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Ein Abstieg in die dunklen Tiefen der Manipulation


370e89085a36280e7bffcfc250ecfcf77739bdad-00-00 1955 veröffentlichte Vladimir Nabokov einen Roman, der bis heute von einigen als (sprachliches) Meisterwerk gepriesen wird, während andere ihn für seinen problematischen Umgang mit dem Thema Kindesmissbrauch kritisierten und kritisieren. In “Lolita” verfällt der Protagonist Humbert Humbert der 12jährigen Dolores Haze und entführt sie, nach dem Unfalltod ihrer Mutter, auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten, auf der er sie systematisch sexuell missbrauchen will.

Schockierend, abgesehen von der generellen Natur ihrer Beziehung, ist, dass nicht etwa Humbert Lolita im weiteren Verlauf der Handlung manipuliert, vielmehr ist es umgekehrt: Lolita, die bereits Erfahrung mit Sex hat, lässt sich auf Humberts Wünsche ein, allerdings nur um sein Begehren und seine Verliebtheit ausnutzen; sie verlangt Geschenke von ihm und setzt ihren Willen bei verschiedenen Punkten durch, entzieht sich Stück für Stück – und verlässt ihn schließlich für jemand anderen. So zumindest die Darstellung bei Nabokov.

Natürlich ist dies die Darstellung der Ereignisse aus der Sicht Humbert Humberts. Und er sieht sich als großen Liebenden, als jemanden mit einer verbotenen, aber reinen Passion. In dieser verqueren Logik könnte das, was er bei Lolita als Manipulation, als ein Ausnutzen wahrnimmt, auch schlicht ihr Versuch sein, zu überleben, irgendwie die Kontrolle über ihre Situation zu behalten.

Es ist diese Frage, dich mich bei “Lolita” immer am meisten beschäftigt hat: Inwieweit ist der Verbrecher Humbert gefangen in seiner eigenen Logik und Wahrnehmung der Welt? Oder anders gesagt: inwieweit verbiegt er seine Wahrnehmung und seine Logik, um sein Begehren als etwas Mögliches, etwas Gutes und Reines vor sich selbst darstellen zu können. Man kann gegen Nabokovs Roman viel vorbringen, aber diese Ambivalenz ist meiner Ansicht nach in dem Buch angelegt.

Kate Elizabeth Russell zieht die Geschichte von der anderen Seite auf (allerdings insofern entschärft, als ihre Protagonistin immerhin bereits fünfzehn ist und ihr Englischlehrer, mit dem sie schläft, eine wichtige, aber nicht die einzige Bezugsperson ist) und insofern war für mich bei Meine dunkle Vanessa ein Punkt besonders interessant: Inwieweit stellt sie das Opfer als gefangen in der Logik und Wahrnehmung des Täters dar? Ist ihre Protagonistin in den Bann dieser Logik/Wahrnehmung geraten und handelt deshalb so, wie sie handelt?

Ich wurde nicht enttäuscht. Meine dunkle Vanesse entpuppte sich als gründlicher und mitunter heftiger Abstieg in die Tiefen der Manipulation und zeigt auf erschreckende Weise, wie sehr Machtverhältnisse/-gefälle unsere Einschätzung von Situationen verzerren können und wie Menschen (in solchen Fällen meist Männer) durch Manipulation eine ganz eigene, für sie vorteilhafte Form von Wahrnehmung und Erinnerung kreieren können.

2013 schrieb die Autorin Alissa Nutting mit ihrem Roman Tampa ebenfalls eine Art Gegenstück zu Nabkovos “Lolita”, aber auf andere Weise. Ihre Protagonistin, eine Lehrerin, wird sexuell angezogen von Jungen an der Schwelle zur Pubertät. Obgleich sie sich weniger vormacht als Humbert Humbert und ihr Verlangen nicht in irgendeine Form von Überhöhung kleidet, ist sie wie er geradezu besessen davon, einige Jungen ihrer Schule zu verführen und geht immense Risiken ein.

Allerdings ging Tampa in meinen Augen, im Gegensatz zu Meine dunkle Vanessa, als Geschichte nicht ganz auf. Wohl auch deswegen, weil es schwerer ist, wenn der Täter eine Täterin ist und die Jungen, die sie begehrt, als sehr willens dargestellt werden, ihr Begehren zu erwidern; die klassischen Geschlechterstereotype machen den Missbrauch schwerer greifbar und die expliziten Sexszenen tun ihr übriges. Aber die größte Schwäche von Tampa würde ich, nach der Lektüre von Meine dunkle Vanessa, in der Psychologie der Figuren verorten.

Denn gerade die ist hier gelungen und macht dieses Buch so stark und besonders: es wird die Geschichte nicht nur aus der Opferperspektive erzählt, sondern sowohl die Psychologie des Opfers als auch die des Täters behutsam und trotzdem konsequent und umfassend herausgearbeitet. Wo Nabokovs Fokus eher auf Humberts Schwärmerei und Passion liegt und Nutting sich kaum um die Psychologie schert, sondern vielmehr auf Voyeurismus und Drastik setzt, gelingt es Russell fulminant zum Kern der eigentlichen Frage vorzustoßen: Was ist das für eine Beziehung, wie entsteht sie, was macht sie aus, was für Schäden richtet sie an?

Eine Frage, die natürlich in Abgründe führt, aber dergleichen vermag gute Literatur: uns in Abgründe führen, die Tiefen erforschen, ohne dass wir uns hinabstürzen, uns darin verlieren müssen. Meine dunkle Vanessa schont die Leser*innen sicher nicht, aber in dieser Schonungslosigkeit liegt auch die große Kraft dieses Buches. Dennoch: Triggerwarnung. Nur lesen, wenn man auf einen Abstieg gefasst ist.

P.S.: Nicht nur der Vollständigkeit halber will ich hier auch noch das Buch “The cat came back/Die Katze kam zurück” von Hilary Mullins erwähnen, ein Jugendroman, allerdings ein sehr reifer (und das einzige Werk der Autorin). Er hat die Form eines Tagebuchs, geschrieben aus Sicht der 17jährigen Stevie, die ebenfalls eine schon länger andauernde Beziehung zu ihrem Lehrer hat, die sie erst im Nachhinein als missbräuchlich begreifen kann. Bei Mullins geht die Selbstverleugnung der Protagonistin so weit, dass sie anfangs ihre Gefühle für ihre neue Teamkollegin Andrea verdrängt.

“Die Katze kam zurück” ist insofern besonders, als die Befreiung von der missbräuchlichen Beziehung darin mit der Entdeckung der eigenen Sexualität einhergeht. Erst im Nachhinein stellt Stevie fest, dass es in der Beziehung zum Lehrer nicht um Intimität oder Gefühle ging, sondern vor allem um Macht, besser gesagt: sein Vergnügen an der Machtausübung und ihrer Bereitschaft, Macht über sich ausüben zu lassen.