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Eine intensive, kluge, tolle Lektüre


Es kommt vor, dass schon die ersten Absätze eines Buches eine freudige, bange Erwartung in mir entfachen: ist dies etwa eines der Bücher, dessen Inhalt ich nicht bloß nachvollziehen kann, vielleicht sogar durchdringen, sondern das mich und meine Gefühle, Erlebnisse, Gedanken auf direktem Wege zu ergründen weiß, das in den Kern meiner eigenen Sehnsüchte, Erfahrungen und Fragen vorstößt?

Nicht oft tritt diese Erwartung auf und noch viel seltener trifft sie zu. Aber man kann von ihr nicht lassen, denn welche Lektüren wären kostbarer als jene, die einem so nahegehen (oder -gingen)? Zumindest ich erwische mich dabei, dass ich solche Bücher mit einer ganz besonderen Zärtlichkeit umhege, auch Jahre später noch.

Vor zwei, drei Jahren dachte ich, ich wäre wieder auf ein solches Buch gestoßen: als ich die ersten Seiten von Erich Wolgang Skwaras „Die heimlichen Könige“ las. Doch stellte sich bald heraus, dass das Buch, obgleich es sicher kein schlechtes ist, die Intensität, mit der es einsetzte, nicht durchhalten konnte und alsbald in Wiederholungen verfiel, sich verzettelte. Aber seitdem trug ich ein Gefühl mit mir herum, dass die ersten Seiten beschworen hatten und die Erwartung, irgendwo könnte ich es ausgedrückt finden. Und mit einem Mal kommt Daniela Engists „Lichte Horizonte“ daher und serviert mir das Gefühl, nein: haut es mir um die Ohren, legt es mir heiß auf die Haut.

Es ist die Krux intensiver Lektüren, dass ihre Beschreibung große Begriffe zu verlangen scheint, die für die Leser*innen, die bisher nicht diese Erfahrung gemacht haben (oder vielleicht auch nicht machen werden – nicht jede*n haut jedes Buch aus den Socken), schlicht wie Geheischtes, Abstrahiertes, Ominöses wirken. Ich werde mich also bemühen, nicht allzu hoch zu greifen, bitte aber um Nachsicht.

Eigentlich ist der Plot von Engist Buch ziemlich unspektakulär: Eine (Mitte-Ende) vierzigjährige Frau, seit 20 Jahren verheiratet, Mutter zweier Kinder und seit kurzem auch Romanautorin, hat bei einem Festival einen französisch-deutschen Chansonnier kennengelernt, mit dem sie jetzt auch über E-Mail in Kontakt steht („Gut gegen Nordwind“ lässt nicht grüßen, keine Sorge). Vor dem Hintergrund des intensiven, erotisch untermalten Austausches mit ihm, lässt sie ihr ganzes Liebesleben noch einmal Revue passieren, spürt ihren eigenen Sehnsüchten von damals und heute nach, erforscht die Illusionen und Wirklichkeiten ihres Begehrens, die Geschichte ihrer verpassten Chancen und ambivalenten Entscheidungen.

So weit so gut, aber derlei verspricht noch nicht unbedingt eine anregende, intensive Lektüre. Das „Lichte Horizonte“ aber genau das ist, eine in jeder Hinsicht anregende und immer wieder intensive Lektüre, verdankt das Buch einer Kombination aus der Intelligenz der Autorin und ihrer Bereitschaft, dahin zu gehen, wo sich Kitsch und Kunst, Gefühlsgewalt und bloßes Flirren, verständlicher Schmerz und undeutlicher Jammer auf engem Raum tummeln und man sehr behutsam und doch entschlossen vorgehen muss, um das eine vom anderen zu trennen.

Engist findet genau den richtigen Ton – besser gesagt die richtigen Töne, sie variiert ihren Stil gekonnt – um sich in diesem Raum zu bewegen. Mit unverschämter Leichtigkeit erforscht sie die Welten der schön-schmerzlichen Vergangenheit, kombiniert die Weisheit von Lektüren mit dem schmalen Stich der hartnäckig(en,) übersehenen Fragen und führt uns vor, wie Umstände ein Leben kreieren, warum aber die Essenz dieses Lebens immer jene dünne Haut aus Wünschen, Empfindungen und Gedanken bleibt, an der alles Faktische und Wirkliche letztlich nur anbrandet wie das Wasser an den Klippen, die nicht nachgeben, bis sie eines Tages hinabstürzen.

Noch etliche weitere Vorzüge könnte man nennen, z.B. wie geschickt Engist die intime und schonungslose Stimmung des Werkes aufrechterhält, indem sie mit dem autobiographischen Gehalt des Buches spielt. Wie sie überhaupt die Spannung und Intensität des Buches durch eine gute Balance aus Erinnerungs- und Handlungspassagen erschafft, durch Verdichten im einen und Ausführen im anderen Moment. Weitere Vorzüge werden die Leser*innen selbst auffinden müssen.

Am Ende bleiben viele Fragen (mindestens so viele wie die Anzahl der Steine, die man am Strand sammelt), viele zitierwürdige Passagen, mit denen man ein eigenes Zitatenbuch starten könnte – und, nicht zuletzt, viel vom Buch auf die Leser*innen übertragene Sehnsucht, Nostalgie, sowie der Wunsch sein Leben (neu) zu gestalten. „Lichte Horizonte“ ist ein Buch, das zur Einkehr anstiftet und zugleich hungrig macht auf das Lebendige, Erfüllende, Haltlose. Kurzum: ein richtig gutes Buch, zumindest für jene, die nicht nur unterhalten, sondern auch erschüttert und inspiriert werden wollen. Die es mögen, wenn ein Buch Wellen schlägt in einem. Und unter die Haut geht.

Zu Lars Reyers Gedichtband “Magische Maschinen”


“Auf der Hügelkette summt
das Trafohäuschen seine elektrische
Kantate. Es kommen
keine Engel. Kröten
schnarren durch die Nacht, vom Dorf
herauf, wo die letzten Bierstubengänger
miteinander tuscheln, die fahlen Birken
klappern-”

Es ist sicher kein Zufall, dass vorne auf dem Cover von “Magische Maschinen” eine Kassette abgebildet ist. Beinahe alle Gedichte in diesem Band haben einen gewissen “Tape”-Charakter, einen Anfang, der unvermittelt kommt und ein Ende, das sich selbst ausschaltet; man hört förmlich das Klacken zwischen den einzelnen Seiten, dieses Geräusch, welches der Recorder macht, wenn man die Kassette stoppt und das leisere Knistern, gefolgt von einem aufgescheuchten Surren, wenn man sie wieder in Gang setzt.

Und auch interessant ist, dass aus der Kassette auf dem Cover ein Teil des Bandes herausgezogen wurde – ein vertrautes Bild, ein vertrautes Gefühl. Es stellt sich sofort die Idee ein, das dünne Material zu berühren, daran entlang zu streichen, während man es doch eigentlich aufrollen und sollte. Ist dieses Knäuel aus Kassettenband nicht eine treffliche Metapher für das Leben? Für die Faszination? Und wollen wir nicht manchmal auch alles raffen, in der Hand halten – hoffnungslos und damit das Ganze vielleicht zerstörend – wo es doch eigentlich auch gar nicht uns gehört, sondern dem jeweiligen Moment?

“wir standen
uns immer selbst auf den Füßen & pissten
an den Elektro-Weidezaun, wir lagen
mit dem Ohr am Puls
des anderen & horchten
auf die Strömung, die noch kommen sollte.”

Grob, fast ohne Punkte ziehen sich die Textflüsse Lars Reyers über die Seite, wie der Bach aus der Kindheit unter der porösen, verwitterten und doch (vielleicht gerade wegen dieser Eigenschaften) immer gleichen, immer dagewesenen, quasi in einem Zustand des Zerfalls eingefrorenen Brücke, dahin floss – über dem man als Kind stand und über den man hinwegpubertierte, ohne das sich etwas änderte und es änderte sich doch alles.

Fein sind diese Ahnungen, gesponnen, betrachtet durch das filternde Gefühl des Erinnerten; das geradezu dinglich Präzise in der bis ins Kleinste an dir teilhaftigen Erinnerung. Reyers Gedichte kommen genau von daher und sind genau dort schon fast nicht mehr zu sehen, nur noch zu spüren, festzumachen an dem einen oder anderen, was nie verlorenging, was heute noch hinter uns herzieht und, wenn wir verharren, plötzlich in unsere Erinnerung schießt, durch den ganzen Spiegelpalast des Kopfes. Diese Erinnerungen, wie eine leise Didaktik der Jugend und Kindheit und welche Vorstellung von Lebendigkeit daraus erwächst.

“Ich lese nicht, ich schreibe nicht, ich schweiße nur.”

Dann wäre da noch das Kapitel “Magische Maschinen”, eine flüssig-verzahnte Lang-OP, um den Schwanz der Worte wieder an den Korpus des Lebens zu nähen. Eine wortreiche, virtuose Metamorphose, ein bisschen ohne Hand und Fuß, aber mit Schweiß und einer fühlbaren Lust am Rotieren der Sprache und dem unstillbaren Hand in Hand gehen ihrer Auswüchse, dabei aber auch erfreulicherweise nie zu überbordend oder außerordentlich hermetisch, mit einem kleinen Funkenschlag Mythos.

Insgesamt ein vor allem in seiner eigenwilligen und doch luziden Art beeindruckender Gedichtband. Man kann jedes Stück darin (ausgenommen die beiden Zyklen “Magische Maschinen” und das für mich etwas zu spezielle “Tracks von Jenseits der Auslaufrille”) lesen und ist sofort in einem Erinnerungsflash gefangen, der einen beinahe auf allen sinnlichen Ebenen anzusprechen versucht (und dem das meistens auch gelingt); dabei bewahrt der Autor eine bemerkenswerte Kontrolle. Selten habe ich Gedichte gesehen, die sich bei so freien Formen doch so sehr im Griff haben, die so unterkühlt sind und gleichsam so “lebensnah”.

“Aus dem abgeklemmten Kühlschrank neben der Werkbank
holt er sich den Klaren, die Flasche hat kein Etikett,
früher brannte er noch selbst, Holunderbeeren, weißen Klee –
er wusste wie man destilliert, die Kolben hielten länger
als sein schwarzes Haar.”

Ich würde mich schwertun damit, ein Gefühl in diesen Texten in den Vordergrund zu stellen. Melancholie? Sardonische Gleichgültigkeit? Eine Contraepiphanie des Vergänglichen?
Das alles wäre nur Treibgut auf dem Fluss, der diesen Gedichtband durchzieht. Es ist ein unauffällig dunkler, von Lichtschotter übersäter Fluß, eine aus Worten wie “Harn” und “Brackwasser” gemischte Maße, den man aber auch mit Wörtern wie “Nachtigall” und “Tuschen” beschreiben kann. Zwischen solchen Wortdivergenzen bewegt sich Lars Reyer, ohne dass man merkt, dass er sich bewegt. Er schwebt viel mehr, er teleportiert sich hin und her; nimmt das eine, taucht es ins andere; modelliert dies und versinkt danach in jenem. Daraus wird mit der Zeit eine kontrastreiche und doch einförmige Gestalt, vielleicht ein Abstrich des Lebens, vielleicht der Sprache, wer könnte das so ganz genau sagen … manchmal siehst es einfach nach etwas bestimmtem aus, wenn man es liest …

“stumm
lagen die Makrelen auf dem Papier, dem Schlafe nah,
so sah das aus”

Austers Erstling: “Die Erfindung der Einsamkeit”


“Es war. Es wird nie wieder sein. Erinnere dich.”

Paul Auster ist vieles. Er ist Dichter (Disappearances/Vom Verschwinden), Essayist (Die Kunst des Hungers) und vor allem ein vielseitiger und großartiger Romancier (und auch noch Drehbuchautor, Herausgeber, Regisseur, Übersetzer, etc.). Allerdings war er Dichter und Essayist lange bevor er Romancier wurde. Somit ist es folgerichtig, dass seine erste längere Prosaarbeit eine Verbindung aus Essay und Prosa ist, die im Gefühl der Sprache noch immer den Bedacht, die Sparsamkeit und den Ton des Dichters mit sich trägt.

Die Erfindung der Einsamkeit ist weder ein Roman, noch sollte man es als eine Sammlung zweier längerer Erzählungen sehen. “The Invention of Solitude Sun” wie das Buch im Original heißt, hat immer in der Kombination der beiden Texte bestanden und wurde nicht erst im Deutschen so zusammengefügt. Und auch wenn die beiden Texte abseits ihrer zahlreichen, kleineren Gemeinsamkeiten, keine wirklich konkreten, eindeutigen Verbindungen haben, sollte man sie dennoch als zwei Teile eines übergreifenden Werks betrachten.

“Erinnerung: der Raum, in dem etwas zum zweitenmal geschieht.”

Um zu differenzieren, worin es genau in “Erfindung der Einsamkeit” geht, müsste man den Text auf die ein oder andere Weise auslegen – wozu ich hier weder das Bedürfnis habe, noch den Raum und es wäre auch eher ein Thema für einer Dissertation als einer Rezension. Im Ganzen könnte man, speziell für den zweiten Teil des Buches, die Bezeichnung “discovering literature” verwenden, also Literatur, die erlangt, entdeckt, erschließt, statt nur zu beschreiben. Jeder der beiden Texte ist keine gerahmte, konkrete Erzählung, sondern ein voranschreitender, mit Ideen und Eindrücken gepflasterter, Pfad durch Erinnerung, Literatur und Bewusstsein; durch Lebenswirklichkeiten als Sprache. Darunter sollte man sich nicht etwas Krudes, Unlesbares vorstellen, irgendeine pseudo-hermetische Fabulierung; vielmehr ist das ganze Buch eine Meditation, eine Konzentration auf Erinnerung, ihren Wert, ihren Kosmos, ihre Angelegenheiten. Der Satz ganz oben, am Anfang des Textes, fasst es ganz gut zusammen – er ist gleichsam ein Paradoxon und doch ist das Wesen der Erinnerung darin ganz gut zusammengefasst. Nur, dass Erinnerung eben nichts ist, das zusammengefasst werden kann. Sondern etwas, das “mehr Türen hat, als es Räume gibt, in denen wir existieren könnten.” (J.L. Borges)

“Diese vier Wände bergen nur die Zeichen seiner eigenen Unruhe, und um in dieser Umgebung ein wenig Frieden zu finden, muss er sich immer tiefer in sich selbst vergraben. Aber je mehr er gräbt, desto weniger wird noch zum Graben übrigbleiben.”

Der erste Text ist, einfach ausgedrückt, eine Art langgezogene Totenrede auf Austers Vater, in dem der Sohn dem eigenartigen und doch einzigartigen Wesen seines Vaters und Erzeugers nachspürt. Wie immer geht es in dieser Beziehung auch um Anerkennung, Bestätigung und eine stets vorhandene Unkenntnis/Irritation im Bezug auf den anderen, der einem nah und zugleich fremd ist, sowie um den Vorbildstatus und die ambivalenten Empfindungen, die sich durch diesen Status in Kindheit und Jugend ergeben.

Es ist ein sehr stiller Text und doch hat er einen sehr großen Klangkörper, der mit jeder Zeile wächst, sodass jeder Ton, der dennoch daraus emporkommt, sehr tief geht, vielleicht sogar eine Entsprechung im eigenen Gefühl erzeugt. Wirklich beeindruckend ist, dass der Text in keiner Weise parteiisch ist, weder in die eine Richtung (und kalt und rein essayistisch-analytisch wird), noch in die andere Richtung (und das Rührsame herauskehrt), sondern einfach immer und immer weiter sich erinnert, immer weiter in dieses Gefühl hineingeht, einen Vater gehabt zu haben, in den Wunsch, nichts zu vergessen, nur um nicht begreifen zu müssen, dass er tot ist (oder vielleicht gerade um dies zu begreifen.) Auf seine unaufdringliche Weise ist dieser Text einzigartig und sehr gut, sowie wunderbar eindrücklich geschrieben.

“Wer wirklich in seiner Umgebung anwesend sein will, darf nicht an sich selbst, sondern muss an das denken, was er sieht. Um da zu sein, muss er sich vergessen. Und aus diesem Vergessen kommt das Erinnerungsvermögen.”

Der zweite Text, “Das Buch der Erinnerung”, ist eine Art Metatext und im gewissen Sinne ein Antipode zum ersten (und auch wieder nicht). Es geht wieder um Erinnerung, aber nicht mehr um das Heimweh nach Gegenwart von Erinnerungen, sondern das Heimweh nach Vergangenheit, das Leben IN Erinnerungen; und, konsequenterweise, nicht nur um das Erinnern, sondern auch das, was passiert, wenn man anfängt sich zu erinnern: all die Verbindungen & Geschichten, das Licht und der/die Schatten, die dieser Raum der Erinnerung bereithält. Zufälle und prägende Erlebnisse, Kindheitsglaube und Kindheitsempfinden, nachwirkender Glaube und heutige Sehnsucht – dieser Text ist wie eine literarische Reise, die Abbildung eines Erinnerungs-/Gedankenstrom an sich: er kann nicht aufgebrochen, nicht von Außen in einen Rahmen gesetzt, nicht letztendlich definiert werden. Man kann nur aufnehmen und mitempfinden, was darin geschieht, was sich daraus ergibt.
Und zum Teil ergibt sich daraus etwas, dass einer Phänomenologie der Erinnerung sehr nahe kommt:

“Die Vergangenheit, schreibt Proust in einem wichtigen Absatz seines Romans, verbirgt sich außerhalb des Machtbereichs unseres Geistes und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem Ahnen wir nicht.”

– aber gleichsam auch eine große Meditation über das Wesen von Sprache und Erinnern ist, der Symbiose zwischen Sein und Vergegenwärtigen, dem Spiel zwischen Erkenntnis und Zeit.
Wer eine eindrückliche, äußert vielseitige, philosophisch-lebensnahe und auch komplexe Leseerfahrung machen will, sollte sich diesen Text nicht entgehen lassen. Und sollte auch wenig darauf geben, was ich hier ausgeführt habe – wie gesagt, der Text muss von jedem Leser auf seine Weise discovered werden.

Als Auster sich dem Roman zuwandte, hat er viele der Passionen und Themen, die ihn beschäftigen (uns alle beschäftigen) in diesen Romanen als Symbole, Symptome und Mechanismen eingebaut und neu verwirklicht. Hier findet sich quasi ein Teil-Rohbau, jene noch nicht ganz in die Fiktion transportierte Fassung seiner Ideen und Ansichten, verknüpft mit seinen autobiographischen Erlebnissen und seiner persönlichen Empfindung. Es ist jedoch, wie bereits deutlich gemacht, nicht nur als biographisches Dokument interessant, sondern auch literarisch sehr wertvoll. Trotz des Buches Von der Hand in den Mund: Eine Chronik früher Fehlschläge, seiner Essays und der anderen Selbstzeugnisse, würde ich dieses Buch als Austers persönlichstes bezeichnen (wenn auch das neu erschienene Winter Journal ihm vielleicht Konkurrenz machen könnte).

Mario Vargas Llosa und “Tante Julia und der Kunstschreiber”


Mario Vargas Llosa ist ein Chamäleon. Fast in jedem seiner mittlerweile 16 Romane hat er sich neue thematische und stiltechnische Ursprünge gesucht und neue Belange und Ideen an seine Prosa angelegt – eine Qualität, die nur ein ausgewählter Kreis aus Romanciers für sich beanspruchen kann. Was viele seiner Romane trotzdem verbindet ist der Witz, der in unterschiedlichen Formen, manchmal offensichtlich, manchmal zärtlich, manchmal grotesk, sich in seinen Werken eine Bahn bricht und die Virtuosität, mit der sich in einem Buch auf mehreren sprachlichen Ebenen bewegt.

Tante Julia und der Kunstschreiber entstand als erster Roman einer Periode, nachdem sich Llosa von den Prinzipen des “totalen” Romans (bestes Beispiel für diese Formulierung ist der sich selbst verschlingende Romankoloss Gespräch in der »Kathedrale«) teilweise losgesagt hatte. Deswegen ist er zwar formal wie seine Vorgänger sehr ausgeklügelt, sprachlich jedoch zugänglicher und begnügt sich damit, nicht kosmisch, sondern lediglich vielfältig zu sein.

In dem Rahmenteil der Geschichte erzählt Llosa aus einer biographischen Episode seines Lebens. Damals, mit 18, arbeitet er beim Rundfunk und ist für die stündlichen Kurz-Nachrichten zuständig. In diese Zeit fällt auch sein beginnender Wunsch, Schriftsteller zu werden und die Begegnung mit seiner ersten großen Liebe, die allerdings ein wenig problematisch ist. Keine dieser Schilderungen kommt mit einer Prägung des Erinnerten daher, sonder wird mit der Unverstelltheit einer realistischen Fiktion erzählt.
Der andere Teil des Buches besteht aus Hörspielserien (quasi Radioseifenopern – ein Produkt, welches tatsächlich in den Mittel- und Südamerikanischen Ländern viel verbreiteter war als z. B. in den USA und erst dorthin importiert wurde), die der neue Hausautor des Senders, ein pedantischer Schreibwütiger, verfasst, wobei er meist mehrere gleichzeitig für verschiedene Wochentage produziert. Allerdings verliert er bald schon den Überblick über Personen und Handlungsstränge, was zu höchst verwirrenden und amüsanten Verwicklungen und Paradoxien für die Hörer-(und Leserschaft) führt…

“Tante Julia und der Kunstschreiber” lebt davon, dass sich beide Haupt-Handlungsstränge immer wieder ablösen, man also abwechselnd wieder einen Teil aus der Episode der Liebesgeschichte, dann eine Hörspielserie liest. Man will bei beiden unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Wer gerne Romane liest, weil ihn die Möglichkeiten dieser Form genauso fasziniert wie eine gute, interessante Geschichte, bei dem dürfte dieses Buch besonderen Anklang finden. Wer dagegen beim Roman nach dem Motto: “Keine Experimente!” lebt und eher eine geradlinige Erzählstruktur bevorzugt, wird diesen Roman möglicherweise als mühsam empfinden. Mir hat er sehr gefallen – er ist wirklich eines dieser Bücher, die man in sehr dankbarer Erinnerung behält.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.