„Als ich auf meinem kleinen Hotelbalkon in Luxemburg saß und auf die Stadt blickte, konnte ich nicht anders, als mich ganz den Erinnerungen hinzugeben. Diese Erinnerungen waren Dämonen, aber ich hatte sie vermisst. Wie eine Droge.“
Vier Freundinnen und der Sommer ihres Lebens + große Liebe + großes Zerwürfnis – das klingt nach einem altbewährten Rezept. Bewährt nicht nur wegen dem relativ klaren Plotverlauf, sondern auch weil der/die Autor*in, wenn sie rückblickend erzählt (wie auch Julia Holbe es tut), gleichsam über die Jugend und übers Alter schreiben kann, also beide Gefühlswelten abdeckt.
Zu Anfang ist das Buch auch genau die eindringliche und bewegende Erfahrung, die es durch diesen Mix zu sein verspricht: nach fast drei Jahrzehnten trifft Elsa Marie wieder. Sie bildeten einst gemeinsam mit ihrer Freundin Fanny eine 3er-Clique, die in ihren Studienjahren immer die Ferien in einem Haus von Elsas Eltern an der französischen Atlantikküste verbrachte. Dort wartete jeden Sommer das vierte, ortsansässige Mitglied ihrer Gruppe auf sie: die quirlige Lenica, zu der besonders Elsa ein tiefe Zuneigung hegte. Sie verbrachten die Tage mit trinken, reden, lesen, schwimmen und essen, in tiefer Eintracht.
Dann, im letzten gemeinsamen Sommer, trat auf einmal Sean in diesen erlesenen Kreis: Sean, der etwas ungeheuer Anziehendes hatte, etwas Raubtierhaftes und gleichsam Liebevolles, etwas Umwerfendes und der aber auch Geborgenheit geben konnte, Leichtigkeit, Freiheit. Mitgebracht hatte ihn Lenica, die ihn bereits lange zu kennen schien – aber zusammen kommt er dann mit der Erzählerin Elsa, die sich mit aller Leidenschaft in diese Beziehung stürzt, obgleich sie den Abgrund darin von Anfang an ahnt.
Danach sahen sich die Freundinnen über Jahrzehnte nicht; Lenica starb in der Zwischenzweit. Und jetzt, nach Ehen, Kindern und Scheidungen, erscheint den drei Freundinnen (Marie und Elsa spüren auch sehr schnell Fanny auf) dieses einstige Glück nicht nur magisch, sondern sie legen es auch auf ein letztes Revival an und fahren noch einmal in das Haus, um ein langes Wochenende dort zu verbringen. Und es kommt, wie es kommen muss: Sean taucht wieder auf …
Am Anfang ist Holbes Buch unwiderstehlich und sie versteht es, die Gegenwarts- und die Vergangenheitsebene gut miteinander zu verschränken und doch separat voranzutreiben. Es wird Spannung aufgebaut und viel Vorfreude stellt sich ein, gleichsam zeichnet Holbe ein gutes Bild von Erinnerungswelten und ihrer Anziehung, ihrer trügerischen und doch tiefen Schönheit.
Bis sie dann anfängt, es in einigen Formulierungen zu übertreiben. Als würde sie der Kraft und Dynamik ihres eigenen Sujets (das sich ja, wie gesagt, schon bewährt hat) nicht vertrauen, beteuert sie etwa ab dem zweiten Drittel in jeder Szene die Intensität und Bedeutung der Gefühle ihrer Protagonistin – manches davon mag als authentischer Überschwang durchgehen, aber vieles wird zur enervierenden Overdosis.
Ja, kann man jetzt einwenden, die Protagonistin wird halt von ihren Gefühlen überwältigt, sie schwelgt darin, das gehört zu ihrem Charakter. Das mag stimmen, ist sogar logisch, ergibt aber leider streckenweise einen furchtbaren Stil und macht die Spannung in vielen Szenen zunichte; und auch die zentralen Gefühle erscheinen zu durchsichtig, zu wenig ambivalent.
Ich möchte hier gar nicht mit irgendwelchen creative-writing-Regeln à la „Show, don’t tell“ kommen und Holbes Stil generell aburteilen. Ich verstehe, warum er zeitweise übersteigert sein muss – eben weil die Protagonistin so empfindet, aber noch mal: Logik ersetzt mir nicht das Lesevergnügen und das schwindet leider spätestens ab der Hälfte rapide, zumindest in den Szenen, in denen – statt dass vorausgesetzt wird, dass ich die emotionalen Verfassungen der Beteiligten grundsätzlich verstanden und im Blick habe – immer und immer wieder dieselben Gefühlswelten abgegrast werden.
Und das ist wirklich sehr, sehr schade, denn zu Anfang hatte ich den Eindruck, ein wirklich überdurchschnittlich gutes, sehr in seinem Thema aufgehendes Buch in Händen zu haben, das ich nach dem ersten Drittel wohl auch hymnisch besprochen hätte, als Ode an die Landschaften unserer Erinnerungen, als Psychogramm des Alters, als Elegie über das Gefühl der verpassten Dinge, etc.
Und gerade auf diesen ersten Seiten ist das Buch auch in Bezug auf das eigene Erzählen viel klüger als später, wie Formulierungen wie diese hier beweisen:
„Wahrscheinlich war alles irgendwie gebrochener, ambivalenter, wahrscheinlich trauriger. Aber ist nicht das Wichtigste, wie wir uns erinnern? Nein. Das Wichtigste ist, wie wir es erinnern wollen.“