Philippe Djians neuer Roman spielt in einer nicht näher benannten amerikanischen Kleinstadt/Vorstadt, vermutlich in den New England Staaten. Es gibt nicht eine/n konkrete/n Erzählende/n, vielmehr schlüpft Djian je nach Kapitel – und manchmal auch mitten im Kapitel oder mitten im Absatz – von einer Hauptfigur in die andere und schildert ihr Empfinden, ihr Erleben, ihre Sicht, ihre Lebenswirklichkeit.
Hauptfiguren sind die beiden Kriegsveteranen und engen Freunde Dan und Richard, Richards Frau Nath, ihre Tochter Mona und die Schwester von Nath, Marlène. Das Eintreffen von letzterer ist der Ausgangspunkt des Romans und zugleich der unmerkliche Startschuss für das weitere Geschehen, der lange nachhallt, spät die volle Lautstärke entfaltet.
Zu Anfang sitzt Richard noch wegen Geschwindigkeitsübertretung im Knast, Dan (der versucht, in einer freundlichen Stadtgegend wieder Anschluss ans Zivilleben zu bekommen) lässt gerade die 18jährige Mona ein bisschen bei sich wohnen, weil die sich nur noch mit ihrer Mutter in die Haare kriegt und Nath ist genervt davon, dass ihre Schwester bei ihr aufkreuzt, hat sie doch mit ihrem vom Krieg geschädigten, ständig saufenden und krumme Dinger drehenden Mann und ihrer pubertierenden Tochter genug am Hals.
Es braucht etwas Zeit, bis man sich in dem Roman zurechtfindet. Es gibt keine Anführungszeichen, die eine wörtliche Rede anzeigen oder kursive Passagen, die Gedachtes vom Rest der Handlung abheben. So muss man sich als Lesende/r selbst zurechtfinden, aufmerksam sein, sich auf die jeweiligen Figuren einlassen. Diese ungefilterte Erzähltechnik hat allerdings den Vorteil, einen ungekünstelten, direkten Eindruck zu hinterlassen. Die Figuren werden nicht plastisch durch äußere Beschreibungen, sondern durch die Ausformungen ihres Innenlebens, das Djian frei vor unseren Augen brodeln und fließen lässt.
Auch aus einem weiteren Grund kommt diese Art des Erzählens dem Buch zugute: es gibt keinen dramatischen, erzählerischen Bogen, nur die unmittelbare Wucht der Ereignisse und wie die Figuren sie wahrnehmen, verarbeiten. Kaum etwas in diesem Roman kann man kommen sehen (obwohl man sich im Nachhinein durchaus einreden kann, man hätte es irgendwie kommen sehen), so fein streut Djian Ahnungen ein, die gleich wieder vom tatsächlichen Geschehen verweht werden und erst später in vollendeter Form wieder auftauchen, so willkürlich erscheint vieles in dem Buch und doch so folgerichtig, wenn es erst geschehen ist.
Bei all dem gelingt es Djian, das Wesen seiner Charaktere auf geisterhafte Weise auszuleuchten – allen voran Marlène. Obwohl meist nur über sie gesprochen wird und sie sich kaum in den wenigen Passagen, die aus ihrer Sicht sind, entfalten kann, begreift man doch den Kern ihrer Seele, ihre bescheidenen, aber dennoch starken Sehnsüchte, Ängste, Schmerzen und Hoffnungen. Djians Figuren waren noch nie Heilige und auch in diesem Roman finden sich hauptsächlich halbfertige, halbverworfene, fragile Existenzen, abgestrampelt, unangeglichen, wie von allem übervorteilt. Und darin dem durchschnittlichen Leben nicht krampfhaft, sondern unverstellt nah.
„Marlène“ ist ein Buch, das langsam anläuft, aber letztlich wieder eine Wucht ist, wie so vieles, was Djian geschrieben hat. Manchmal kommt die Handlung fast zur Ruhe, aber der Sturm in einem solchen Buch klingt nie ganz ab – und schon kommt die nächste Welle.