Dieser Betrachtung beschäftigt sich mit dem dichterischen Werk von Hans Magnus Enzensberger zwischen den Jahren 1957-1995, unterteilt in sechs Teile, was den publizierten Gedichtbänden in diesem Zeitraum entspricht. Dabei nicht berücksichtig wurden “Mausoleum. 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts” und das Versepos “Der Untergang der Titanic”.
I – Die Verteidigung der Wölfe (1957)
“Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer.”
Hans Magnus Enzensberger, heute eine Institution, ein literarisch stilisierter Halbgott, mit scharfer Zunge, eine lebende, wandelnde, später gemäßigte Kontroverse, ein brillanter Geist, ein fröhlicher Anarchist, eine Randerscheinung, die sich in abseitige Mittelpunkte spielt. Das und noch viel mehr könnte man (zu recht oder zu unrecht) über diese geradezu ultimative Figur deutscher Intelligenz sagen; alles stimmt irgendwann und irgendwo, trifft aber doch selten den Kern oder auch nur auf ein einzelnes Werk oder dessen Idee zu. Enzensberger ist nämlich weder wahrhaft radikal noch elitär. Er ist einfach Enzensberger, eine Figur, deren Substanz irgendwo zwischen echtem Genie und bloßer Auflehnung liegt.
“Alkibiades mein Spießgeselle
du bist lange fort
Ich muss dich, Lieber, wohl zu End vergessen.
Zuweilen schlaflos fällt noch ein vertropftes Wort
ein Streich ein Schlips ein Heisersein ein Essen
ein Angstruf mit von weißen Vögeln ein
Sonst bin ich alt und lächelnd wie ein Kieselstein
und warte gern auf die uns forttut
auf die sanfte Welle
Alkibiades
Alkibiades mein Spießgeselle”
Mittlerweile sind elf Gedichtbände von Enzensberger erschienen und neben dem Literatur- und Gesellschaftsfeuilleton/essay (Wunderbar übrigens zu diesem Thema der erst kürzlich erschiene Quartoband: “Scharmützel und Scholien” mit den gesammelten Schriften zur Literatur) ist die lyrische Gattung der zweitwichtigste Bestandteil seines facettenreichen Werkes und auch der, mit dem er zuerst hervorgetreten ist: im Band “Die Verteidigung der Wölfe”, den man auch den “Schreckschuss auf die Wölfe” hätte nennen können.
Es ist erstaunlich wie wenig dieser Band sprachlich gealtert ist; man ihn in dieser Hinsicht fast als filigran und modern bezeichnen. Wohlgemerkt: Sprachlich. Thematisch ist es etwas komplizierter.
Der Band ist in drei Teile unterteilt: Freundliche Gedichte, Traurige Gedichte und Böse Gedichte.
Das Gro der freundlichen Gedichte besticht vor allem durch eine bildhafte Schönheit und Weichheit, die Stich auf Stich gesetzt ist, teils mit schauderhafter Klarheit:
“lass mich heute Nacht in der Gitarre schlafen
in der verwunderten Gitarre der Nacht
lass mich ruhn
im zerbrochenen Holz
lass meine Hände schlafen
auf ihren Saiten
meine verwunderten Hände”
“Wie ein unbewohnter Stern
riecht die Erde. Von den Bergen
strömt ein dickes, trübes Wasser
Kies und Distel blitzbeschienen
weißer Himmel.”
Enzensberger bemüht sich in diesen Gedichten wenig um Sprachakrobatik oder Metaphernrotation, was sehr nachvollziehbare und vertiefe Stimmungen entstehen lässt. Dieser Teil des Bandes enthält tiefste Poesie, und damit schon so etwas wie eine andere Seite von Enzensbergers Lyrik. Die meisten der Texte verhalten sich homogen zueinander in Form und Inhalt.
Ganz anders bei den traurigen und bösen Gedichten – hier hat Enzensberger eine Vielfalt von Nuancen, Anklange, Akzenten und Kalibern verwendet (auch wenn der sprachliche Ansatz nicht groß variiert). Nicht immer mit Erfolg. Es fallen so neben der starken Sprache und den brillanten Eigenheiten, auch allzu oft die lose Symbolik und Metaphorik auf, so wie eine hermetische Verspielung der Tatsachen zugunsten eines lyristischen Ausgrabungseifers und den wüterichen Schneeverwehungen, die er aufwirft und als Übel etikettiert.
“Abschußrampen, Armeebischöfe, Security risks,
leider: Vokabeln ohne Aroma, keineswegs holzfrei,
kaum zum Goldschaum der Kantilene zu schlagen,
kaum für Trobadore geeignet.”
Gewiss, Enzensberger war schon immer und ist auch hier schon ein intelligibler Agiator seiner eigenen Sache; aber das Subtile schließt ja nicht das subtil Einfache oder subtil Bewanderte aus; diese gesetzte Subtilität fehlt dann doch an manch Ecken und Enden. Ich hätte mir mehr Stellen wie diese gewünscht:
“Freilich
versprechen dir viele, abschzuschaffen
den Mord. Gegen ihn zu Feld zu ziehn
fordern dich auf die Mörder.
Nicht die Untat wird die Partie
verlieren: du: sie wechselt nur
die Farben im Schminktopf:
das Blut der Opfer bleibt schwarz.”
oder diese:
“Die Weisheit, im Windschatten
sich eine Hütte errichtend, hinter
den Schultern der Täter verborgen,
ist wie diese mörderisch.”
Sprachlich hat dieser Band, wie bereits gesagt, immer noch viel zu bieten. Es reichen manchmal schon einzelne Zeilen, wie z.B. “Ein dunkles Riff wird in unseren Lungen gezüchtet”, um zu erkennen wie vortrefflich Enzensbergers Ausdrucksformen sein können, (ohne bereits eine lyrisch-leere Formalie zu werden). Vielleicht ist das große Spektrum, die auf viele Flächen verteilte Dynamik, das Problem – vielleicht ist gerade die Vielfalt der Fluch.
Doch trotz all dem: Auch heute noch kann man diesen ersten Gedichtband als vielschichtiges Präparat lesen und genießen, als Dokumentation von Geistesblitzen und Ansichten. Also lest nicht die Oden, liebe Leser, lest Enzensberger – er ist unfreundlicher; was nicht selten ein Prädikat zu “interessant” ist.
II – Landessprache (1960)
“Was habe ich hier verloren
in diesem Land,
dahin mich gebracht haben meine Älteren
durch Arglosigkeit?”
So fragt Hans Magnus Enzensberger am Anfang seines Gedichts “Landessprache” auf der ersten Seite des gleichnamigen Gedichtbandes. Es ist sein zweiter und nach dem virtuosen, vielschichtigen Start mit “Verteidigung der Wölfe” auch ein ungleich politischeres und auf gesellschaftliche Kritik fixiertes Werk, insbesondere im zweiten Teil “Gedichte für die, die Gedichte nicht lesen” und eben in diesem ersten Gedicht “Landessprache” in dem Enzensberger fortfährt:
“Was habe ich hier? Was habe ich hier zu suchen,
in dieser Schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland,
wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts,
wo der Überdruss ins bestickte Hungertuch beißt,
wo in den Delikatessengeschäften die Armut, kreidebleich,
mit erstickter Stimme aus dem Schlagrahm röchelt und ruft:
es geht aufwärts!”
Heute, nach über 50 Jahren, ist ein Gedichtband, der so einsetzt und dessen Autor sich seither mehrmals, was seine politischen und künstlerischen Einstellungen betrifft, (letztere nur unwesentlich) neu orientiert hat, mit Vorsicht zu genießen. Enzensbergers Sprache steht noch immer modern und aktuell da, ihre Eigensinnigkeit und Direktheit konservieren ihre Falten und beugten Abnutzungen vor. Aber wie ist es mit den Themen?
Enzensberger war stets ein scharfäugiger Dichter – und, noch wichtiger, er wusste diesen Scharfblick auf seine Gedichte zu übertragen. So nehmen sich seine die Gesellschaft betreffenden Verse im Allgemeinen noch als nachdrücklich warnend und darstellerisch trefflich aus (was eben für Enzensberger spricht – oder gegen eine signifikante Veränderung des gesellschaftlichen Wesens). Die Aktualität gewährleistende Komponente des guten Durchblicks, die in Sachen dynamischer Ausarbeitung heute sicherlich etwas anders aussehen würde, aber im Kern noch sehr gut nachvollziehbar ist, bemerkt man schon am Anfang des Gedichts “Die Scheintoten”:
“Die Scheintoten warten vor den Kartellämtern,
sie warten, ohnmächtig, aus beiden Lungen rauchen,
vor den Eichämtern und vor den Arbeitsämtern.
Ihr bleicher, farbloser Jubel weht
wie eine riesige Zeitung im Wind
gegen die vielen vergitterten Schalter.”
Gewiss, heute könnten solche Gedichte wahrscheinlich nicht mehr geschrieben werden (vor allem wegen der heutigen Ästhetik der (politischen) Poesie), aber sind sie deshalb heute weniger zutreffend? Und ist nicht gerade dies Gedicht, sein Anfang, sogar mit den Jahren gewachsen, noch wahrer geworden mit dem Abstand, der keinen Wesensabstand erzeugte? 7 Regierungen sind über dieses Gedicht gegangen, politische Kurswechsel und 50 Jahre gesellschaftlicher Geschichte – und dennoch hat dies alles die innewohnenden Symbolik und Botschaft dieses Gedichts nicht eliminieren können.
In der Mitte des Bandes steht das längere, überbordende Gedicht “Schaum”. Es bildet die Brücke zwischen dem ersten engagierten und dem zweiten, nicht weniger kritischen, aber oft ungleich abstrakteren Teil “Oden an Niemand”. “Schaum” selbst ist eine Art intelligible Tirade; Namedropping und Analyse wechseln sich ab, Momente der stillen Offenheit, gehen über in Rundumschläge. Es ist ein bizarres Gedicht, bei dem man trotzdem das ungute Gefühl nicht losführt, es enthülle langsam aber sicher eine lange verstopfte Wahrheit, unter all dem Schaum.
“alle wunden Wäscher
in den kranken Kassen
ruhn mit blinden Hunden
in den toten Hemden.”
Bei manchen Dichtern hat man das Gefühl, dass sie mit uneinnehmbarem Ernst dichten, andere dichten allein mit ihrer Freude. Bei Enzensberger kann man die Stimmung, den Aggregatzustand seiner Ausrichtung nur aus den einzelnen Zeilen herauslesen und nicht aus dem Gedicht insgesamt. Sicherlich war er stets mit seinen Gedichten um Engagement und auch eine nebenbei ergatterte Schönheit bemüht, wie die wenigen, fast zärtlichen, bildhaften Gedichte beweisen, in denen er Szenen der Einsamkeit oder des Zusammenseins einfasst. Doch bei vielen anderen, eher abstrakten Gedichten, meint man doch den verspielten Narr im Ernst der Verse zu erblicken; doch das Schellen der Narrenkappe könnte eben auch das Quietschen eines Zugrades sein, das Waffen in eine Krisenregion transportiert.
Gealtert ist dieser Gedichtband, aber gut gealtert. Natürlich gibt es in der ganzen Breite des Bandes noch mehr zu entdecken, als ich hier offen gelegt habe. Enzensbergers Poesie lebt auch von einer gewissen Unberechenbarkeit, die gerade bei Dichtern deutscher Sprache immer noch eine gewisse Seltenheit hat und die jedes Gedicht im Übermaß zu einer eigenen Erscheinung macht. Das kann man auf die schlechte oder die gute Seite der Waage legen, wie es einem beliebt.
“Hier bin ich, ein Schiff aus Rauch,
hinter dem Mond zu Haus, ein Mann
unter den Wurzeln des Meeres, bewohnt
wie ein Totenacker, ein Totenstrauch
von Nattern und Tauben, zuhaus
im blühenden Sternsarg, allein
im Feuer der Windrosen wohnend
bei meinen Lidern, den Tauben im Wind.”
III – Blindenschrift (1964)
“Ich sage: Fast alles was ich sehe,
könnte anders sein. Aber um welchen Preis?
Die Spuren des Fortschritts sind blutig.
Sind es die Spuren des Fortschritts?
Meine Wünsche sind einfach.
Einfach unerfüllbar?”
Hans Magnus Enzensbergers Poesie tendierte von jeher zu einem Kurs zwischen subtilem Gedankengut und havarierenden sprachlichen Ausdrucksmechanismen, schwankend zwischen Abstraktion und Klarheit.
Nach dem kritisch verdüsterten Gemisch “Landessprache” ist Blindenschrift fast schon so etwas wie eine erstaunliche Kehrtwende, wirkend wie ein stiller Neuanfang. 1964, also vier Jahre nach “Landessprache” entstanden, hat dieses Werk die klecksende und gewaltige, Ehrfurcht gebietende Stimme jener Gedichte abgelegt und sich einer, manchmal schon fast resignierten, leicht labyrinthischen, Klarheit und Schlichtheit zugewandt, von lauter Oper auf stillere Sonaten umgeschaltet; dieser Wechsel führt seine Verse jedoch niemals auf rein sachliche oder nüchterne Gebiet; eher wirkt sie schneidend, lauernd – die enorm komprimierte Version eines entlarvenden Fotos, im Schatten vieler Fragen und Gedanken abgelegt.
Was thematisch am meisten auffällt sind die Symbole und Antagonismen der Vergänglichkeit. Im Ganzen ist der Band ein bisschen wie ein langes Selbstgespräch von Enzensberger mit sich selbst, von logistischen bis zu zentralen Betrachtungen – mit vielen Fragen, Fragen, Fragen.
“Was soll da auftauchen aus der Flut,
wenn wir darin untergehen?
Noch ein paar Fortschritte
und wir werden weitersehen.”
Bestechend ist mal wieder die bleibende Aktualität seiner Dichtung. Nach dem dritten Gedichtband kann man schon absehen, dass die besten seiner engagierten oder kritischen Gedichte und Zeilen noch eine Weile lesenswert bleiben werden. Dies gilt für den Band “Blindenschrift” im besonderen Maße.
Gedichte sind belebend für das Verständnis von Schönheit und Wahrheit und ebenfalls für die Selbstreflexion. Beides können sie stärken und beides können sie auch in sich tragen.
Enzensbergers Gedichte sind keine klar gestaffelten Bekenntnisse oder schlichte Ansagen; ebenso wenig sind sie unzugänglich oder kryptisch. Jedes von ihnen hat so etwas wie einen inneren Schlüssel, eine eigene innere Logik, die man sich seinerseits mit einer Betrachtung erschließen kann. Trotzdem, wiederum: die Gedichte in diesem Band weisen eine besondere Zugänglichkeit auf, vielleicht weil sie ein bisschen persönlicher sind, einen Zustand, den wir ja alle kennen.
“Als wäre nichts geschehen
erscheint täglich neu
unser rührender schmutziger
knallharter frommer Roman.
Fortsetzung folgt, und kein Ende.”
Blindenschrift ist sicherlich kein besonders schöner und auch kein frappierend-beeindruckender Gedichtband. Aber er hat eine besondere Essenz, deren Botschaft man sich anhören sollte, auch weil sie sich nicht einfach so von einem Rezensenten wie mir festmachen lässt auf schöne oder präzise Worte. Ich persönlich finde, dass dieser Band auf seine Art sehr stimmungsvoll und weise ist und das mancher Text sehr zum Nachdenken anregt: Über das Können, das Wollen, das Denken – wie schrieb Enzensberger: “Nimm die Binde ab/ König Mensch und lies/ unter der Blindenschrift/ deinen eigenen Namen.” Ich kann bezeugen, dass das in manchem Text gut funktioniert.
Zuletzt noch ein paar Zeilen über die Apokalypse.
“Denkbar immerhin,
wenn auch nicht glaublich:
Die Katastrophe wäre da,
wenn über uns käme die Nachricht:
dass sie ausbleiben wird
für immer
Verloren wären wir:
Wir stünden am Anfang”
IV – Die Furie des Verschwindens (1980)
“Meine Wörter bücken sich nicht. Sie sind
nicht dazu da, etwas aufzuheben. Sie sind da,
eine Weile lang. Es kann sie ein jeder sagen.”
16 Jahre liegen zwischen “Blindenschrift” und der Furie des Verschwindens, also die halben sechziger und die ganzen siebziger Jahre (an letzteres Jahrzehnt schrieb Enzensberger ein Gedicht, dass das erste des Bandes ist; es beginnt: “Also was die siebziger Jahre betrifft,/ kann ich mich kurz fassen./ Die Auskunft war immer besetzt.”).
Es ist eine lange Zeit, um an einem Gedichtband zu arbeiten (oder keine Gedichte zu schreiben). War “Blindenschrift” ein dichterischer Neubeginn, das mögliche Startsignal zu einer gesetzteren, ruhigeren Lyrik, so setzt “Die Furie des Verschwindens” eher wieder bei den ersten beiden Gedichtbänden an, obwohl auch noch ein Stück Erfahrung von “Blindenschrift” geblieben ist.
Dies offenbart sich vor allem in dem letzten Abschnitt des dreigeteilten Werks, dem Teil der wie der Gedichtband selbst -Die Furie des Verschwindens- heißt. Hier finden sich überwiegend geradlinige, nachdenkliche, manchmal sinnende Gedichte, vielfach um Vergänglichkeit, Vergangenheit, Sinn und Substanz kreisend.
Dem Gegenüber steht der erste Teil “Tränen der Dankbarkeit”. Er ist nicht grundverschieden, zeichnet sich aber durch ein Schwanken zwischen Präzision und freilaufender poetischer Schlagkraft aus. Hier zwei Textproben, um zu erklären, was ich in etwa damit meine:
“Tiraden, angeschnallt und erbittert, über Ledersitze,
Alumotoren, Flüche beim Überholen, Erkenntnisse
über Prämien, Ersatzteilprobleme, endlich
der nächtliche Stau, das Blaulicht, die Bahre.”
“Ding dang dong. Mischmasch. Durchsagen auf Japanisch.
Im Kerosinduft zerfließen die dumpfen Panzer
hinter dem Glas, auf dem heißen Vorfeld. Schlieren
im Auge, Münzen in der schweißnassen Faust.
Immer besetzt. Dann wieder lässt du es läuten
und läuten. Überall Koffer. Erbittert wähle ich”
Gleichsam: Es ist auch der kürzeste Gedichtband den Enzensberger je herausgegeben hat; ein Drittel füllt auch noch das etwas versumpfende Langgedichte, dessen Titel sehr viel mehr verspricht als er dann hält: “Die Frösche von Bikini” (Das Bikini-Atoll war eines der “beliebtesten” Atombombentestgelände der US-Amerikaner; quasi als “Wiedergutmachung”, wurde dann ein Badeanzug nach der heute noch verseuchten Inselgruppe benannt.)
Auch in diesem Gedichtband gibt es sehr starke Gedichte. Am Anfang, im ersten Teil, zum Beispiel, gibt es 3-4 Gedichte in denen Enzensberger minutiös in ein paar Gesellschaftsszenerien die Wesenhaftigkeit einiger Menschen nachzeichnet; “Die Dreißigjährige” oder “Die Scheidung” heißen dieses Gedichte und sie gehören zu dem besten, was Enzensberger im Poetischen verfasst hat. Es gelingt ihm die kleinen und doch letztlich großen Versprechen, die in diesen kurzen Titeln stecken, mit einem eleganten, in jedem Ausdruck klug gewählten Wortgemälde zu erfüllen, ja: zu verwirklichen. Große Kunst, konnte ich bei diesen Gedichten nur denken, weil alles so deutlich zueinander passte und exakt abbildete, was im Innersten der Vorgänge ans Sprache präsent sein kann. Gewiss, dass ist nicht die alleinige Aufgabe eines Gedichts, aber es ist eindeutig ein Vorzug entgegen aller Wortklauberei.
“siehe, das Leben liegt vor euch wie ein Dauerauftrag
und ihr könnt durchwählen
sogar nach Brisbane und Osnabrück.”
Vielleicht ist dieser Gedichtband ideal, um Enzensberger kennen zu lernen und zu entscheiden, ob man ihn mag oder nicht. Von hieraus kann man sowohl in die eine Richtung, zu den gesetzten, stimmigen Gedichten aus “Blindenschrift”, als auch in die andere, zu den rabiat-kritisch-totaleren frühen Gedichten gehen, in beidem liegt hier ein gewisser Konsens. Was wieder nicht heißen soll, dass Enzensberger sich nicht entwickelt hat oder dieser Gedichtband nicht wieder auf gewisse Weise sehr neu wäre. Aber ein Dichter kann schwerlich seine Wurzeln verleugnen, ebenso wenig wie der Leser Empathie oder Verwirrung leugnen kann.
“Wenn man den eigenen Worten
eine zeitlang zuhört,
wie sie dröhnen im eigenen Kopf –
man möchte die Augen zudrücken,
wie ein kleines Kind,
sich die Ohren zuhalten
und am liebsten gar nichts mehr sagen.
Aber das wäre falsch.”
Vielleicht, zuletzt, findet sich in diesen paar Zeilen ein kleines Credo, von dem, was Enzensberger wieder nach 16 Jahren zum Dichten führte.
V – Zukunftsmusik (1991)
“Ich sehe was, was du nichts siehst.
Alles außer dir haben recht,
aber das siehst du nicht ein.”
Und so kommen wir zum schwächsten Gedichtband von Enzensberger; was er hier abgeliefert hat, ist auf weite Strecken platt, platter als platt, und definitiv weder Poesie noch sonst irgendwas Konstruktives. Ich meine, es gibt ja Dichtungen, die sind komplex, andere sind kryptisch, manche kann man sogar noch mit dem Wort “hermetisch” ins Feld der großen Poesie schieben. Aber nicht eine Entschuldigung greift bei den Gedichten aus “Zukunftsmusik”. Sie sind einfach schlichterdings und schlechterdings misstönig, teilweise grobfahrlässig, ohne Sensibilität ausgetüftelt und ja, auch dann und wann dadurch ein wenig lächerlich, in ihrer Leierkastenversuchserhöhung.
“Es geht weiter, es kommt, kommt mir,
es raucht, es sind Farben da, Falten,
Narben, es wiederholt sich, selbst,
immer wieder, da hinten, tot
ist es nicht, ach, es sagt, ach,
röchelt, wunderbar, ach, ich habe,
ich habe etwas davon, habe es,
habe es nicht gewollt, Habenichts, ich,
es ist so gekommen, es macht nichts.”
Ich wünschte, es gäbe auch noch einiges Positives zu sagen. Gewiss, es gibt noch ein paar halbwegs attraktive Gedichte, sogar ein-zwei bestechende. Ich glaube, was mich wirklich stört ist die scheinbare Belanglosigkeit, mit der die Schlechten aufs Papier geworfen sind. Sie scheinen wie nebenbei erdichtete Farcen und Fresken, ohne eigentliche Bezüge. Und ich habe wirklich versucht, durch mehrfaches Lesen, dem Verharren bei Symbolsystemen, Anschluss zu finden, aber vergeblich – und das lässt den Gesamteindruck schief hängen, unverrückbar, nicht erschließbar.
Wer aber eine verquere Herausforderung will, nun ja, kann es ja mal versuchen.
“Reine Kunst, die keinen Künstler brauch,
unaufhaltsam beweglich bewegt,
neu und unfruchtbar,
reine Zeichnung, die niemand sieht,
die sich einzeichnet
in sich selber, schön,
öde, Unterhaltung für Götter.”
Auch diese Zeilen stammen aus diesem Band, von Enzensberger selbst verfasst und vielleicht ein kleines Eingeständnisses, eine poetologische Rechtfertigung.
Im Ganzen ist der Band eine ziemliche Enttäuschung. Er mag einige gute Zeilen haben (“z.B.: Kleider machen blind, Gelegenheit macht Liebe”), aber ansonsten ist er voller abgegeigter Allgemeinplätze, sprachlich verwirrender Phrasenerfindungen, in denen nur noch die Sprache selbst, ohne Stimme, zu reden scheint und voller floskeliger Themen. Er ist einfach nicht gut. So muss man es sagen.
VI – Kiosk (1995)
“Enzensberger: Der Meister der eigenwilligen Pointe,
des virtuossichtigen Seilakts, der kreativen Blende
und der verlässlichen Dissonanz.”
Würde man diesen Band mit all seinen 5 Vorgängern vergleichen, fällt die sublime, schlichte Stärke der Gedichte auf, die “Kiosk” mit keinem anderen Werk aus Enzensbergers bis dato geschriebenem Fundus gemein hat (die er aber in “Moralische Gedichte” fortsetzte). Der Band ist ungleich umfangreicher, politischer und auch in seinen (gesellschaftlichen) Subtext hier und da geradezu aggressiv. So gibt es ein Gedicht, dass beginnt mit den Zeilen:
“Es ist verboten Personen in Brand zu stecken”
endet jedoch:
“Es darf niemandem zum Vorwurf gemacht werden, wenn
er es unterlässt Personen in Brand zu stecken.
Jedermann genießt ein Grundrecht auf Verweigerung.”
Der geschickte Drahtseilakt, mit dem Enzensberger hier aus Tätern Opfer macht, die abwesende Scheu vor dem konkreten Austausch zwischen gesellschaftlicher Realität und Gedicht, ist nicht gerade poetisch, aber brillant in der Ausformulierung. Insgesamt ist dieser Band, noch mehr als alle anderen Gedichtbände Enzensbergers, eine intellektuelle Freude, eine verdichtete Form von Essay, nebst poetischer Insignien.
Das Fehlen einer eindeutigen Wendung zum Poetischen stört wenig, ist doch jedes Gedicht eine Analyse, eine geistreiche Betrachtung für sich und sprachlich immer sehr gekonnt. Ich möchte Enzensberger keineswegs poetische Ästhetik absprechen – nur liegt sich bei ihm in Form, Spiel und Dynamik, nicht in der Poesie innovativer oder einnehmender Bilder. Seinen Zeilen muss man wie einem Gedankengang folgen; seine Metaphorik ist Symbolik und besteht aus gegensätzlichem oder seltsamen Vergleichen, Fundsachen und scharf gestellten Betrachtungen; die Gedichte sind Okular und Objekt gleichermaßen.
Kiosk ist vielleicht der beste Band von Enzensberger – mit Sicherheit aber ein sehr vielfältig-skizzierendes Erlebnis, noch immer nicht unaktuell. Viele ausgesprochen gelungene Gedichte finden sich hier, auch ein paar überragende. Besonders beeindruckt hat mich mal wieder die Fähigkeit Enzensbergers, die Perspektive nach Belieben zu verändern und ihre Bedeutung stets zu unterstreichen – ein roter Faden, der sich durch sein ganzes lyrisches Werk zieht und ihm eine eigene, beständige Botschaft gibt. Das ist vielleicht kein Muss für einen Dichter, aber sicher ein großes Plus.