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Eine Reise den Fluss hinab und zu den Untergründen menschlichen Daseins


Obgleich es in Olivia Laings erstmals 2011 erschienenen Reiseessay viele literarische Bezugspunkte gibtallen voran Virginia Woolf, aber auch Kenneth Grahame, Iris Murdoch, Lewis Carroll, um nur einige zu nennenfühlte ich mich schon zu Beginn der Lektüre vor allem an ein knapp fünfzehn Jahre vorher erschienenes Buch erinnert, nämlich W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn.

Im Zentrum beider Bücher steht eine Wallfahrt, die angetreten wird, um einer inneren Leere zu entkommen. Bei Sebalds Ich-Erzähler ist es der Abschluss einer größeren Arbeit, bei Laing das Ende einer Liebesbeziehung. Natürlich ist Laings Reise echt, während Sebalds nur Fiktion ist, aber gerade deshalb ist es faszinierend, dass sie oberflächlich betrachtet zahlreiche Ähnlichkeiten aufweisen.

Da ist zum Beispiel die Tendenz, die Umgebung zu einem Abbild, einer Chiffre der Menschheitsgeschichte zu machen. Beide, Sebald und Laing, ziehen mit Vorliebe Details heran, Beobachtungen, und schlagen aus ihnen ein paar Funken, in deren Licht man mit einem Mal tiefe Einblicke in Mythologie, Zivilisation und Philosophie erhält. Beide beschreiben wie sie von der Welt um sie herum mit dem Menschsein konfrontiert werden, seiner Erhabenheit und seiner Nichtigkeit.

Und beide Werke, Saturn und Fluss, tragen außerdem ein nie endendes Memento Mori mit sich: Vergänglichkeit ist sowohl in Sebalds Prosa, seiner Schilderung des Verfalls und der Unwirtlichkeit des ländlichen Suffolks, als auch bei Laings flirrend-essayistischen Reiseschilderungen, den Fluss Ouse hinab, ein ständiger Begleiter der Narration und sogar beide Titel sind Metaphern für das Auseinanderfallen bzw.

Vorbeirinnen der Dinge.
Freilich gibt es auch Unterschiede. So sind Laings Schilderungen nicht selten in zärtliche Melancholie getaucht und mit einer liebevollen Offenheit geschrieben, die Sebalds Buch nicht besitzt, da es mehr zu einer gemessenen Ironie neigt. Was bei Sebald Entropie ist, ist bei Laing immer noch Pracht, sei es auch verfallene, entgangene Pracht. Bei ihr ist alles unmittelbarer und deshalb manchmal auch unstet, bei Sebald hat alles seinen Platz, der Stil ist präzise und geschliffen.

Man könnte es auch anderes formulieren: Bei Laing geht es um die Dinge, auf die es ankommt, bei Sebald um das, was fehlt. Sebalds Prosa schürt ein Ende, Laing einen immerwährenden Neuanfang, eine Wiederholung, an der man noch teilhaben kann.

“Zum Fluss” ist ein tröstliches Buch. Es zeigt uns, dass wir einfach nur den nächsten Wanderweg nehmen, in die nächste ländliche Ecke der Welt fahren müssen, uns zum nächsten Fluss oder Meer begeben können, um wieder ergriffen zu werden vom ganzen Schauspiel der Natur und seinem Nachhall in all unserem Tun und Denken. Zwar erinnert es uns permanent an das Verschwinden und Enden, entsinnt sich aber in diesem Erinnern und Aufzählen auch permanent des Glücks, der Freude, des Genusses.

Kurzum: ein Buch, das viel zuwege bringt und in das man sich versenken, mit dem man sich treiben lassen kann. Wer an geradliniger Narration interessiert ist, dem*der dürfte der Stil zu viele Abzweigungen nehmen. Wer aber essayistische Prosa schätzt, die weite Bögen spannt und dann wieder Unmittelbares schildert, sich also hin und her, auf und ab bewegt, dem dürfte Olivia Laings Wanderung an der Ouse eine schöne Zeit bescheren.

Zu Ali Smiths “Von Gleich zu Gleich”


Ich weiß noch, wie ich das erste Mal ein Buch von Ali Smith las, kann mich gut an meine Begeisterung erinnern. Es hieß „Girl meets boy“ und war eine moderne Fassung/Variation des Mythos von Iphis (und Teil einer ganzen Reihe mit modernen Versionen zu einigen antiken/klassischen Mythen und Geschichten – auch sehr lesenswert ist hier Margarete Atwoods Buch zur Odyssee, in dem Penelope die Protagonistin ist). Ein kleines, tapferes Märchen ist „Girl meets boy“ und gleichsam eine kluge Erzählung über die Zuschreibungen Mädchen/Junge.

Wie bei Sarah Waters sind Smiths Hauptfiguren eigentlich immer Frauen, die Frauen lieben. So auch in „Von Gleich zu Gleich“, der Übersetzung ihres Debütromans „Like“, welcher bereits 1997, zwei Jahre nach ihrer ersten, preisgekrönten Sammlung mit Short-Storys, erschien. Die Protagonistinnen heißen hier Amy und Ash, eine Engländerin und eine Schottin. Ihre zerrissene Liebesgeschichte wird in zwei Teilen erzählt, in denen jeweils eine andere Perspektive zur Geltung kommt.

Der erste Teil ist eine eher ruhige Schilderung der Geschichte zwischen den beiden Frauen, vom ersten Kennenlernen über Schwierig- und Abhängigkeiten bis zum Ausgang ihrer Beziehung. Der zweite Teil ist Ashs Tagebuch, in dem ein ganzes Panorama an Kunst-, Literatur- und sonstigen Referenzen, nebst politischen Kommentaren und persönlichen Einträgen, entfaltet wird, in dem aber auch zahlreiche Lücken des ersten Teils (zumindest teilweise) geschlossen werden.

Alles in allem lässt Smith ihren Leser*innen viel Interpretationsraum und findet schnell zu eine geschickten Erzählton, der das Geschehen lebendig hält, aber viel Raum für Andeutungen und Zweideutigkeiten lässt. Was wirklich zwischen beiden Frauen alles vorfällt, wer wie fühlt und bis wohin manche Andeutung führt, lässt sich so nur bis zu einem gewissen Grad wirklich feststellen – vieles bleibt ambivalent.

Und das ist wohl auch der Reiz dieses Buches, das man bestimmt mehrmals zur Hand nehmen kann, ohne es jemals gänzlich auszuschöpfen. Trotzdem ist es kein übertrieben ehrgeiziges Buch, sondern vollbringt dies Wunder der Unausschöpflichkeit auf kleinstem Raum, im Zuge einer verwinkelten, spannenden, aber nicht überaus komplexen Story. Kurzum: der Roman hält gut die Balance zwischen Ambition und Unterhaltung, eine seltene Glanzleistung.

Zu der Anthologie “Grand Tour”


Grand Tour

Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).

Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.

Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.

Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).

Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.

Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.

Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.

„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.

Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.

 

Zu William Boyd “Eines Menschen Herz”


Eines Menschen Herz Man sollte vorsichtig sein mit Superlativen, aber “Eines Menschen Herz” ist eines der fesselndsten Bücher, die ich je gelesen habe. Dabei bin ich gar kein großer Freund von dicken Wälzern. Aber ähnlich wie in den besten Büchern von John Irving ergibt sich auch in diesem Buch aus dem Mix von Spannung und allmählicher Vertrautheit mit den Figuren ein Sog, ein epischer Bogen, der einen nach einer Weile nicht mehr loslässt und einen letztlich mit den simpelsten Wendungen und Szenen direkt ins Herz treffen kann, weil das Schicksal der Erzählung daran festgewachsen ist.

Auch ich habe mich, wie wohl manche/r, am Anfang mit der Form schwer getan – das fiktive Tagebuch eines Schriftstellers, das klingt schon ziemlich plakativ. Und in manchen Momenten, in denen Boyd seinen Protagonisten mit großen Namen zusammentreffen lässt (Hemingway, Picasso, Herzog von Windsor, Pollock, etc.) ist das Buch auch nah dran, plakativ zu sein.

Aber gerade in diesen Momenten zeigt sich auch Boyds Klasse, den meist wirken das Zusammentreffen und die Umstände ganz natürlich und klugerweise verlagert Boyd nie das Zentrum des Geschehens auf die populären Namen und Ereignisse, sie geben lediglich Gastspiele in dem Leben, das ansonsten hauptsächlich im Umfeld der Freund*innen & Beziehungen stattfindet. Es liegt ein Funken echter Eleganz in der Art, wie Boyd seine Erzählung immer wieder neu strukturiert, justiert und doch bei aller Weltgewandtheit, immer wieder auf das Wesentliche des einzelnen Lebens zurückkommt.

Es gibt ein paar schwächere Episoden in dem Buch, aber keine dauert sehr lange. Mit seinem langen Atem gelingt es Boyd, einem wirklich Tür und Tor zur Seele seines Protagonisten zu öffnen, ein paar geschickte Unterbrechungen und Zwischenspiele, Takt- und Ortswechsel sorgen für die nötige Authentizität und auch für die nötige Dynamik. Am Ende war ich atemlos, bewegt, erschüttert und zu gleichen Teilen entsetzt und beglückt davon, wie ein Leben im Zeitraffer vorbeiziehen kann, wie es sich füllt und doch immer kleiner wird. Für diese Erfahrung in Buchform bin ich William Boyd sehr dankbar.

 

Zu “Königinnen” von Daniela Sannwald/Christina Tilmann


Königinnen Daniela Sannwalds und Christian Tilmanns Buch ist vor allem ein Buch über den Mythos, der sich um die zehn in diesem Buch behandelten Herrscherinnen gebildet hat. Keiner der Texte ist eine stringente Biographie, es sind stets Auslotungen der Präsenz, der Gestalt, die die Frauen im kulturellen Gedächtnis hinterlassen haben, gespiegelt in den Adaptionen ihrer (vermeintlichen) Lebensläufe und -motive (vor allem durch den Film), nebst Spekulationen zu Liebe und Charakter.

Wer also Kurz-Biographien erwartet, der wird enttäuscht werden. Interessant wird es für diejenigen, die sich gerne mit der Macht der Populärkultur auseinandersetzen wollen und wie sie von Personen der Macht angezogen wird, sie einspinnt und permanent neu erfindend, bis von der Wahrheit nur noch Versatzstücke übrig sind. Das Buch zeigt – wie gesagt: vor allem anhand von Verfilmungen – wie die Leben der Königinnen mal so mal so ausgelegt werden und wie unterschiedliche die Gewichtungen sind. Das ist vor allem spannend, weil es sich meist um mächtige Frauen handelt; eine Kombination, die anscheinend die Inszenierung herausfordert und wenig Raum für Ambivalenzen lässt (man denke an die Sissi-Filme).

In Verfilmungen werden Frauencharaktere oft in Rollenbilder hineingezwängt, sie müssen oft einen bestimmten Archetyp bedienen; oftmals sind es längst überlebte wie die gefallen Frau, die keusche Frau, die lüsterne Frau, die missgünstige Frau, etc.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorinnen des Buches ein bisschen diese übergreifenden Tendenzen miteinbringen. Ansonsten ist das Buch aber zu empfehlen, als Reflexionsgrundlage und nicht zuletzt als Film- und Serientippsammlung.

Zu Kazuo Ishiguros “The buried giant”


The buried giant Raymond Queneau hat einmal angemerkt, dass jedes Buch letztlich eine Ilias oder eine Odyssee sei – die Geschichte eines Konflikts oder die Geschichte einer Reise. Man sollte solche Verallgemeinerungen natürlich nicht unhinterfragt übernehmen, sonst fängt man bald an, alle Realien so zu verdrehen, dass sie zu diesen Verallgemeinerungen passen; was auf einem Gebiet wie der Literatur meist auf Polemiken und vereinfachte Darstellungen hinauslaufen würde.

Trotzdem entsann ich mich dieses Ausspruchs von Queneau, als ich nach der Lektüre von „The buried giant“ darüber nachdachte, wie ich die Struktur des Buches veranschaulichen könnte. Denn letztlich hat Kazuo Ishiguro hier ein Buch geschrieben, das ganz und gar eine Odyssee ist. Nicht nur, weil eine Reise im Zentrum steht, sondern weil dahinter der Schatten einer Ilias lauert; einer Ilias, deren Auflösung erst in dieser Odyssee erzählt wird (was viele nicht wissen: das trojanische Pferd kommt in der Ilias nicht vor, sondern erst in einer in die Odyssee eingeflochtenen Rückschau). Auch in der Verquickung von phantastischen, metaphysischen, mythischen und realistischen Vorgängen und Ereignissen, gleichen sich die Odyssee und „The buried giant“.

Das Buch spielt in den Dark Ages der Britischen Insel, als mehrere Volksstämme nach dem Abzug der Römer und in Zeiten der Völkerwanderungen um die Vorherrschaft und die Siedlungsräume auf der Inseln konkurrierten. Bevor Angeln und Sachsen schließlich fast die ganze Region des heutigen „England“ eroberten, leisteten die ansässigen Britannier wohl eine Weile ernsthaft Widerstand – in diesem Konflikt liegen auch die Wurzeln der Sagengestalt König Artus, der in den frühsten Geschichten ein britannischer König ist, der den Angelsachsen die Stirn bietet.
Es gibt keine Chroniken und nur wenige gesicherte Fakten und Aufzeichnungen über diese Zeit, die dem groben Rahmen der Völkerkonflikte klarere Dimensionen verleihen könnten. Hier setzt Ishigruo mit seinem Mix aus Imagination, historischem Anstrich und Mythenkosmos an.

Im Zentrum steht das Ehepaar Axl und Beatrice, Britannier, die aus ihrem Heimatdort aufbrechen, um ihren vor langer Zeit verlorenen Sohn zu besuchen. Oder zu finden. Haben sie überhaupt einen Sohn? Warum fällt es ihnen so schwer sich an einfachste Dinge zu erinnern? Was ist damals geschehen, in dieser Zeit, an die niemand sicher erinnern kann.

Von Anfang an liegt ein undurchdringlicher, unbehaglicher Nebel auf dem Geschehen und man ist als Leser*in fast versucht, verärgert zu sein über die Unklarheiten in den Gedanken der Protagonist*innen, ihre scheinbare Einfalt, ihre vagen Aussagen und Erinnerungen.

Mit der Zeit begreift man (oder: muss akzeptieren), dass das Ganze Methode hat. Es kann einen natürlich immer noch nerven, in dieser Hinsicht lässt sich nichts beschönigen: Ishiguros Roman verlangt von seinen Leser*innen, dass sie dranbleiben, dass sie sich in denselben Nebel und dieselbe Unklarheit wie seine Figuren hüllen, nur langsam vorankommen und den (fast immer ungemein höflichen) Gesprächen lauschen, um hier und dort einen Blick auf eine mögliche, vielleicht auch vermeintliche Erkenntnis zu erhaschen, Stück für Stück in die Hintergründe vordringend, die sich nicht mit einem mal, sondern mit vollendeter Behutsamkeit entfalten. Diese Behutsamkeit und ihre letztendliche Entfaltung erinnern am Ende an die unterschwellig elektrisierende Behutsamkeit der Geschichte von „Never let me go“, die sich ebenso langsam offenbart, allerdings weniger mühsam voranschreitet, weniger mühsam zu lesen ist.

Axl und Beatrices Reise führt sie mit einigen wenigen Gestalten zusammen, die meist dem festen Figurenensemble angehören, in dem sich alle Konflikte abspielen und das die Reise, mal getrennt, mal vereint, bestreitet. Gemeinsam und jeder für sich werden sie, scheinbar in Bestimmungen verwoben, immer wieder neu zueinander positioniert. In einer Welt, die voller übernatürlicher Gefahren ist, Menschenfresser, Kobolde und Drachen, deren essentiellste Bedrohung aber trotz allen mystischen Schrecken immer noch von der menschlichen Verworfenheit ausgeht.

Daniel Kehlmann hat in seiner Rezension in der FAZ darauf hingewiesen, dass Ishiguros Buch letztlich ein Roman über das Vergessen ist, für und wider abwägend. Ich behaupte (ohne Kehlmann, dessen Rezension ich für gelungen und kompakt halte und deren Eingangspassage ich nachdrücklich unterstreichen will, zu widersprechen), dass es ein Roman über sehr viel ist, Unzähliges. Gerade weil dieser Roman so langsam voranschreitet und so wenig Zeit und Raum auf offensichtliche Handlungen, Aussagen und Ansichten verwendet, dahinfließt in fast schon unverfänglich anmutenden, mitunter leicht willkürlich erscheinenden Episoden, gelingt es ihm, so viele Motive unterzubringen, die sonst nicht gleichberechtigt nebeneinander existieren könnten, weil sie nach einer Forcierung verlangen oder um Aufmerksamkeit und ihren Platz als Spannungselement konkurrieren würden.

Es geht um Katastrophen, es geht um das Alter, es geht um die Gewissheit der Liebe, es geht um Rache, es geht um das Elend, es geht um das Schicksal, um die Frage nach Gut und Böse, um neuerzählte/-gedeutete Mythen, um Gerechtigkeit und Willkür. Und immer mehr Worte will ich anreihen, belasse es aber bei diesen, die mir zuerst eingefallen sind. Und habe schon Angst, zu große Erwartungen zu wecken, die ja der Feind jeder unverstellten Lektüre sind.

Also: warum ist dieses Buch so lesenswert?

Die einfache und für manche (ganz gleich, ob sie es (an)gelesen haben oder noch nicht gelesen haben) wohl unbefriedigende Antwort ist: Weil es großartige, feinmaschige Literatur ist. Ich behaupte, dass es keine einzige überflüssige Szene, keinen einzigen überflüssigen Dialog gibt; ja, dass, sobald man eine Szene streichen wollen würde, erkennen würde, wie viel die karge Handlung, die jovialen und sich dann doch zuspitzenden Gespräche, über die Figuren und die Themen, um die alles kreist, aussagen – vor allem, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet, als Teil des Kosmos, den das ganze Buch webt. Diese Bedeutungsebenen nimmt man zunächst nicht wahr, während man – auf einen deutlichen Fingerzeig, das Eintreten einer klar ausgerichteten Narration wartend – die Szenen an sich vorbeiziehen lässt. Aber im Nachhinein fällt einem auf, wie noch in der kleinsten Szene vieles nachhallt und aufblitzt, das Große und das Kleine, die Weltgeschicke und das Individuum betreffend.

Diese Erfahrung macht man nicht häufig, behaupte ich. Natürlich wird es deswegen nicht zum Buch für jede/n Leser*in. Wem also schön (und darin manchmal auch umständlich) arrangierte und sich nur langsam offenbarende Prosa eher nicht zusagt, der sollte vielleicht die Finger von diesem Buch lassen. Er bringt sich aber, dies auch als Warnung, letztlich um eine Erfahrung, die an der Oberfläche nicht immer bestechen mag, letztlich aber unverhältnismäßig tiefe Abdrücke in einem zurücklässt, ohne dass man sagen kann, wann sie Gelegenheit hatte, in diesen Winkeln der eigenen Seele herumzuwandern.

Liebesgeschichten, Geschichten von Krieg und Schuld, von Mythen und Monstern, sie sind oft episch, lodernd, heischend. Ishiguro gelingt mit „The buried giant“ das Kunststück, all dies zu vermeiden und trotzdem über jedes dieser Themen zu schreiben, leibhaftig, innig, und ihre Dimensionen anzudeuten, aufzurufen. Der anfängliche Vergleich mit Homers großer Dichtung mag vermessen sein und letztlich greift er auch im Detail nicht. Denn Ishiguros Roman ist vielleicht eine Saga, die ihre stärksten Momente aber nicht in großen Geschichten und Ereignissen bündelt, sondern in Gesten, Erwähnungen und Unwägbarkeiten aufbewahrt. Dort also, wo alles Menschliche und Zwischenmenschliche letztendlich sitzt und entspringt – auch wenn es oft von dort aufbricht, um Weltgeschichte zu schreiben, zu errichten und vernichten. Letztlich liegt es dort und nirgendwo anders.

 

Impression Zu Sebalds “Die Ringe des Saturn”


Die Ringe des SaturnsW.G. Sebald begibt sich auf eine (fiktive) Wanderung in zehn Kapiteln durch die englische Grafschaft Suffolk – eine Gegend, die scheinbar genauso gut auf dem Mond liegen könnte. Die Orte, die er dabei passiert und aufsucht, haben stets einen leichten Anstrich des Wunderlichen und Verhärmten. Ständig werden die Asche und der Staub in den Dingen evoziert, und durch die Weite der Perspektive, auf die Vergänglichkeit hinter allem gerichtet, könnte man meinen, Sebald beschreite die Umlaufbahn eines verwaisten Planeten. Geschildert wird das Anwesende nur im Kontrast zu seinem Verfall, seiner Leere; das Entschwundene türmt sich und wirft hohe Schatten auf alles.

Heiden, Felder, Wälder, gleichförmig und -farbig fast, in denen einst dann und wann die Herrenhäuser der Neureichen und Altadeligen standen und über deren Bewohner es viele wundersame Geschichten zu erzählen gibt, die alle aus den erstaunlichsten Kompendien stammen, von denen man kaum weiß, ob man an ihre Existenz glauben soll. Eine Landschaft aus Papier und Vergangenheit.

Menschenleere, anberaumt. Ferne Zeiten, der Landschaft noch geläufig in ihrer abgewandten Seite, aber bereits abgezogen von den Wänden der Geschichte, überholt, verstorben schließlich. Gab es die Welt, die abgezogen wurde, wirklich; ist sie vielleicht sogar wirklicher als die Wirklichkeit, die, aggressiv und unübersichtlich, keine Landschaften erschafft, sondern sie bloß verenden lässt und zerstört? Aber dieses Zerstörungswerk begann schon früher und Sebalds Buch ist eine Chronik dieser Zerstörung, an deren Endpunkt wir noch nicht angekommen sind. Und vielleicht sind diese Landschaften, für sich belassen, die einzigen Orte, die der sonstigen weltweiten Zerstörung irgendwie trotzen, in ihrer Abgewandtheit, und weiter existieren, in Starre.

Sebalds Sprache ist wie ein Tiefdruckgebiet, das einen Wind mit sich bringt, der alles entschleunigt und bis auf ein absolutes Minimum an Lebendigkeit drückt, dafür alles Einstige als aufragende Gestalt hervortreten lässt – auf diese Gestalten fällt ein Regen voller unsentimentaler Wehmut und die Welt, die Landschaft, ist unwirtlich, entropisch und wird sich immer tiefer in eine sanfte Unmöglichkeit begeben, so fühlt es sich an.

Ein großartiges Buch, besinnlich, meditativ, einzigartig, eine literarische Erfahrung der besonderen, fast extraterrestrischen Art.

Vladimir Nabokovs “Das wahre Leben des Sebastian Knight”


[…] und außerdem wusste er, dass im Grunde keine Idee wirklich existiert, wenn ihr nicht die Worte genau nach Maß angelegt werden.

Romane, die als Weltliteratur oder gehobene Literatur bezeichnet werden, haben nicht gerade den Ruf leicht lesbar zu sein. In kaum einem Genre herrscht aber auch eine so große Bandbreite an Formen und somit auch nahezu nirgends eine so große Bandbreite an Verständlichkeitsstufen: von Simmel und Konsalik (deren Büchern einige Gralshüter des Romans wie Kundera oder Vargas Llosa – möglicherweise zurecht – die Bezeichnung Roman absprechen würden) bis zu Arno Schmidt und Oswald Wiener ist es ein weiter Weg und doch steht auf den Büchern dieser grundverschiedenen Literaten das Wort Roman geschrieben. Irgendwo in der Mitte aber gibt es jene Romane, die bereits eine vielfältige, subtile Erfahrung bereithalten und dennoch nicht besonders schwer zugänglich sind, keine großen Mühen und Anstrengungen vom Leser erwarten. Manche Romane von Kundera und Vargas Llosa gehören dazu, Werke von Camus oder André Gide, Carson McCullers und Nicole Krauss und es wären noch einige Autor*innen zu nennen, bevor diese Liste fertig wäre.

Einer, der in dieser Liste auch nicht fehlen dürfte ist Vladimir Nabokov. Kaum ein Autor ist ein besserer, lebendigerer Inbegriff der hohen Narration, die beileibe nicht schwer zugänglich ist oder sich allzu sehr in Formspielen oder perspektiven Verzerrungen ergeht. Von seinen frühen russischen Romanen bis zu jenen späten Meisterwerken „Lolita“ und „Pnin“ hat er es bravourös und virtuos vermieden, etwas Verkopftes zu Papier zu bringen und ist dennoch kein unmoderner Autor (wenngleich einige Gralshüter der Avantgarde und neuer Roman- und Kunstbegriffe ihn vielleicht so bezeichnen würden).
Nabokov stammte aus Russland, in dem es zwei Romanciers gab, die ebenfalls zur Hochliteratur gezählt werden und dennoch fesselnd sind, ja geradezu Bestsellercharakter haben: Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski. Man könnte auch noch den großartigen Erzähler Anton Chechov hinzufügen. Es liegt mir fern ihn in eine Reihe mit diesen dreien zu stellen, aber Nabokov hat vielleicht auf kluge Art und Weise von ihnen gelernt, nicht was die Themen und was die Sprache anging, aber in Sachen Bodenhaftung und narrativer Eleganz ist er ihnen, behaupte ich, gar nicht so fern.

„Das wahre Leben des Sebastian Knight“ war der erste Roman, den Nabokov auf Englisch schrieb, mehr aus Notwendigkeit, denn aus einem Wunsch heraus. Er war auch zum Teil eine Art selbsterlegte Auftragsarbeit, mit der Nabokov sich bei einer Geldmöglichkeit bewerben wollte. Diese Entstehungsgeschichte flößt nicht gerade Vertrauen ein und man könnte zunächst glauben, man hielte eines jener Bücher in der Hand, die der Verlag herausgegeben hat, obwohl der Roman nicht die Höhe des sonstigen Werkes erreicht (Ähnliches ist ja schon geschehen, bei Witold Gombrowicz und „Die Besessenen“ zum Beispiel) und nur weil man die Rechte am Gesamtwerk besitzt.

Doch weit gefehlt: in seiner eigenen, schummrig-kristallinen Art ist dieser Roman ein Meisterwerk, eine Schönheit. Es gibt kaum ein Buch, das ich in den letzten Jahren mit so viel Genuss und mit so wenig Frust gelesen habe. Es ist leicht, trägt aber in jedem Satz eine tiefe Bedeutsamkeit in sich und die Sprache ist, selbst in der Übersetzung (die Dieter E. Zimmer augenscheinlich wundervoll angefertigt hat) eine echte Augenweide, auf der so manches grandiose sprachliche Bild wie ein Windstoß das Gras, die Bäume und den Körper des Lesers rauschen, wehen und zittern lässt.

Erzählt wird die Geschichte eines jungen Exilrussen, der sich auf die Spuren seines kürzlich verstorbenen Halbbruders, eben jenes Sebastian Knight, begibt. Sebastian war Schriftsteller und der Protagonist möchte nun ein Buch über ihn und sein Schaffen schreiben, eben jenes, das wir in Händen halten: „Das wahre Leben des Sebastian Knight“. Anlass ist zum einen der Tod des Bruders, der den Erzähler erkennen lässt, dass er sehr wenig über dessen Leben wusste (obgleich er sein Schaffen immer aufmerksam verfolgt hat) und zum anderen das stümperhaft-blasierte biographische Buch von Sebastians ehemaligem Sekretär, das, davon ist der Protagonist fest überzeugt, ein völlig falsches Bild von dessen geistigen Haltungen, Interessen und Antrieben zeichnet.

Also macht sich der Protagonist auf die Suche, beginnend bei der gemeinsamen Kindheit, mit Ausflügen in die Welten der Bücher, die Sebastian schrieb, immer der dünner werdenden Fährte seiner Lebenswege hinterher. Genau auf dem Grat der Gefälle entlang, von dem das Buch auf der einen Seite in die Schlucht des bloßen Berichtes, auf der anderen in den Abgrund seines eigenen Aufhängers fallen könnte, bewegt sich die Erzählung, mit einer kleinen Fülle von anekdotischen und illuminierenden Momenten beladen, in die Existenz der Figur Sebastian Knight herein, überhöht ihn nicht, verwirft ihn nicht, überfüttert den Leser nicht mit Details. Der meist weit entfernte und nun tote Bruder bekommt eine dem Sujet angemessen Aufladung angediehen, er wird aber vor allem menschlich sichtbar, nicht als Figur, als angelegte Idee. Und die Entfernung bleibt, von kurzen Momenten der Nähe durchzogen, von kurzen Erkenntnissen über ein anderes Dasein.

Es ist kein spannendes und kein gewaltiges Buch, kein großer Wurf, aber ein sehr starker, reicher Roman.

 

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