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Ko Un und “Die Sterne über dem Land der Väter”


“Der Dichter muss viele Tage geweint haben, bevor er zum Dichter wird.”

“Ein Gedicht ist ein Gedicht. Doch was ihm an Eindruck, Empfindung, Gedanke und auch Inspiration zugrunde liegt, ist von Fall zu Fall ebenso verschieden, wie es das ausformulierte lyrische Korpus, das Sprachgewand und der Rhythmus sind, über den der Leser oder Hörer den Zugang zu suchen und, wenn er Glück hat, zu finden vermag. Danach beginnt die Interpretation. Und ein wahrhaftes Gedicht, das ist seine unbeendbar-unendliche Interpretation.”
Aus dem Nachwort

Ko Un, geboren 1933, ist Bürger und Dichter in einer der zerrissendsten Regionen im zwanzigsten Jahrhundert, der Halbinsel Korea. Nach einer Odyssee unter japanischer Zwangs-Herrschaft und einem Bürgerkrieg ist das Land seit 1953 geteilt in einen kommunistisch-faschistischen Norden und einen halbherzig-demokratischen Süden.

Ko Un selbst lebte nach dem Bürgerkrieg eine Weile in einem buddhistischen Kloster, dann begann er zu dichten, sehr schnell auch engagiert, musste bald Haftstrafen absitzen und wurde höchstwahrscheinlich mehrmals schwer gefoltert.

Wie viele Koreaner wünschte er sich vor allem eine Wiedervereinigung des Landes. Was uns in Deutschland nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks gelungen ist, ist in Korea noch in utopischer Ferne. Ein Volk, das kaum ethnische oder religiöse Unterschiede kennt, ist nach wie vor geteilt durch den 35. Breitengrad, auch 18 Jahre nachdem dieser Gedichtband bei Suhrkamp erschienen ist. Und die Kluft wird tiefer, wenn man den Dichtern des Landes glauben kann.

“Trauer ist keine Fiktion. Wer hätte in seinem Leben nie geweint.
Lange waren die Frauen in unserem Land buchstäblich die Tränen,
waren die Tränen, die sie weinten, sich selber zu trösten.”

“Das vergangene Jahrzehnt habe ich Freundschaften vertieft.
Nun soll mein Trachten, setz ich mir zum Ziel,
ganz dem Land unserer Väter gelten.”

Ko Un ist kein klassischer Poet. Er ist ein engagierter Lyriker, bewusst und bodenständig. Der Feinsinn und die literarische Gestaltung mit der er die Welt einfängt, leben vor allem von Allegorien und Geschichten aus Landleben, Historie und Literatur. Was nicht heißt, dass es bei ihm keine starken Bilder gibt oder keine Magie. Vielmehr ist er, wenn man das so sagen kann, ein Sprachrohr für das Wesen Koreas und seiner Menschen. Am besten trifft es vielleicht Siegfried Schaarschmidt, einer der Übersetzer wenn er im Nachwort schreibt, “dass dieser Koreaner weltweit zu den großen Engagierten gehört, ist das eine; wichtiger erscheint mir seine Begabung, Botschaften völlig aus dem Persönlichen zu vermitteln.”
Seine Gedichte sind in der Tat sehr persönliche Betrachtungen – aus denen aber ein allgemeines Bewusstsein herausklingt, eine Sehnsucht, ein Glaube, eine Stimme, die nicht nur lamentiert, sondern berichtet, was nicht vergessen werden darf.

“Heimat ist weder ein Traum,
noch ist die verlassene Heimat Wirklichkeit.

Versehen mit einem guten Nachwort, allerlei Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten, ist dieses Buch eine gute Gelegenheit, Korea durch die Augen eines seiner mitteilsamen und klugen Bewohner zu betrachten und kennen zu lernen. In einer (nicht formalen, aber inhaltlichen) Symbiose aus Dichtung und Erzählung wurde hier erreicht, was Dichtung nicht immer, ja, nur selten gelingt: Nah am Menschlichen, Fassbaren zu bleiben, ohne die lyrischen Aspekte zu vernachlässigen. Für alle, die gerne eine Stimme Koreas hören wollen, eine Empfehlung.

“Die Geschichte läuft behäbiger als diejenigen an der Spitze.”

Link zum Buch

Ein menschlicher Aufruf, eine Lehrstunde in Humanität: Albert Camus’ “Weder Opfer noch Henker”


“Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.”
Aus: -Licht und Schatten-

1952 trennten sich die unter dem Banner des französischen Existenzialismus lose verbundenen Schriftsteller und Philosophen Albert Camus und Jean-Paul Sartre im Streit. Es ging um Camus Buch Der Mensch in der Revolte und dessen zentrale Aussage, mit der Sartre und auch andere intellektuelle Linke in Frankreich sich nicht abfinden konnten: das Beharren auf dem Individuum und die Nivellierung der Geschichte und des Kampfs der Systeme zugunsten einer Utopie der Einigkeit und Gerechtigkeit; Revolution nicht im Großen, Ganzen, sondern in jedem einzelnen Menschen.
Überholte Theorie, der man eine brachialere, sozialistisch-kritisch-politische und globale Praxis gegenüberstellen musste, so war die Meinung des Kreises um Sartre.

Schon 1946 erschien der Essay “Weder Opfer noch Henker” in der Zeitschrift Combat. Es ist die erste Ausformung des Gedankens, den Camus 6 Jahre später in seinem großen Essayband vollenden würde.

“Weder Opfer noch Henker” ist nun also beinahe 70 Jahre alt. Ein politisch-philosophischer Essay kann solche Entfernungen der Zeit nicht ohne Abstriche überstehen. So hat sich die damals höchst aktuelle Bedrohung und Furcht vor einem West-Ost Konflikt gewandelt – andere Probleme, die nicht unbedingt mit diesem vergleichbar sind, traten an seine Stelle.
Warum also noch diesen Essay lesen?

“Ja, was man heute bekämpfen muss, ist die Angst und das Schweigen und damit die Entzweiung der Gemüter und der Herzen, die sie zur Folge haben. Was man verteidigen muss, ist der Dialog und die weltweite Kommunikation zwischen den Menschen. Abhängigkeit, Ungerechtigkeit und Lüge sind die Geißeln, welche diese Kommunikation unterbrechen und diesen Dialog verstummen lassen. Deshalb müssen wir sie ablehnen. Aber diese Geißeln bilden heute den eigentlichen Gegenstand der Geschichte, und mithin betrachten viele Menschen sie als notwendiges Übel. Es stimmt zudem, dass wir der Geschichte nicht entkommen können, da wir bis zum Hals darin stecken. Aber man kann danach streben, in der Geschichte zu kämpfen, um jene Seite des Menschen zu bewahren, die ihr nicht angehört.”

Nach wie vor stehen wir vor den Problemen, die Camus in diesem kurzen Zitat aufgreift. Ja, man muss sogar sagen, dass sie noch viel brisanter geworden sind, weil sie sich seit der Zeit von Camus erster Warnung wirklich in unserem Denken, den politischen Realitäten und gesellschaftlichen Systemen festgesetzt haben und verinnerlicht wurden. Dass dies ein Missstand ist, wird wohl niemand bezweifeln und doch laufen wir alle weiter mit und glauben, es müsse sich etwas Großes oder Ganzes ändern, bevor wir uns ändern – das System müsste anders sein, bevor wir anders werden können, dabei ist es eben, wie Camus in seinem späteren Werk ausführt, genau umgekehrt.

Wer das Zitat oben gelesen hat, kann sich selbst überlegen, ob dieser Essay heute noch lesenswert ist, oder nicht. Ich für meinen Teil denke, dass es ein unglaublich wichtiges Buch ist. Der Teil in uns, der meint, dass die Geschichte ein notwendiges Übel ist, dem wir uns alle unterwerfen müssen, ist in den letzten Jahren voranmarschiert – das Schweigen hat an einigen Stellen aufgehört und hat sich (dadurch) an anderen Stellen vertieft.

Albert Camus war jemand, den man fast schon als grenzenlosen Humanisten beschreiben könnte – doch eher passt André Gide’s Ausdruck: Er war ein menschlicher Humanist. Und sein Mut und sein Engagement, sein Wille die Lage der Menschen zu verbessern und für eine Welt zu kämpfen, in der es keinen legitimen Mord gibt und sich Freiheit und Gerechtigkeit die Waage halten, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Gewiss, wir reden hier von Utopien, von Idealen. Aber sind nicht gerade diese beiden Ideen, trotz ihrer Wirkungslosigkeit im Angriff und in der Expansion, immer noch die besten Verteidigungsmittel, die ein einzelner Mensch gegen Welt und Übel haben kann, der Gedanken, auf dem sich alle Gute letztendlich aufgebaut hat?

Und wenn es eine Utopie ist… – “ich war immer der Ansicht, wenn ein Mensch, der auf menschliche Verhältnisse hofft, ein Verrückter sei, so sei jener, der an den Ereignissen verzweifle oder sie dulde, ein Feigling. Und von nun an wird es nur noch den Stolz geben, unbeirrbar jene großartige Wette mitzumachen, die schließlich darüber entscheiden wird, ob Worte stärker sind als Kugeln.”