgelegt, darunter auch meinen persönlichen Favoriten “Der Schrei der Eule”.

Es ist schwierig, über Lieblingsromane zu reden, zu schreiben. Allzu oft neigt man (zumindest ich) aus Begeisterung dazu, die Vorzüge des Romans zu überzeichen und provoziert damit Widerspruch und Enttäuschungen. Ich werde also versuchen, das Buch und seine Vorzüge etwas sachlicher, als ich eigentlich will, zu beschreiben.

Gleich die erste Szene ist schon ungeheuerlich und eigentümlich beruhigend, ein Sinnbild für die Atmosphäre des ganzen Buches: Ein Mann beobachtet durchs Fenster eine junge Frau bei ihren Abendverrichtungen in der Küche. Schnell ist klar, dass der Mann die Frau nicht kennt, aber nicht die Absicht hat, ihr etwas anzutun. Auch sexuelle Motive hat er nicht, er will sie nicht nackt sehen oder sich ihr in irgendeiner Weise nähern. Ihr unkompliziertes, allem Anschein nach frohes Dasein beruhigt ihn einfach; es geht ihm besser, wenn er ihr zusieht und sich vorstellt, wie glücklich sie ist in ihrem Haus, mit ihrem Freund, mit ihrem Leben.

Robert, der Mann, ist schon öfter bei dem Haus gewesen, seitdem er einmal per Zufall aus der Ferne auf die Frau aufmerksam wurde. Jetzt zieht es ihn regelmäßig hin, auch wenn er sich jedes Mal schwört, dass es das letzte Mal ist. Die Frau und ihr Freund haben schon den Verdacht, dass manchmal jemand ums Haus schleicht, aber bisher ist er immer davongekommen. Dann, eines Abends, entdeckt sie ihn doch, reagiert aber völlig anders, als er erwartet hat …

Manche würden Highsmit Werke als pyschologische Romane, manche vielleicht sogar als Thriller bezeichnen, aber ihre besten Bücher sind vor allem eines: mustergültige Tragödien, nach antikem Vorbild. Ein paar kleine Vorzeichen und dann ein einziger Augenblick, ein Initialmoment, und schon ist etwas ins Rollen geraten, dass die Leser*innen über hunderte von Seiten in Atem hält. Die Schicksalhaftigkeit die den Wendungen und Zuspitzungen des Plots dabei anhaftet, hat gleichsam etwas Absolutes und etwas Ungeheuerliches – eine Kombination, in welcher der Ambivalenz des freien Willens, seiner Getriebenheit und Machtlosigkeit wunderbar Ausdruck verliehen wird.

Highsmith gelingt es immer wieder greifbare und doch nicht bis ins letzte durchschaubare Charaktere zu zeichnen, die einen mit ihren Entscheidungen und Denkmustern in den Wahnsinn treiben und zu denen man doch ein enges Band knüpft, um deren Entscheidungen man bangt und von deren Schicksal man sich schwer distanzieren kann. Tom Ripley ist der bekannteste dieser Charaktere, aber in “Der Schrei der Eule” warten auch mindestens drei von ähnlichem Kaliber.

Dabei ist der Roman eigentlich sehr unscheinbar, in vielen Bereichen, und läuft so langsam an, dass man glauben könnte, es werde zum Schluss vielleicht eine Eskalation geben, einen Turn, einen Kniff und das sei der ganze Plan. Stattdessen nimmt der Roman plötzlich nach einem Viertel des Textes Fahrt auf und auf einmal weiß man gar nicht mehr, wie es dazu kommen konnte, dass die Situation so zugespitzt ist und man fast genauso angespannt auf jede neue Entwicklung wartet, wie die Hauptfiguren.

In “Der Schrei der Eule” kann man einer großen Ungeheuerlichkeit beiwohnen, die mit einer ganz kleinen Ungeheuerlichkeit beginnt. Vielleicht nicht anders beginnen kann. Es beginnt mit einer Unschuld im Gewande eines Verbrechens und endet mit Verbrechen im Gewande der Unschuld. Es geht um die Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes und um die fatalen Ideen, die sich der Mensch zurechtlegt, um die Einsamkeit zu überwinden. In jedem Fall: für mich ein Meisterwerk. So, jetzt ist der Überschwang doch durchgebrochen.

 

Eine gut geschilderte Hauptfigur in einem nicht ganz ausgereiften Roman


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Die 15jährige Paola fühlt sich in ihrer Haut nicht sehr wohl: sie findet sie ist zu groß, zu unansehnlich, monströs geradezu; ein Erlebnis in der Schule hat sie vor kurzem noch mehr davon überzeugt, dass sie mit ihrer Statur und ihrem Wesen nirgendwo hineinpasst. Am liebsten verbringt sie Zeit mit ihrem körperlich beeinträchtigten Bruder Richie, mit dem sie das soziale Wohnviertel durchstreift, das an ihr eigenes gut betuchtes Viertel angrenzt. Paolas Familie ist nämlich reich – ihr Großvater hat viele Gebäude in der Stadt gebaut, unter anderem auch das soziale Wohnviertel.  

Eines Tages ergibt sich dort eine Begegnung und ihr eigener Bruder freundet sich mit dem jüngeren Bruder eines Klassenkameraden an, die beiden beginnen Schach gegeneinander zu spielen. Auch zwischen ihr und dem Klassenkameraden bahnt sich eine neue, verwirrende Vertrautheit an, doch Paola will nach den letzten Erlebnissen in der Schule niemandem mehr vertrauen, auch wenn sie spürt, dass im Wohnviertel und der Gestalt Antonios ein ganz neues Leben auf sie wartet …

Gleich vorweg muss man sagen, dass Raffaella Romagnolo in ihrem Buch einen ungewöhnlichen Drahtseilakt wagt. „Dieses ganze Leben“ ist über weite Strecken ein Coming-of-Age-Jugendroman, in dem manche Beziehungen ein bisschen zu non-ambivalent dargestellt sind. Womit ich meine: die Charaktere zeigen wenig Entwicklung und Variation in ihrem Verhalten, sie bleiben ihrer Ausrichtung verhaftet. Manche Konflikte werden während der Handlung intensiviert, andere nur im passenden Moment mal aufgerufen, aber gar nicht wirklich thematisiert.

In manch anderen Punkten ist das Buch aber ambitionierter. So schildert die Autorin mitunter bewundernswert anschaulich das Innenleben der Protagonistin und man hat am Ende das Gefühl, das zwar vieles unbefriedigend offen/unverhandelt bleibt, aber die Entwicklung Paolas durchaus sehr stimmig und gelungen ist.

Der Knackpunkt ist halt, dass dadurch viele andere Figuren und Handlungselement zum Ornament verkommen. Man hat das Gefühl, alle Elemente der Story schlagen sich vor allem in Paola nieder und sind abseits davon oft relativ eindimensional. Jetzt kann man argumentieren, dass das doch das Verhältnis einer Teenagerin zur Welt gut wiedergibt: was sich nicht direkt auf sie bezieht (und sie erzählt ja die Geschichte) ist nun mal Beiwerk.

Das mag sein und ich glaube, dass es Leute gibt, die mit dieser Leseerfahrung dann auch zurecht sehr zufrieden sind. Mich hat es ziemlich genervt (auch das passt aber eigentlich zum Teenager-Tunnelblick), wie sehr die anderen Charaktere streckenweise ernstgenommen werden, aber trotzdem nie aus ihren Rollen ausbrechen, sondern immer schön der Definition der Protagonistin verhaftet bleiben, so als würde sie letztendlich alles durchschauen und immer Bescheid wissen.

„Dieses ganze Leben“ ist ein teilweise starker, teilweise aber auch ziemlich luftiger Roman. Als Geschichte schön und teilweise schlimm, als Roman zu wenig ausgearbeitet.  

Ein Buch über das Leben, was es ist, wie man es führt


Maschinen wie ich

Man nennt sie Uchronien, oder, einfacher, Was-wäre-wenn-Geschichten. Was wäre geschehen, wenn Antonius die Schlacht bei Actium gewonnen hätte? Was wäre geschehen, wenn Wilhelm der Eroberer bei Hastings verloren hätte? Was wäre geschehen, wenn die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen hätten? – dies drei Beispiele für Fragestellungen, mit denen sich sogar die Geschichtswissenschaft beschäftigt (wenn auch meist nur, um ex negativo darauf hinzuweisen, warum die faktischen Ereignisse die Weltgeschichte auf eine bestimmte Art beeinflusst haben). Johannes Dillinger hat ein interessantes Buch über Uchronien in Geschichtswissenschaft, Film und Literatur verfasst, das ich jeder Person, die das Thema interessiert/fasziniert, empfehlen kann.

Allerdings findet Dillinger nur wenige der von ihm angeführten literarischen Werke wirklich bemerkenswert. Und in der Tat ist die Uchronie dort eher selten anzutreffen (sie ist auch abzugrenzen von Utopien und Dystopien, die in der Zukunft und nicht in alternativen Zeitlinien spielen und von Filmen und Büchern, die trotz einer Abänderung der Vergangenheit keinen Fokus auf die historischen Entwicklungen abseits ihres Plots legen). Meist sind dann auch nicht gut durchdacht und die historische Plausibilität wird im Verlauf oft zugunsten der Handlung vernachlässigt.

Dennoch gibt es ein paar spannende Beispiele, am bekanntesten sind wohl Robert Harris „Vaterland“ und „The man in the high castle“ von Philip K. Dick, wobei letzteres keine Uchronie im strengen Sinne ist. Dieter Kühns Grotesken in „Ich war Hitlers Schutzengel“ wären vielleicht noch zu nennen, viele weitere Titel kann man dem Buch von Dillinger entnehmen. Das erschien 2015 und enthält daher nichts zu Ian McEwans neustem Roman „Maschinen wie ich“. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass Dillinger auch an diesem etwas auszusetzen gehabt hätte – aber ich glaube, er hätte auch anerkennen müssen, dass McEwan in mancherlei Hinsicht eine wunderbare Uchronie verfasst hat.

Einer der Gründe, warum meiner Meinung nach „Maschinen wie ich“ eine tolle Uchronie (und ein tolles Buch) ist: McEwan übertreibt es nicht. Sein England der frühen 80er Jahre ist kein wahnwitziger Ort, in dem die historische Kurskorrektur zu einem epischen Konflikt oder einer anderen Ausnahmesituation geführt hat. Eigentlich scheint sogar alles recht gewöhnlich, sieht man von der Tatsache ab, dass der Protagonist Charles Friend sich schon auf den ersten Seiten einen humanoiden Roboter mit künstlicher Intelligenz zulegt.

Der Mensch erschafft bei McEwan also schon Maschinen nach seinem Ebenbild (sogar unterteilt in Geschlechter, die einen heißen Adam, die anderen Eve). Möglich ist das, weil der Pionier der Computerwissenschaft, Alan Turing, sich nicht 1954 infolge einer quälenden Hormonbehandlung (dieser „chemischen Kastration“ musste er sich aufgrund einer Verurteilung seiner Homosexualität als Straftat unterziehen) umbrachte, sondern stattdessen auf vielen Feldern (Quantenmechanik, Logik, Computerintelligenz) weitarbeitete und ihm mit einigen Kolleg*innen weitreichende Durchbrüche auf diesen Feldern gelangen. Er machte diese Informationen öffentlich zugänglich, damit alle von ihnen profitieren konnten. Und so führten seine Entdeckungen auch zu der ersten Konstruktion von künstlicher Intelligenz.

Auf der anderen Seite aber sind die neusten Errungenschaften auch der Militärdiktatur in Argentinien zugänglich, die nun, mit spezieller Raketentechnik im Rücken, keinen Grund sieht, die Falkland Inseln nicht ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben. Maggie Thatcher will das (wie auch in realen Historie) verhindern und entsendet die britische Flotte, was in der Folge zu turbulenten politischen Verwicklungen führt …

Während die Geschichte der britischen Politik und Gesellschaft die Story immer begleitet (und genau in dem Maße bedingt, wie es Politik in westlichen Gesellschaften meistens tut, wenn man zur Mittelschicht gehört: es ist Gesprächsthema und hin und wieder auch wichtig, aber nicht permanent) liegt der Fokus eindeutig auf den Verwicklungen, die sich für den Protagonisten Charles aus dem Kauf seines neuen Androidenbegleiters ergeben. Denn der schaltet sich sehr bald in das Leben seines neuen „Besitzers“ ein, stellt die Ehrlichkeit von dessen neuer Freundin Miranda infrage und entwickelt eine Persönlichkeit, nebst einem Interesse für Kultur und Moral. Alles kein Bein(oder Mittelhand)bruch, denkt man, aber langsam und still wird Adam zum Freund, aber auch zum Nebenbuhler, zum Gewissen und zum nervigen Mitbewohner, zum Geldverdiener und zum Katalysator verschiedenster Entwicklungen …

McEwan ist ein großartiges Buch gelungen. Selbst wenn man den uchronischen Aspekt weglässt, ist es tolles Werk über Moral, Kunst, Gefühle, kurz: über das Menschsein. Wie McEwan das beschreibt, anhand der Dreieckskonstellation von Adam, Charles und Miranda darstellt, auf allen Ebenen, ist hohe Romankunst. Es gibt in diesem Buch alles: Spannung, Intensivität, Witz und Schönheit. Und bei all dem zeigt McEwan immer wieder, dass er ein Händchen für Charaktere hat. Er spielt sie nicht gegeneinander aus, um einen billigen Punkt zu machen, sondern führt uns mitten in ihre Zwiste und Versuchungen, Ideen und Ängste.

Es wird viel verhandelt in „Maschinen wie ich“, von den hohen Fragen was Leben bedeutet und wie man es erkennt, wie man es richtig führt, bis zu Fragen, warum man Rache will und wie das Zeitgeschehen uns gleichsam angeht und nicht angeht. Alles in allem: ein Buch, in dem man sich sehr mit seinem Menschsein konfrontiert sieht. Ich wüsste nicht, was man von Kunst mehr verlangen könnte.

Eine sehr menschliche Adaption der Gestalt Jesu und seines Wirkens


Die Passion

Mit ihrem neusten Werk, das will ich direkt vorwegnehmen, ist Amélie Nothomb meiner Ansicht nach ein berührendes, intimes Portrait einer eigentlich überlebensgroßen, vollständig mythologisierten Figur geglückt. Jesus von Nazareth, der, ganz gleich ob er nun eine historische Person oder eine Metapher war (letzteres würde die Glaubwürdigkeit seiner Lehre nicht untergraben, ja, vielleicht sogar stärken), vielen als Erlöser gilt, als Inbegriff der Weisheit, des Glaubens und der Liebe, als menschgewordener Gott.

Genau so und doch ganz anders stellt ihn Nothomb dar, ja ich wage zu behaupten, in ihrem Buch „Die Passion“ ist Jesus menschlicher als in jeder anderen Darstellung (zumindest unter denen, die mir bekannt sind), ohne das die Autorin seine göttliche Abstammung und Mission negiert. Aber sie lässt die Passions- und darüber hinaus die Lebensgeschichte von Jesus in einem ganz neuen Licht erscheinen, ihn selbst zu Wort kommen, nicht nur als Sprachrohr Gottes.

Das Buch beginnt mit dem Prozess gegen Jesus, in dem all die Leute, an denen er Wunder gewirkt hat, Zeugnis gegen ihn ablegen:

„Der nun sehende Blinde klagte über die Hässlichkeit der Welt, der einst Aussätzige beschwerte sich, dass die Almosen ausblieben, der Fischereiverband vom See Genezareth warf mir vor, ich hätte ein paar Fischer bevorzugt behandelt, und Lazarus schilderte, wie grauenhaft es sich anfühlt, wenn einem der Leichengeruch an der Haut klebt.“

Nicht Dankbarkeit, sondern Misstrauen und Unverständnis schlagen ihm entgegen und er nimmt dies zwar hin, aber in seinem Innern, das er auf den folgenden 120 Seiten offenlegt, hadert er mit dieser Entwicklung, die er als unausweichlich ansieht, deren Wucht und Absurdität in ihm aber trotzdem Zweifel, Scham und Widerstände schüren.

„Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd. Trotzdem begreife ich nicht, was in sie gefahren ist, dass sie mich derart mit Schmähungen überhäuften. Und dieses Unverständnis betrachte ich als Scheitern, ja als Verfehlung.“

Wir erleben im Folgenden einen Jesus Christus, der zwar in seiner Weisheit und seinem Plädoyer für Liebe und das einfache Leben sehr seinem Vorbild aus der Bibel gleicht, aber ungleich zerrissener ist, was seine Erfahrungen auf der Erde und sein Schicksal angeht. Er rekapituliert sein Wirken und erzählt von den Menschen, die seinen Weg begleitet haben, vom widerspenstigen Judas, seinem Ziehvater Joseph, seiner großen Liebe Maria Magdalena, seiner Mutter Maria – und seine Betrachtungen dieser Begegnungen sind voller Eingeständnisse.

„Meine Mutter ist auch ein viel besserer Mensch als ich. Das Böse ist ihr fremd, sie erkennt es nicht einmal, wenn sie darauf stößt. Ich beneide sie um dieses Unwissen. Mir ist das Böse nicht fremd. Um es bei anderen zu erkennen, muss ich es notwendig in mir tragen.“

Trotz dieser Entzauberung ist Nothombs „Passion“ ein zutiefst spirituelles, emphatisches Werk. Der große Unterschied zur biblischen Geschichte ist, dass Jesus keineswegs den Geist über den Körper stellt, sondern dem Körper (diesem Motiv, das Nothoms Werk wie kein zweites durchzieht) sogar besondere Bedeutung und Schönheit beimisst. So sieht er zum Beispiel die beste Entsprechung der Erfahrung von Gott nicht im Glauben oder der rein geistigen Liebe, sondern in körperlichen Empfindungen, allen voran im Durst.

 „Es ist kein Zufall, dass ich mir diese Weltgegend ausgesucht habe: Politisch zerrissen war mir nicht genug, ich brauchte ein durstiges Land. Nichts ist der Empfindung, die ich erwecken will, ähnlicher als der Durst. […] Es gibt Menschen, die glauben, keine Mystiker zu sein. Sie irren sich. Wer einmal wahrhaft gedürstet hat, hat diesen Status schon erreicht. Wenn ein Dürstender den Wasserbecher an die Lippen setzt – dieser unbeschreibliche Moment ist Gott. […] Versucht, diese Erfahrung zu machen: Nachdem ihr ausdauernd gedürstet habt, trinkt ihr den Becher nicht auf einen Zug aus. Nehmt einen einzigen Schluck, den ihr für ein paar Sekunden im Mund behaltet. Ermesst das Entzücken. Dieses Wunder ist Gott.“

Und auch die Liebe, körperlich wie seelisch, bringt er mit dem Trinken zusammen:

„Liebe fängt immer damit an, dass man mit jemandem etwas trinkt. Vielleicht, weil keine andere Empfindung so wenig enttäuscht. […] Wer jener, die er bald lieben wird, zu trinken anbietet, verspricht, dass der Genuss nicht hinter der Erwartung zurückbleiben wird.“

Die Passion, das körperliche Leiden, bei dem wir ihn als Leser*innen am Ende des Buches begleiten, empfindet er zwar als seine Aufgabe, aber eine widersinnige. Er glaubt nicht das darin etwas Heilsames liegt und ertappt sich selbst über das ganze Buch immer wieder bei dem Wunsch, mit Maria Magdalena fortzugehen und ein normales, unscheinbares Leben fern seiner Bestimmung zu führen. Seinem Vater, Gott, wirft er vor, dass er seine eigene Kreation, die Menschen, nie wirklich verstanden hat, gar nicht verstehen könne, weil er keinen Körper habe. Und auch die Kreuzigung und ihre fatale Wirkung wirft er ihm vor.

„Denn was mein Vater mir auferlegt, zeugt von einer so tiefen Verachtung des Körpers, dass davon für immer etwas zurückbleiben wird.“

Man könnte die Figur, die Nothomb kreiert hat, als eine Art Verschmelzung des biblischen Jesus mit Epikur bezeichnen, mit einem Schuss mittelalterlicher Mystik. Sie ist in keinem Moment eine Parodie oder negative Verzerrung des biblischen Jesus, richtet aber seinen Fokus neu aus, verlagert seine Sicht, sodass er als Mensch unter Menschen etwas mehr von der menschlichen Seite der Geschichte versteht und nicht allein die göttliche Perspektive vertritt.

Er beschreibt die Menschheit als genau jene Mischung aus Abgründen und Tugenden, die sie ist. Menschen sind eigensinnig, misstrauisch, schwerfällig, auch dumm und kleinlich, aber eben auch selbstlos, spontan, können überraschen und sich überwinden.

„Eine merkwürdige Art, die mein Vater da erschaffen hat: auf der einen Seite Niedertracht mit Meinungen, auf der anderen Großherzigkeit, die nicht denkt.“

Gläubige werden/würden wohl dennoch Anstoß nehmen dieser Jesus-Figur, allein schon deshalb, weil er seinen Vater für fehlbar und in mancherlei Hinsicht für unwissend hält. Aber das Plädoyer, welches dieses Buch vorbringt, zeichnet dennoch ein wunderbar genaues Bild einer Menschheit, die immer hin und her gerissen ist zwischen spirituellen und körperlichen Bedürfnissen. Ein Bild auf dem sich sehr viel leichter ein Glaube aufbauen lässt als auf der unfehlbaren Gestalt der Bibel, denn es hat ein durch und durch menschliches Antlitz.

Zu “Muldental” von Daniela Krien


Muldental Erst letztens habe ich mit „Als ich mit Hitlers Schnapskirschen aß“ von Maja Pränkels einen Roman gelesen, der sich mit der Wende- und Nachwendezeit in einem ostdeutschen Dorf auseinandersetzt, mit besonderem Fokus auf die neonazistischen Auswüchse. Auch Daniela Kriens Geschichten sind oft bevölkert von Menschen der Nachwendegeneration – und nicht selten von Menschen, die einem „abgehängten“ Teil der Gesellschaft angehören.

Zwar gibt es auch wehrhafte Momente in den Erzählungen, doch der Fokus liegt auf dem Ertragen und Erdulden, dem Fertigwerden mit den Umständen. Alleinerziehende Mütter, überbeanspruchte Ehefrauen, perspektivlose Angestellte – um sie, um ihre vernarbten Sehnsüchte, ihre Wünsche nach einer neuen Chance, nach besseren Bedingungen, geht es.

Viele Geschichten aus „Muldental“ scheinen dabei direkt oder indirekt darauf abzuzielen, dass eine möglichst breite Anzahl von Menschen mit ihren Protagonist*innen und Schicksalen identifizieren kann. Was dabei auf dem Einband als „Schönheit und Klarheit von Kriens Sprache“ gepriesen wird (Maren Keller, Der Spiegel), erscheint mir eher wie eine Nüchternheit, die die Ernüchterung, das permanente Arrangieren und die Trostlosigkeit im Dasein der Protagonist*innen herausstreicht – durchaus ein probates Stilmittel.

Manchmal wirkt gerade dieses Bemühen um das Übereinstimmen von Ton und Stimmung enervierend, was wohl auch beabsichtigt ist und dazu beiträgt, dass die Geschichten unter die Haut gehen. Auch die eingefahrenen Vorstellungen, die in den Geschichten vorherrschen, sind oft (zumindest für einen Vertreter meiner Generation) schmerzlich, aber folgerichtig. In der Welten, die diese Protagonist*innen bewohnen, kann man schwer alte Rollenbilder über den Haufen werfen oder weitergehende Moralvorstellungen entwickeln – schließlich müssen Kinder versorgt und der Alltag will bewältigt werden. Das gibt den Geschichten dann und wann einen etwas biederen Anstrich und man möchte manche Protagonist*innen anschreien: verhaltet euch nicht so gewöhnlich, so erwartbar!

Aber gerade das ist das Schmerzliche an diesen Texten, dass sie die Ausweglosigkeit, die Macht der Umstände bis in ihre Sprache, bis in die Gewöhnlichkeit ihrer Figuren hinein tragen. Insofern widerspreche ich auch dem offiziellen Klappentext, der mir das Buch letztlich als feelgood-Lektüre verkaufen will. In diesen Geschichten geht es um die Schattenseiten des wiedervereinigten Deutschlands, das eben beileibe kein Paradies ist, sondern sowohl Altlasten als auch neue Probleme in sich trägt, unter denen ein nicht geringer Teil der Bevölkerung leidet – ein Teil, der noch immer zu wenig repräsentiert ist, in der Politik sowieso und in der Literatur schon auch. Hier leistet Daniela Krien durchaus Abhilfe.

Zu Philippe Djians Roman “Marlène”


Marlene Philippe Djians neuer Roman spielt in einer nicht näher benannten amerikanischen Kleinstadt/Vorstadt, vermutlich in den New England Staaten. Es gibt nicht eine/n konkrete/n Erzählende/n, vielmehr schlüpft Djian je nach Kapitel – und manchmal auch mitten im Kapitel oder mitten im Absatz – von einer Hauptfigur in die andere und schildert ihr Empfinden, ihr Erleben, ihre Sicht, ihre Lebenswirklichkeit.

Hauptfiguren sind die beiden Kriegsveteranen und engen Freunde Dan und Richard, Richards Frau Nath, ihre Tochter Mona und die Schwester von Nath, Marlène. Das Eintreffen von letzterer ist der Ausgangspunkt des Romans und zugleich der unmerkliche Startschuss für das weitere Geschehen, der lange nachhallt, spät die volle Lautstärke entfaltet.

Zu Anfang sitzt Richard noch wegen Geschwindigkeitsübertretung im Knast, Dan (der versucht, in einer freundlichen Stadtgegend wieder Anschluss ans Zivilleben zu bekommen) lässt gerade die 18jährige Mona ein bisschen bei sich wohnen, weil die sich nur noch mit ihrer Mutter in die Haare kriegt und Nath ist genervt davon, dass ihre Schwester bei ihr aufkreuzt, hat sie doch mit ihrem vom Krieg geschädigten, ständig saufenden und krumme Dinger drehenden Mann und ihrer pubertierenden Tochter genug am Hals.

Es braucht etwas Zeit, bis man sich in dem Roman zurechtfindet. Es gibt keine Anführungszeichen, die eine wörtliche Rede anzeigen oder kursive Passagen, die Gedachtes vom Rest der Handlung abheben. So muss man sich als Lesende/r selbst zurechtfinden, aufmerksam sein, sich auf die jeweiligen Figuren einlassen. Diese ungefilterte Erzähltechnik hat allerdings den Vorteil, einen ungekünstelten, direkten Eindruck zu hinterlassen. Die Figuren werden nicht plastisch durch äußere Beschreibungen, sondern durch die Ausformungen ihres Innenlebens, das Djian frei vor unseren Augen brodeln und fließen lässt.

Auch aus einem weiteren Grund kommt diese Art des Erzählens dem Buch zugute: es gibt keinen dramatischen, erzählerischen Bogen, nur die unmittelbare Wucht der Ereignisse und wie die Figuren sie wahrnehmen, verarbeiten. Kaum etwas in diesem Roman kann man kommen sehen (obwohl man sich im Nachhinein durchaus einreden kann, man hätte es irgendwie kommen sehen), so fein streut Djian Ahnungen ein, die gleich wieder vom tatsächlichen Geschehen verweht werden und erst später in vollendeter Form wieder auftauchen, so willkürlich erscheint vieles in dem Buch und doch so folgerichtig, wenn es erst geschehen ist.

Bei all dem gelingt es Djian, das Wesen seiner Charaktere auf geisterhafte Weise auszuleuchten – allen voran Marlène. Obwohl meist nur über sie gesprochen wird und sie sich kaum in den wenigen Passagen, die aus ihrer Sicht sind, entfalten kann, begreift man doch den Kern ihrer Seele, ihre bescheidenen, aber dennoch starken Sehnsüchte, Ängste, Schmerzen und Hoffnungen. Djians Figuren waren noch nie Heilige und auch in diesem Roman finden sich hauptsächlich halbfertige, halbverworfene, fragile Existenzen, abgestrampelt, unangeglichen, wie von allem übervorteilt. Und darin dem durchschnittlichen Leben nicht krampfhaft, sondern unverstellt nah.

„Marlène“ ist ein Buch, das langsam anläuft, aber letztlich wieder eine Wucht ist, wie so vieles, was Djian geschrieben hat. Manchmal kommt die Handlung fast zur Ruhe, aber der Sturm in einem solchen Buch klingt nie ganz ab – und schon kommt die nächste Welle.

Zu Djians frühen Storys in “100 zu 1”


“Sie tranken und die Nacht brach herein. Ihre Seelen öffneten sich wie exotische Blumen, sie sahen allmählich klarer.”

Diese Geschichten steigen aufs Gas. Sie sind mit einer gewissen Schnurzegal-Haltung geschrieben; sie fabulieren gern, auf leicht virtuose, leicht obszöne, leicht trashige, leicht abwegig-banale Art. Sie handeln fast ausnahmslos von Leuten, die ein wenig gegen das Leben sind. Von Verlierern, die sich noch über Wasser halten wollen. Von schrägen Typen, die sich in bizarren Szenarien bewegen. Immer geht es ein bisschen um die Liebe, ein bisschen um das Wahre, aber vor allem ums Überleben. Es gibt Gewalt und Sex und Außergewöhnlichkeiten, aber vor allem eine Orientierungslosigkeit, die sich in allem Bahn bricht, jeder einzelnen Geschichte und ihren Motiven – ganz egal, ob es um lustmachende Leichen, Experimente mit 100 zu 1 Ergebnissen oder eine Utopie mit Frau und Vogel geht. Die Plots wirken hingerotzt, die Sprache ist immer scharf und hat immer ihre Stärken, einen Sog und einen Drive.

Ich mag Philippe Djian und ich mag, wie er schreibt. Und irgendwie mag ich auch die meisten seiner Geschichten, auch wenn ich wenig aus dem ziehen kann, was darin verhandelt wird. Djian hält sich nicht mit Botschaften auf und er ist ein bisschen vernarrt in kleine, aufregende Widrigkeiten. Er pflastert die Straßen seiner Protagonisten mit allerlei ulkigen bis heftigen Schlaglöchern und irgendwie ist alles egal und doch richtig wichtig, überlebenswichtig.

“Die Sonne strömte voll herein, wie Eiweiß.”

Ein bisschen fühlt man sich an Bukowski erinnert, aber Djians Prosa hat eine viel größere Beschleunigung und sehr viel weniger Selbstreferenzialität. Der Autor verschwindet hinter seinen Schöpfungen, in den jungen Männern, die sich etwas Beständiges wünschen, einen Rückzugsort von der Welt und eigentlich wollen sie alles und sie stehen irgendwie kurz vor dem nichts, dass überall ist.

Ich würde “100 zu 1” nur empfehlen, wenn es den Leser nicht stört, dass die Erzählungen sich kaum aufbauen, sondern einfach einschlagen. Sie entwickeln sich nicht einfach, sie explodieren, implodieren, steuern auf einen Höhepunkt zu. Sie sind von einer ungeheuren Lebendigkeit, dann wieder voller aufgehängter Verzweiflungslust. Sie rufen eine schräge Begeisterung hervor, wie Kerouac oder Henry Miller oder der schon erwähnte Bukowski, aber sind manchmal auch gar nicht so beeindruckend. Halt gut. Guter Stoff.