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Zu “Erinnerungen an Leningrad” von Joseph Brodsky


Erinnerungen an Leningrad In “Erinnerungen an Leningrad” sind zwei autobiographische Essays von Joseph Brodsky zusammengefasst, die er beide im amerikanischen Exil und auf Englisch verfasste. Im ersten Text von 1976 (also vier Jahre nach seiner Ausweisung aus Sowjet-Russland) setzt er sich mit seiner Jugend, dem Aufwachsen und Leben in seiner alten Heimat auseinander. Im zweiten Text, geschrieben 1984, stehen der Tod und die Beziehung zu seinen Eltern im Mittelpunkt; zwölf Jahre hatten diese vergeblich gehofft, ihn in den USA besuchen zu dürfen, ihn noch einmal zu sehen.

Es ist zugleich berührend und profan, wie Brodsky seine Erfahrungen in Russland und mit der sowjetischen Realität schildert, wie er seine Einschätzungen in poetische, manchmal auch kuriose Bilder kleidet und wie liebevoll und doch auch ein bisschen sardonisch er die Beziehung zu seinen Erinnerungen inszeniert. Der erste Text bietet auch heute und in seiner Kürze ein beeindruckendes Bild von den Verhältnissen in Sowjetrussland (der zweite ebenso, aber eher nebenbei); es ist keine vollendete Analyse, aber sie trifft, so hatte ich das Gefühl, ein paar wesentliche Punkte.

Der zweite Text, halb Elegie, halb Meditation, fließt dahin, in kurze Kapitel unterteilt, die sich immer wieder den Eltern auf verschiedene Weise annähern, sprüht aber auch vor kleinen Ideen, Zuspitzungen, rührenden bis komischen Details. Langsam kristallisiert sich durch die vielen Annäherungen ein Bild des Zusammenlebens heraus. Es ist ein Text, der die universelle und doch ganz persönliche Beziehung zu den Eltern darstellt, die Hoffnungen, die Glücksfälle, die Schwierigkeiten, die Klüfte, und die Sprünge über die Klüfte, die Atempausen und den Trab.

Ich kann nur dazu raten, Brodsky zu lesen – er war wirklich das, was man einen Meister des Essays nennen darf, selbst wenn man sparsam mit solch heiklen Bezeichungen umgehen will. Ohne gelehrig oder verkopft zu wirken, vermitteln diese Texte viel Besonderes und auch viel Allgemeines, stellen es nah zueinander, führen vom einen zum anderen, geschickt und anschaulich. Angenehm und faszinierend, so könnte man diesen Stil, diese Dynamik, auf der Gefühlsebene beschreiben. Ganz viel Ruhe liegt in diesen Texten, aber auch ganz viel wohlformulierte Unruhe.

 

Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”


Schreiben heißt sein Herz waschen Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.

In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.

Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).

Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.

Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.

Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!