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Die zwei großen Narrative Literatur und Wissenschaft


Erkenntnis und SChönheit

Naturwissenschaft und Literatur, zwei große Narrative der Menschheitsgeschichte. Beiden sind Vorstellungen von Fortschritt und Tradition eingeschrieben, beide wollen die Welt darstellen, wollen das Innenleben jener materiellen und ideellen Form von Dasein ergründen, die in diesem Universum und all seinen Erzeugnissen vorherrscht.

Diese beiden Narrative, versponnen und gegeneinandergehalten, sind es, die McEwan in den Mittelpunkt nahezu aller Texte in diesem Band gestellt hat, von denen vier Vorträge sind und einer ein Artikel, gehalten bzw. publiziert zwischen 2003-2019. Der letzte Text legt dann noch einen besonderen Fokus auf die Religion (das dritte große Narrativ), genauer auf Endzeitvorstellungen.

Eine Persönlichkeit, die in den anderen vier Texten immer wieder eine Rolle spielt, ist Charles Darwin. Für McEwan ist er nicht nur als Begründer der Evolutionstheorie interessant, sondern auch (und teilweise vielmehr) als Literat. „Die Entstehung der Arten“ und auch Darwins andere Bücher, allen voran „Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren“, sind für McEwan nicht einfach nur wissenschaftliche Texte, Beweise für Theorien, sondern Literatur im besten Sinne.

Mehr als einmal bricht McEwan, nicht nur im Fall von Darwin, im vorliegenden Buch eine Lanze für die Wissenschaftsliteratur, ja, für die Wissenschaft(geschichte) als große Erzählung von den Dingen, die der Literatur näher steht, als uns die Trennung in arts und science glauben lässt. Denn obgleich es der einen um die Schönheit, der anderen um die Erkenntnis zu gehen scheint, findet sich auch in der Literatur Erkenntnis und in der Wissenschaft Schönheit. Ihre Ziele und vor allem ihre Errungenschaften haben einiges gemeinsam.

McEwan ist ein sehr non-stringenter Essayist. Er arbeitet keine klare Conclusio heraus, vielmehr sind seine Texte ein konstantes Vermitteln von Ideen, Referenzen, Verhältnissen, Möglichkeiten. Das ist angenehm, inspirierend, mitunter aber ist die Bewegung des Textes, trotz ihrer Eleganz, schwer nachzuvollziehen. Wer sich an dieser leichten Inkonsequenz nicht stört, dem wird McEwan in seinen Texten einen ganzen Kosmos an Überlegungen, Lektüren und Geschichten eröffnen.

Zu “Die Mutter aller Fragen” von Rebecca Solnit


Die Mutter aller Fragen „Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – mit Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.“ (aus dem Vorwort)

Mit jedem neuen Buch avanciert Rebecca Solnit für mich ein Stück weit mehr zu einem wichtigen Fixstern am Himmel derer, die wichtige Impulse und Ideen zu den Debatten unserer Zeit liefern. Schon ihre Bücher „Wenn Männer mir die Welt erklären“, „Die Dinge beim Namen nennen“ und „Wanderlust“ habe ich mit großen Gewinn gelesen und „Die Mutter aller Fragen“ reiht sich hier nahtlos ein und gibt mir dieses ganz besondere Gefühl der Dankbarkeit, das man mit den Autor*innen verbindet, die einen immer wieder aufs Neue prägen.

Wie auch schon bei „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist in „Die Mutter aller Fragen“ der Titelessay nur einer von vielen und der Band dreht sich nicht allein um Mutterschaft und deren zentrale Rolle bei der Bewertung weiblicher Existenzen; er ist sogar separiert und den beiden, sehr viel umfangreicheren Kapiteln des Buches wie ein Prolog vorangestellt.

In diesem Titelessay setzt sich Solnit mit der Vorstellung auseinander, zum Glück einer Frau gehöre unausweichlich auch die Mutterschaft und ihre Abwesenheit sei ein wichtiges Indiz – Ausgangspunkt ist (wie auch beim Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“) ein persönliches Erlebnis: bei einer Lesung wird sie vom Moderator anschließend direkt auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen, statt auf ihr Werk. Von diesem Fall und ihrer persönlichen Geschichte ausgehend, dekonstruiert sie verschiedene herkömmliche Vorstellungen von Familienglück und stellt ihnen gleichsam die Freiheit der Wahl (ob Kind oder kein Kind) und weiterentwickelte Be- und Erziehungsmodelle gegenüber.

Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke.

Nachdem sie mit ein paar Gemeinplätzen aufgeräumt hat, geht sie noch einen Schritt weiter und legt durch einige Statistikern und Beispiele den Leser*innen nahe, die herkömmlichen Glückskonzepte (und dazugehörigen Narrative) der derzeitigen Gesellschaften generell zu hinterfragen:

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden.

So viel zum Eingangstext. Das erste Kapitel des Buches bildet dann größtenteils ein längerer Essay über das (aufgezwungene, unfreiwillige) Schweigen (in vielen Dimensionen – durch physische Gewalt herbeigeführt, durch Angriffe auf die Glaubwürdigkeit, durch das Verhindern von Öffentlichkeit, etc.). Der Text ist ein etwas havarierendes, sprunghaftes Gebilde mit vielen Zwischenüberschriften, das aber immer wieder Bemerkenswertes herausarbeitet und im Ganzen eine erschütternde Geschichte erzählt: die Geschichte von der Diversität und ihren Feinden. Und von einem Aufwind der Veränderung.

Im Kampf um die Freiheit ging es immer auch darum, Bedingungen zu schaffen, die denen, die vormals zum Schweigen gebracht wurden, zu Sprache und Gehörtwerden verhelfen. […] Wenn das Recht, sich zu äußern, glaubwürdig zu sein und gehört zu werden, eine Art Reichtum ist, dann wird dieser Reichtum momentan umverteilt.

In den anderen Essays des Kapitels geht es dann um diesen Aufwind, also um die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben. Sehr schön ist, wie Solnit hier neben den vielen Aktionen von Aktivistinnen und Künstlerinnen auch über Männer spricht, bei denen sie immer mehr aufrichtiges Interesse für feministische Belange wahrnimmt und auch, dass sie dementsprechend agieren. Und sie geht sogar so weit, in einigen Abschnitten eine Theorie zu verhandeln, nach der auch viele Männer vom Patriachat kaputt gemacht werden, indem sie dazu angehalten werden, sich selbst emotional zu verkrüppeln, ihre Empathie abzubauen und keine Gefühle zu zeigen. Als kleines, noch harmloses Beispiel nennt sie:

Als ich noch sehr jung war, habe ich mit meinem Freund eine Reise mit dem Auto gemacht, und als wir losfuhren, sagte sein Vater zu uns: »Meldet euch mal. Deine Mutter macht sich sonst sorgen.« Die Mutter war die Platzhalterin seiner Gefühle, die er nicht ausdrücken konnte. […] [er war so ein Sinnbild für] Männer, die sich bei jeglichem Gefühlsausdruck im schlimmsten Fall konkret unwohl fühlten und meinten, dass das Verbindliche eben nicht ihre Aufgabe war. […] Diese Leute erinnern uns daran, dass dieses Abgestumpftsein im Kern aller Dinge ruht und nicht an deren Rändern […] eine ganze zentrale Angelegenheit ist und keine marginale.

Ein weiterer großer Themenkomplex ist der Umgang mit sexuellem Missbrauch – und wie sich auch hier in den letzten Jahren (im Zuge der Cosby-Affäre und #metoo, etc.) einiges verändert hat, aber immer noch von einer rape culture gesprochen werden muss, in der nicht nur pathologisch eine Täter-Opfer-Verschleierung stattfindet, sondern generell vieles ungeahndet und ungenannt bleibt.

Menschen werden u.a. deswegen verletzt, weil wir nicht über diejenigen sprechen wollen, die sie verletzen. […] und ich glaube fest daran, dass eine Welt, in der wir die Männer nicht so häufig von ihrer Verantwortung entbinden würden, eine bessere wäre.

Das zweiten Kapitel wartet dann noch mit allerhand großartigen Einzeltexten auf, u.a. einer Kritik an einer Liste mit „80 Büchern, die man als Mann gelesen haben sollte“, einem Essay zum erstaunlich progressiven 50er Jahre Spielfilm „Giganten“ und einem Text mit dem Titel „Wenn Männer mir Lolita erklären. Nebenbei fließen immer wieder prägnante Beobachtungen ein, zum Beispiel zur Pornographie:

Der Mainstreamware scheint es jedoch prinzipiell weniger um die Macht der Erotik zu gehen als um die Erotisierung der Macht.

Diese Beobachtung mag für manche offensichtlich oder hinlänglich bekannt sein, aber für mich fasst dieser Satz tatsächlich sehr gut das zusammen, was ich an Mainstreampornographie meist abstoßend, im gelindesten Fall irritierend finde. Es ist beeindruckend wie leicht Solnit solche Feststellungen und kurzen Abschweifungen von der Hand gehen und wie sie doch bei aller Prägnanz und allen Zuschreibungen nie eine potenzielle und unzulässige Verallgemeinerung aus dem Blick verliert, sich immer wieder Zeit nimmt, im richtigen Maß ihre Beobachtungen und Ausführungen zu kontextualisieren und zu relativieren, ohne sie abzuschwächen

In einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Die Flucht aus der fünf Millionen Jahre alten Vorstadtsiedlung“ geht es um den langegehegten und längst überholten Mythos von den ausziehenden männlichen Jägergruppen und den braven Frauengruppen, die Zuhause blieben, der gerne als Rechtfertigung für die Rollenverteilung in allen Zivilisationen herangezogen wird. Mit den letzten Sätzen dieses Textes möchte ich schließen und jeder/m die Bücher von Solnit ans Herz legen.

Wir müssen aufhören, das Märchen von der Frau zu erzählen, die passiv und abhängig zu Hause blieb und auf ihren Mann wartete. Sie saß nie wartend herum. Sie hatte zu tun. Und das hat sie immer noch.

 

Zu “Stark und leise” von Ursula Krechel


Stark und leise Essays, Portraits, Studien, Untersuchungen, Empfehlungen? Es ist schwer die Texte in „Stark und leise“ einem Genre zuzuordnen. Manche entstanden, so geben die Nachweise hinten im Buch Aufschluss, auf der Grundlage von Zeitungsartikeln oder Anthologie-Beiträgen, aber es sind teilweise auch Reden und Vorträge oder auch Texte, die in Kombination oder in Verweis auf andere Kunstprojekte entstanden sind. Sie in diesem Band unter dem Titel „Pionierinnen“ zu vereinen ist einerseits zwar nicht aus der Luft gegriffen, geht aber andererseits nicht zur Gänze auf, dafür bemerkt man nur allzu gut, dass die Texte unterschiedliche Gewichtungen haben und sich mit unterschiedlichen Aspekten beschäftigen.

Unterteilt sind die Texte in drei größere Abschnitte. Im ersten finden sich die vormodernen (nicht auf ihren Charakter oder ihr Werk bezogen, sondern lediglich historisch gemeint) Gestalten, namentlich Christine de Pizan, Anna Louisa Karsch, Karoline von Günderrode, Bettina (und Achim) von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff. Im zweiten Frauen aus der frühen Moderne, namentlich Vicki Baum, Emmy Ball-Hennings, Hannah Höch, Charlotte Wolff, Elisabeth Langgässer, Ruth Landshoff-Yorck, Irene Brin, Irmgard Keun u.a., die erwähnt, am Rande gestreift werden, wie etwa Annemarie Schwarzenbach. Im letzten Abschnitt geht es um Ingeborg Bachmann, Elisabeth Borchers, Christa Reinig, Friederike Mayröcker und Elke Erb.

Man merkt, dass sobald Krechel sich mit einer dieser Personen beschäftigte, sie schnell eine große Vertrautheit gegenüber ihrer Geschichte, ihrem Narrative entwickelte, zumindest lassen die Texte immer wieder diese Art von Vertrautheit oder auch Nähe hervorblitzen. Manchmal scheint sie sogar zu vergessen, dass andere nicht so versiert im Thema und nah dran am Stoff sind, was zumindest mich als Lesenden manchmal etwas außen vor ließ. Dennoch macht gerade diese Neigung die Texte auch lesenswert. Krechel seziert nicht einfach nur Lebensläufe und Geschichte, sie gibt anschauliche und seltene Einsichten, lässt vieles an Werk und Leben lebendig werden.

Auch wenn die Texte sehr unterschiedliche Qualitäten haben, verlässt man wohl kaum einen von ihnen ohne Gewinn. Ein vielschichtiges Buch also, in dem man manchen Text vielleicht überspringen kann, dafür von anderen unverhofft und schnell gefesselt wird.

Zu Juli Zehs “Alles auf einen Rasen”


Alles auf einen Rasen Kompromisslos und scharf: Juli Zeh, vielen vor allem als Romanautorin bekannt, ist auch eine begnadete und streitlustige Essayistin. Dieser Band, ursprünglich veröffentlicht 2006 (knapp 10 Jahre später folgte dann der großartige Band „Nachts sind das Tiere“), hat zwar schon einige Jahre auf dem Buckel und wirkt an manchen Stellen ein bisschen entrückt, ist aber immer wieder erstaunlich gegenwartstauglich, legt den mahnenden Finger in so manche nach wie vor weit (oder sogar noch weiter) aufgetane, gesellschaftliche Wunde.

Diese Wunden und die daraus resultierenden Debatten ruft einem das Buch wieder ins Gedächtnis und zumindest ich habe währende der Lektüre mehr als einmal gedacht: stimmt, Moment, das wurde mal heiß diskutiert, aber irgendwie nie geklärt, ist dann einfach versandet und/oder wurde abgelöst vom nächsten Skandal, der nächsten breitgetretenen und letztlich meist totgetrampelten Thematik.

Wer geistig rege bleiben will, der wird sicherlich Freude daran haben, sich mit Zehs Gedankengänge auseinanderzusetzen, ganz gleich ob man ihr nun auf jeden Kriegspfad folgen mag oder nicht. Sie beweist in jedem Fall mal wieder, was sie zu einer so wichtigen Figur in der Literaturlandschaft macht: ihr unabhängiges und dennoch fundiertes Denken, das sich oft genug jenseits des Mainstreams postiert und dennoch mitten im Geschehen ist, viel Aktualität aufbietet.

Zu Roxane Gays Essays in “Bad Feminist”


Bad Feminist „Ich bin eine schlechte Feministin, weil ich nicht auf einen feministischen Sockel gestellt werden will. Von Menschen, die man auf Sockel stellt, wird erwartet, dass sie etwas darstellen, und zwar perfekt. Und wenn sie es versauen, stürzt man sie. Ich versaue es regelmäßig. Betrachten sie mich also als bereits gestürzt.“

Wer nach diesen Eingangsworten fürchtet, Roxane Gays Essays könnten ein weiteres unausgegorenes antifeministisch-feministisches Manifest (wie etwa Jessa Crispins „Warum ich keine Feministin bin“) sein, den kann ich sofort beruhigen: sie sind weit davon entfernt.

Denn obgleich Gay im Vorwort lang und breit ihre Schwierigkeiten beschreibt, zu dem Begriff und der Idee des Feminismus eine gesunde Beziehung aufzubauen, zeigt sich im Verlauf des Buches, dass gerade dieser anfängliche Zweifel die Grundlage einer vielschichtigen und sehr tiefgehenden Auseinandersetzung ist.

Wenn man mich [früher] als Feministin bezeichnete, hörte ich: » Du bist ein zorniges, Sex und Männer hassendes weibliches Opfer. « Diese Karikatur haben Menschen aus Feministinnen gemacht, die den Feminismus am meisten fürchten.

Der Kern des Problems, den Gay mit dem derzeitigen US-amerikanischen Feminismus hat, ist sein mitunter einförmiges Denken, kurzum: seine Heteronormativität und das oftmals fehlende Bewusstsein für Klasse und Race. Wie Gay schreibt:

Frauen of Color, queere Frauen und Transgender-Frauen müssen im feministischen Projekt besser verankert werden. Frauen aus diesen Gruppen sind vom Ideal-Feminismus beschämenderweise immer wieder vernachlässigt worden.

Auch finde keine differenzierte Auseinandersetzung mit den Verhältnisse in unterschiedlichen kulturellen Kontexten statt oder mit der Lage in anderen Ländern:

Ich glaube, dass Frauen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern überall auf der Welt Gleichheit und Freiheit verdienen, aber ich weiß auch, dass ich nicht befugt bin, Frauen aus anderen Kulturen zu sagen, wie diese Gleichheit und diese Freiheit aussehen soll.

Nachdem Gay im Vorwort viele kleinere bis größere Kritikpunkte an der derzeitigen Perspektive des US-amerikanischen Feminismus vorgebracht hat, kann man die folgenden Essays u.a. als Versuch begreifen, einige Felder zu er- und einige von ihr genannte Lücken zu schließen. Sie betritt kein feministisches Neuland, aber bereichert den Feminismus um eine wichtige Perspektive.

Folgerichtig steuert Gay konsequent nur etwas zu den Themen bei, zu denen sie einen klaren Bezug hat: als Autorin, als Frau, als People of Color, etc. Ein Großteil der Essays sind bspw. authentische und gewissenhafte Dekonstruktionen und Analysen von Race in den Kontexten von Literatur und Film, Gesellschaft und Politik.

Hier leistet sie in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit (zumindest für mich, der ich vermutlich viele andere Autor*innen, die dasselbe Feld bearbeitet haben und bearbeiten, mangels Übersetzungen und/oder Publicity nicht kenne), schreibt über Reality-TV, Filme wie „The Help“ und „Twelve Years a slave“, Serien wie „Orange ist the new black“ und erzählt, wie sie Tarantinos „Django“ überlebte und warum sie der Serie „Girls“ zwiespältig gegenübersteht.

In der Literatur äußert sie sich zu Guilty Pleasures wie etwa Teenager-Schundromanen, schreibt über die Diskrepanz zwischen der Rezeption von männlichen und der von weiblichen Romanfiguren, bekennt sich ungeniert zu Die Tribute von Panem und nimmt in einem meisterhaften Text Fifty Shades of Grey, auf mehr als nur der literarischen Ebene, auseinander.

Es geht in Fifty Shades um einen Mann, der Glück und Frieden findet, weil er endlich eine Frau findet, die gewillt ist, seinen Scheiß lange genug zu ertragen. […] Ich lache nur bis zu einer gewissen Grenze über Fifty Shades. Die Bücher sind im Wesentlichen ein detaillierter Leidfaden, um Beziehungen zu führen, in der Kontrolle und Missbrauch an der Tagesordnung sind.

Zusätzlich schreibt sie auch noch über sexistische Lyrics und setzt sich mit Vergewaltigungs- und anderen problematischen Witzen in der Comedy-Kultur auseinander.

Aber auch mit dieser Bandbreite an kulturellen Themen ist der Band noch nicht ausgeschöpft. Gay schreibt auch noch über ihre große Liebe zum Spiel Scrabble und wie sie in der dortigen Community eine neue Familie fand, schreibt über Abtreibungspolitik und Polizeigewalt, Racial-Profiling und erzählt Geschichten von Männern, die von Männlichkeitsbegriffen kaputtgemacht werden.

In einigen sehr bemerkenswerten Texten setzt sie sich außerdem mit sexueller Gewalt auseinander, u.a. auch mit dem Phänomen des Verschweigens und Herunterspielens, wenn es sich bei den Tätern um große Persönlichkeiten oder einfach lokale „Helden“ oder Mitglieder in bestimmten Organisationen handelt, bspw. Footballspieler.

In den meisten Fällen entschuldigt man die Drogen- und Alkoholvergehen der Spieler, die Anschuldigungen gegen sie wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung wurden fallengelassen, weil sie fähig waren, auf dem Footballfeld Punkte zu machen. […] Sie konnten für unser Team die Meisterschaft gewinnen, immer wieder.

Auch nach all diesen Aufzählungen habe ich das Gefühl, gerade mal an der Oberfläche von Gays Themenvielfalt gekratzt zu haben. Egal ob Popkultur oder Politik, Race oder Gender, Gay behandelt jeden dieser Themenkomplexe mit der gleichen Sorgfalt und dem gleichen Ernst, ist selbstkritisch, spricht aber auch im richtigen Moment unverhohlenen Klartext.

„Bad Feminist“ ist eine Sammlung von Essays, die weit über den Titelbegriff hinausweist. Gays aufrichtige, unverstellte Beschäftigung mit ihren Themen macht ihre Texte nicht nur unterhaltsam, lehrreich und lesenswert, sondern ist auch beispielhaft und sollte Schule machen.

Ich erzähle einige Geschichten immer und immer wieder, weil mich bestimmte Erfahrungen tief berührt haben. Manchmal hoffe ich, dass ich durch das wiederholte Erzählen dieser Geschichten besser verstehe, wie die Welt funktioniert.

 

Zu Lukas Bärfuss “Stil und Moral”


Stil und Moral„Die Freiheit des Dichters, sein Spielraum, beginnt erst in der Fügung der Sätze. Im Gegensatz zu den Buchstaben und den Worten ist ihre Abfolge durch nichts festgelegt […] Die Freiheit des Dichters liegt also nicht in der Konstruktion, sondern in der Abfolge. So, wie niemand über die Motorik gebietet, die für einen Schritt notwendig ist, aber entscheiden kann, wohin er seine Füße setzen will, bestimmt auch der Dichter nicht über die Elemente, sondern über ihre Reihenfolge.“

Der Band mit Essays des diesjährigen Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss gehört zu dem Bemerkenswertesten, das in dieser Gattung in den letzten Jahren gelesen habe. Das liegt auch an der Bandbreite der thematisierten Bereiche, aber vor allem an der zu gleichen Teilen eigensinnigen und zugänglich-nahbaren Atmosphäre von Bärfuss-Stil. Die Texte schlagen meist schon zu Anfang einen ziemlich klaren Weg ein und öffnen sich doch immer wieder zu erstaunlichen Ansichten und Aussichten hin, beginnen mit ihrer Argumentation erst manchmal auf den letzten Metern, in denen sich das zuvor Geschilderte aber auf äußerst gelungene Weise verdichtet.

Der Band ist in vier Abschnitte unterteilt, die, so wird nach und nach klar, nicht nur Rubriken darstellen, sondern auch eine Dramaturgie, die zwar nicht im Vordergrund steht, aber dennoch ein zusätzliches Narrativ erschafft. Im ersten Abschnitt sind Texte mit autobiographischem Hintergrund versammelt – darunter eine irritierend-einnehmende Erzählung über Masken, die sich gegen Ende in eine mögliche zivilisatorische Diagnose verwandelt.

Im zweiten Abschnitt befinden sich ausschließlich Texte, die sich mit einem literarischen Werk oder einem Schriftsteller auseinandersetzen, in unterschiedlicher Länge und Intensität. Die autobiographische Note des ersten Abschnitts ist auch hier noch in einigen Texten sehr präsent, auch in einem großartigen Text über Kleist. Klug sind auch Bärfuss kurze Überlegung zu Brecht

„Daher rührt unser Unbehagen, wenn wir heute Brechts Stücke lesen. Er glaubte, die Veränderung sei für den Menschen ein Vergnügen. Für uns hat sie jeden Zauber verloren. Der Kapitalismus hat längst begriffen, dass sich alles ändern muss, damit alles bleibt, wie es ist. Wir transformieren uns von einer Stunde auf die andere, ohne Folgen. Alles wird anders, nichts ändert sich.“

und zu Max Frischs frühem Roman „Die Schwierigen“ und Frisch genereller Behandlung von Identitätsfragen in seinem Werk.

„Wer die Frage nach der eignen Identität stellt, stellt das Konzept der Identität selbst in Frage. Das Wort Identität bedeutet unteilbar, aber jede Frage öffnet einen Spalt. Denn wer ist es, der sie stellt? Wer oder was kann diese Frage stellen, wenn nicht jener Teil meines Bewusstseins, der offenbar nicht zu diesem ungeteilten Teil gehört, der sich Identität nennt. Die Frage selbst teilt das Subjekt in etwas, das ist, und etwas, das sein könnte.“

Bärfuss tritt in diesen Texten weder als Prediger, noch als Zweifler auf, vielmehr wirken seine Essays wie eine noch nicht ganz abgeschlossene Suche nach einem Startpunkt, nach einem Übergang zwischen Gedanken und Aussage. Er arbeitet dennoch vortrefflich die Kernstücke der jeweiligen Werke heraus, ihre Epizentren, legt die Kante dieser Bücher und Autoren frei, die noch scharf ist (es handelt sich allerdings leider nur um Autoren).

Im dritten Abschnitt drehen sich die Texte um gesellschaftspolitische Fragen und Themen, über Wahlverdruss, Freiheit bis zu einer Auseinandersetzung mit ökonomischen Realitäten (nebst zweier Oden über Lehrer*innen und Schüler*innen). Dieser dritte Abschnitt mit seinen zunehmend engagierten Tönen, die auch in den Texten der ersten beiden Abschnitte im Nachhinein das Engagement hervorblitzen lassen, bereitet den letzten vierten Abschnitt vor, in dem es noch einmal in drei Texten um die Fragen nach der Verbindung von Moral und Kunst geht.

„Ich sage nur, dass sich die Erfahrung, von der die Dichtung spricht, in kein System bringen lässt. Ein System versucht im Gegenteil jede Erfahrung auszuschließen. Die Erfahrung wiederholt sich nicht, sie ist nicht in die Zukunft transponierbar, sie ist definiert durch das einmalige Auftreten. Was sich wiederholt, schafft keine Erfahrung. Sie lässt sich nicht systematisieren, sie besteht aus dem Unerwarteten, aus dem Unvorhergesehenen.“

Die Bahn der Texte, beginnend beim Eigenen, Persönlichen, über das Abgebildete, Theoretische, hin zur Praxis in größeren Zusammenhängen, die über einen selbst hinausgehen, wird hier im letzten Abschnitt zur Kreisform, hier wird der Schriftsteller (der/die Schriftsteller*in) zu einem gemeinsamen Nenner der drei Abschnitte, der sich aber ständig neu zu allen Aspekten positionieren muss. Jeder Text ist eine ganz eigenständige Positionierung in diesem Sinn.

Kaum einer von Bärfuss Texten ist komplett zu Ende gedacht, es sind Einlassungen, Anstöße, aber sehr gut formulierte und bestechende Einlassungen, die keinen übergroßen Geltungswillen, dafür aber Stoff für jede Menge Gedankenspinnen bereithalten und eine klare Position in einem Thema einrichten, ohne es komplett zu erschließen. Diese offene Dichte macht diese Texte für mich so bemerkenswert und sehr, sehr lesenswert.

Zu Siri Hustvedts Essays in “Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen”


Hustvedt Erst letztes Jahr erschien von Siri Hustvedt der (von mir bei Fixpoetry besprochene) Langessay „Die Illusion der Gewissheit“, in dem sie sich interdisziplinär und beeindruckend sachkundig mit dem Geist-Körper-Problem beschäftigte (und darüber hinaus vielfach den mangelnden Austausch und die daraus resultierende mangelnde Verständigung zwischen den einzelnen Wissenschaften beklagte).

U.a. ging es ihr in „Die Illusion der Gewissheit“ um das Entlarven und Zurückweisen von Halbwahrheiten, die in unserem Informationszeitalter an jeder Website-Ecke zu haben sind und die meist einen Aspekt des Körper-Geist-Problems gegen alle anderen ausspielen. Sie plädiert für den Zweifel und wendet sich damit auch gegen jene Form von zementierten Weltanschauungen, die aus jenen Halbwahrheiten entstehen, wenn sie einfach auf alle Bereiche des Lebens angewandt werden.

Nun ist mit „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ ein weiterer Band mit verschiedenen Essays erschienen (nach „Nicht hier, nicht dort“, „Being a man“ und „Leben, Denken, Schauen“ bereits der vierte auf Deutsch). Dessen Texte könnte man, grob gesagt, in zwei Themenkomplexe einordnen: Feminismus und Psychologie.

Wie der Titel bereits andeutet, geht es in einigen Texten darum, den männlichen Blick auf weibliche Körper/Kunst/Erfahrungswelten zu untersuchen. Hustvedt geht hier gleichsam gewissenhaft, aber auch kompromisslos vor und macht mit ihren kritischen Diagnosen auch nicht vor der Ikone Susan Sontag und ihren Betrachtungen zur Pornographie halt. Besonders spannend ist ein Essay zu Wim Wenders‘ „Pina“, aber auch der Titelessay weist in einige interessante Richtungen (sehr cool auch ihr Bericht von einem Treffen mit Karl Ove Knausgard).

In der zweiten Gruppe von Texten zeigt sich Hustvedt als versierte Erforscherin und Deuterin der menschlichen Psyche, ihrer Beschaffenheit und ihrer Verletzungen. All ihr Schreiben scheint dabei vor allem auf das Anerkennen der Komplexität menschlicher Existenzen abzuzielen, während sie über ihre Erfahrungen mit Schreibenden in der Psychiatrie und mit Menschen, die Selbstmord begehen wollten, berichtet.

Ich halte Hustvedt für eine der intelligentesten Essayistinnen unserer Zeit – und ihre Intelligenz vereint in einem wunderbaren Maße Wissen mit Vorstellungsvermögen, faktenbasiertes Forschen/Vermitteln mit essayistischer Ideenfindung. Ihr neuster Essayband hat mich wieder einmal überrascht und beglückt, teilweise völlig unvorbereitet auf Felder und in Theorien entführt, mich aber sofort auch für diese Felder und Theorien begeistern können. Bleibt zu hoffen, dass noch viele Essays von Siri Hustvedt folgen werden.

Zu Jonathan Franzens “Das Ende vom Ende der Welt”


Das Ende vom Ende Jonathan Franzen ist das, was man einen streitbaren Intellektuellen nennt. So zumindest präsentierte er sich in seiner ersten Essaysammlung „Anleitung zum Alleinsein“, wo er sich gegen die große Vielzahl der Sexratgeberbücher aussprach und auch ansonsten eine ganze Reihe von entwicklungsskeptischen Texten vom Stapel ließ, die meisten getragen von einem Verlangen nach mehr kritischem Bewusstsein und vielperspektivsicher Wahrnehmung.

Im zweiten Essayband „Weiter weg“ wendete er sich mehr der Beziehung zwischen Leben und Literatur zu, allerdings waren auch hier noch die kritischen Ideale des Vorgängerbandes vertreten – und es finden sich dort bereits ein-zwei Texte über die Thematik, die in „Das Ende vom Ende der Welt“ zum Kernthema avanciert: Umwelt und Natur in hyper-kapitalistischen Zeiten und im Bann der Klimakrise (oder allgemein der menschlich verursachten Ungleichgewichte und Zerstörungen in allen Ökosystemen).

Franzen nimmt dieses Sujet von einer ganz eigenen Warte unter die Lupe: schon seit längerem ist er passionierter Vogelbeobachter und diese Leidenschaft hat ihn rund um den Globus geführt: nach Mittel- und Südamerika, in die Karibik, nach Albanien, Nord- und Südafrika, und sogar in die Antarktis. In etwa 50-60% der Texte in „Das Ende vom Ende der Welt“ berichtet er von diesen Reisen/Expeditionen, wobei er eine gute Balance wahrt zwischen den Schilderungen der Vogelbeobachtungen und den Berichten über die lokalen Gegebenheiten, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen die lokale Vogelpopulation leidet oder die Projekte, durch die sie geschützt wird.

Den Rest der Texte (bspw. ein Essay über das Werk von Edith Wharton, 10 Regeln für Romanautor*innen oder ein kurzes Dokument aus den Tagen nach 9/11) kann man getrost als Gelegenheitsarbeiten bezeichnen. Sie sind allesamt nicht schlecht oder überflüssig, wirken aber zwischen den anderen Texten eher wie Fremdkörper, bleiben ohne Anknüpfungspunkte und entfalten somit nicht ihr volles Potenzial.

Nun klingt ein Buch, in dem es hauptsächlich um Vögel, um die Beobachtung und die Darstellung ihres Überlebenskampfes in einer von Menschen dominierten Welt geht, erstmal nicht nach der spannendsten oder dringlichsten Lektüre, das ist mir bewusst. Dennoch würde ich sehr dazu raten, den Band zur Hand zu nehmen. Denn eben dieser Überlebenskampf und seine Umstände, die Franzen an verschiedenen Orten rund um den Globus schildert, und die Vögel selbst, mit ihrer Vielfalt und Schönheit, sind ein exemplarisches Beispiel für die Natur, die unseren Planeten so reichhaltig werden ließ, wie wir ihn vorfanden, und für die Arten und Weisen und kurzsichtigen Praktiken, mit denen wir diese Natur langsam aber sicher zerstören und uns selbst letztlich die Lebensgrundlagen entziehen.

Franzen zeigt dabei sehr schön auf, dass der Klimawandel hier nicht die einzige Bedrohung ist, sondern lediglich die umfassendste. Das Artensterben (und damit gleichzeitig das Sterben der Ökosysteme) – sei es nun bei Fischen oder Vögeln, Säugetieren oder Insekten – hat vielfältige Ursachen. Oft sind es Praktiken, zu denen schon Alternativen existieren, die sich nur endlich durchsetzen und/oder die gesetzlich verankert werden müssten.

Und lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil Franzen es schafft, die Umweltthematiken nicht selten mit menschlichen Geschichten zu verbinden, ganz gleich ob es dabei um ein Ehepaar geht, das ganz allein einen großen Naturschutzpark aufbaut, um Menschen in den nordafrikanischen Ländern, die nicht verstehen, warum man Zugvögel nicht tonnenweise vom Himmel schießen sollte oder um seinen verstorbenen Patenonkel und die Geschichte, wie er dank ihm und einer heimlichen Liebe zu einer Reise in die Antarktis kam.

Nicht jede/r Leser*in wird etwas mit Franzens Vogelenthusiasmus anfangen können und das erschwert natürlich hier und da die Lektüre, auch ich tat mich teilweise schwer. Doch ich muss zugeben, dass ich seit der Lektüre einen frischen Blick auf mein natürliches Umfeld (soweit es in der Stadt existiert) gewonnen habe. Ich sehe wieder genau hin, wenn da etwas (abgesehen von den Menschen, die ich sofort als Personen wahrnehme) in meiner Nähe lebt, sich bewegt und an diesem unglaublichen Schauspiel teilhat, das den ganzen Planeten umspannt (es auf kleinstem Raum verkörpert). Oder besser gesagt: mehreren Schauspielen: Natur allgemein, heimisches Ökosystem, Evolution.

Franzens liebevolle Art, Vögel zu beobachten, zu unterscheiden und zu beschreiben, hat dieses neue Bewusstsein in mir angestoßen und ich glaube, dass es ihm darum auch geht: um mehr Empathie für die Natur, nicht nur aufgrund von wissenschaftlichen Fakten, sondern aufgrund konkreter Schönheit und Lebendigkeit. Die Menschheit muss diese Erde wieder als Ort vielgestaltigen Lebens begreifen, denn ohne dieses Bewusstsein, werden wir nie begreifen, was wir im Begriff sind zu verlieren, bevor es zu spät ist – für die Vögel und für uns.

Zu Rebecca Solnits Essays in “Die Dinge beim Namen nennen”


Dinge beim Namen nennen „Wir haben uns verlegt auf kurze, behauptende Statements, auf das Denken in Schlagzeilen, in Schwarz-Weiß, in unbestimmten Sammelkategorien.“

Mit diesem Buch bin ich wohl endgültig zum Fan von Rebecca Solnit geworden. Schon „Wenn Männer mir die Welt erklären“ (wo es nicht nur um Mensplaining, sondern auch um strukturelle, sexuelle Gewalt, Männlichkeit, Virginia Woolf und das Kassandra-Syndrom (das Untergraben der Glaubwürdigkeit von weiblichen Aussagen) geht) hat meine Sicht auf viele Dinge grundlegend verändert und geprägt; ich las es mit Begeisterung und Bestürzung. Die Lektüre von „Die Dinge beim Namen nennen“ wurde von einer ähnlichen Gefühlskombination begleitet und wird noch lange nachhallen.

In vier Kapiteln berichtet Solnit hier von US-amerikanische Realitäten, Phänomenen, Krisen (der Untertitel des Originals lautet: „American Crises (and Essays)“), kommt aber dabei auch auf viele grundsätzliche Probleme zu sprechen, die sie meisterhaft exzerpiert, ohne falsche Scheu direkt angeht. Schon im Vorworttext kommt sie auf die Idee der Perfektion zu sprechen und schreibt:

Viele von uns glauben an Perfektion, obwohl sie alles ruiniert, denn das Perfekte ist nicht nur der Feind von allem, was gut ist, sondern auch dessen, was realistisch und möglich ist und Vergnügen bereitet.

Eine Ansicht, die sie in einem späteren Text über Zynismus erweitert:

wer alles, was nicht perfekt ist, für moralisch kompromittierend erklärt, will sich damit nur selbst erhöhen, sich aber nicht mit aller Kraft einen Ort oder ein System oder eine Gemeinschaft engagieren.

In dem Buch wimmelt es nur so von solch dezidierten, klugen Beobachtungen und Feststellungen, die eingewoben sind in Analysen zu gegenwärtigen Geistesverfassungen, in den USA und, letztlich, allen westlichen Gesellschaften. „Gefühlslagen“ nennt Solnit dementsprechend die im zweiten (von vier) Abschnitt versammelten Texte – zu denen wir gleich kommen.

Die Texte in Abschnitt eins beschäftigen sich vor allem mit dem Phänomen Trump, seiner Wahl, sowie den Gegebenheiten und Umständen, die dazu geführt haben (und die kontrovers diskutiert wurden und werden – das Nachplappern verschiedenster Theorien hierzu ist sogar zu einer der beliebtesten Small-Talk-Thematiken geworden).

Neben handfesten Erklärungen, warum dieser Wahlkampf (und sein Ausgang) ein Meilenstein der Frauenfeindlichkeit war (nicht nur in Bezug auf Trump) und wie besonders für People of Color massenhaft die Stimmabgabe erschwert wurde – wenn ihre Stimmen durch die Wahlstrukturen nicht eh marginalisiert wurden – wagt sich Solnit in ihrem Text „Die Einsamkeit des Donald Trump“ auch an ein psychologisches Porträt des Wahlsiegers – mit dem Fazit: Er ist (auch) das folgerichtige Produkt eines Lebensweges ohne echte Rückschläge, Krisen oder Grenzsetzungen; Trump, stets umgeben von Ja-Sager*innen, sieht laut Solnit mittlerweile niemanden mehr als ebenwürdig/sich selbst gleich an, folglich fehlen ihm auch sämtliche Kontrollmechanismen, im Austausch mit solchen Menschen greifen und das Neubewerten der eigenen Handlugen ermöglichen.

das Gegenteil von Mensch, die uns herabziehen, sind nicht jene, die uns auf einen Sockel stellen und uns Honig um den Bart schmieren. Es sind Gleichgestellte, die großmütig sind, ohne uns aus der Verantwortung zu entlassen, Spiegel, die uns zeigen, wer wir sind und was wir tun.

Dieses Porträt hinterlässt als einziger Text einen etwas faden Nachgeschmack; es liegt darin ein Hauch von Küchenpsychologie, auch wenn Solnits grundsätzliche Ausführungen sehr schlüssig sind. Sie liefert eine gute Erklärung für Trumps Größenwahn, aber selbst gute Erklärungen wirken bei diesem Mann ziemlich widersinnig (wobei es vielleicht auch gut ist, Trump nicht als „outstanding“-Persönlichkeit zu behandeln; in diesem Sinne ist Solnits Porträt ein guter Versuch, ihn als einem stinknormalen Solipsisten abzustempeln, vom Sockel zu holen).

In dem zweiten Abschnitt „Amerikanische Gefühlslagen“ stellt sie u.a. dem Zynismus ein niederschmetterndes Zeugnis aus:

Zynismus ist in erster Linie eine Form der Selbstdarstellung, und mehr als alles andere sind Zyniker stolz darauf, sich weder für dumm verkaufen zu lassen noch dumm zu sein. Doch die Arten von Zynismus, die mir begegnen, enthalten häufig beides. Dass die Haltung, sich der eigenen weltmüden Lebenserfahrung zu rühmen, in Wahrheit häufig so naiv ist, zeigt, wie sehr der Schein inzwischen über die Substanz triumphiert, die Attitüde über die Analyse.

und kritisiert die Lust an der Eskalation, die Anfälligkeit der modernen Mediengesellschaften für den Trigger Zorn:

„Zorn ist nicht ganz dasselbe wie Entrüstung. Man könnte sagen, dass Letztere weniger aus der Wut darüber resultiert, was passiert ist, sondern aus dem Mitgefühl mit denjenigen, denen es passiert ist.“ (Solnit nennt als Beispiel hier Nelson Mandela, der es irgendwann einmal, so erzählte er in einem Interview, aufgegeben habe, zornig zu sein. Seinem Engagement habe es nie geschadet und er sähe Zorn mittlerweile als Falle an, die uns von konstruktiven Formen der Veränderung abbringt.)

Gleich zu Anfang kommt sie auf das fast schon mythologische Ideal der Isolation zu sprechen, das in den USA spätestens seit der Figur des einsamen Cowboys (Rächers, Helden, etc.) ins nationale Unterbewusstsein eingeflossen ist und sich dort hartnäckig hält, vor allem in Form von Männlichkeitsbildern (und dadurch leider oft auch den Charakter von politischen Entscheidungen beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt). Es ist sehr spannend, wie Solnit anhand von tagespolitischen und popkulturellen Referenzen dieses seltsame, fast schon pathologische Ideal nachweist und seine Wirkung und Stellung herausarbeitet.

Im letzten Text in Abschnitt Zwei beschäftigt sie sich mit einem Thema, das viele politisch interessierte und engagierte Menschen dieser Tage beschäftigen wird: bewegen wir uns nur noch in Echo-Kammern, erzählen wir unsere Ideen und Fakten immer nur den Leuten, die eh schon mit uns einer Meinung sind, die Bescheid wissen, kurzum: predigen wir dem Kirchenchor? Solnit nimmt hier wiederum eine erstaunlich vitale und entschiedene Gegenposition ein:

Die Faktenlage deutet stark darauf hin, dass politische Körperschaften am meisten profitieren, wenn sie diejenigen motiviert kriegen, die längst mit ihnen übereinstimmen – wenn sie also nicht diejenigen ansprechen, die noch unsicher sind, wen, sondern die, die nicht wissen, ob sie überhaupt wählen gehen sollen. […] Trotz allem machen sich gemäßigte Demokraten oft auf, um denjenigen um den Bart zu streichen, die sie definitiv nicht unterstützen, womit sie dann wiederum diejenigen verraten, die das eigentlich tun.

Sie positioniert sich im Verlauf des Textes u.a. eindeutig gegen den Mythos von der „weißen Arbeiterschaft“, die die Demokraten angeblich vernachlässigt und vergrault hätten, eine beliebte Erklärung für die verlorene Wahl; vielmehr wäre, auch unter Mitwirkung der Medien, Clinton als Person erschienen, die zu viele Gruppen habe ansprechen wollen. Solnit legt dar, warum es den Politiker*innen heute mehr denn je darum gehen muss, ihre Integrität zu bewahren, statt den Chimären von großen Mehrheiten und unsinnigen/unmöglichen Konsensen hinterherzujagen. Und sie macht die Irrelevanz dieser Taktiken und ihre hemmende Wirkung auf progressive Veränderungen an einem einfachen Beispiel deutlich.

In den letzten Jahren habe ich oft gehört, wie Leute sie die Köpfe heiß redeten angesichts von Umfrageergebnissen darüber, wie viele US-Amerikaner*innen den Klimawandeln für wahr halten. Sie schienen immer überzeugt davon, dass die Klimakrise gelöst wäre, wenn man alle dazu bekäme, an den Klimawandel zu glauben. Aber wenn diejenigen, die den Klimawandel längst für real und akut halten, nichts gegen dieses Problem unternehmen, dann passiert eben auch nichts. Es ist nicht nur unwahrscheinlich, dass sich irgendwann alle einig sein werden, sondern die Frage, ob dem so sein wird, ist auch völlig irrelevant. Es lohnt nicht, darauf zu warten. Es gibt ja auch immer noch Menschen, die nicht finden, dass Frauen die gleichen unveräußerlichen Rechte zustehen wie Männern, was uns aber ja auch nicht davon abgehalten hat, eine Politik zu machen, die auf dem Prinzip der Geschlechterfreiheit fußt. […] Wer darauf besteht, dass eine Idee in der Mitte der Gesellschaft angekommen sein muss und sich nicht noch auf Wanderschaft befinden darf, bevor an ihrer Umsetzung gearbeitet wird, hat nicht verstanden, wie Veränderung funktioniert.

Wie sie funktionieren kann, die Veränderung, schildert Solnit dann auch gleich, am Beispiel von gewaltfreien Bewegungen, historischen Beispielen und Ideen.

Im dritten Abschnitt geht es dann um „Amerikanische Hartleibigkeiten“, was u.a. das Blut auf dem Gründungsmythos von Texas und die Denkmäler konföderierter und sonstiger Sklavenhalter meint. In dem längsten Essay des ganzen Bandes setzt sich Solnit aber auch mit einem expliziten Fall von Polizeigewalt (mit Todesfolge) in San Francisco auseinander (ein Text, der ein wenig an Joan Didion erinnert) und beschreibt dabei auch die Umwälzungen, die in den meisten amerikanischen Großstädten an der Tagesordnung sind. In einem anderen, berührenden Essay beschreibt sie den Fall eines mit großer Wahrscheinlichkeit zu Unrecht verurteilten Strafgefangenen, der mittlerweile, nach zahllosen Besuchen, auch ein Freund geworden ist – und auch hier ist der konkrete Fall natürlich der Ausgangspunkt für eine Betrachtung des ganzen Systems. Auch die Verhinderung einer Ölpipeline, mehrheitlich durch Vertreter*innen der Native Americans, ist Thema eines Textes.

Der vierte Abschnitt fasst dann drei Texte unter dem Titel „Möglichkeiten“ zusammen. Gleich der erste Text ist eine Antrittsvorlesung an der Graduate School of Journalism an der University Berkeley. Es ist vielleicht das Meisterstück dieser sehr überzeugenden Essaysammlung. Als Stichwort für die Rede wählte Solnit die Redewendung „[to] Break the Story“.

Der dominanten Kultur ist meisthin daran gelegen, ebenjene Geschichten zu stärken, auf denen sie wie auf Säulen ruht, Säulen, die allerdings allzu häufig zugleich die Käfigstäbe anderer sind. […] Warum nur machen die Medien so brav ein derartiges Gewese um Terrorismus, dem in den Vereinigten Staaten so wenige zum Opfer fallen, während sie gleichzeitig häusliche Gewalt verharmlosen, durch die Millionen amerikanischer Frauen über lange Zeiträume terrorisiert und alljährlich fast tausend getötet werden? […] Ich glaube, dass die Mainstream-Medien gar nicht so sehr rechts- oder linkslastig sind, sondern vielmehr Status-quo-lastig. Sie tendieren dazu, Menschen in Machtpositionen glauben zu schenken, auf Institutionen, Unternehmen, die Reichen und Mächtigen zu vertrauen – also so gut wie jedem selbstbewusst auftretenden weißen Mann in einem Anzug. Sie tendieren dazu, Menschen, die längst bewiesen haben, dass sie die Unwahrheit sagen, noch mehr Lügen erzählen zu lassen und dann noch ausführlich darüber zu berichten; von Thesen auszugehen, die längst als widerlegt gelten […] Zukünftige Generationen werden uns mehrheitlich dafür verfluchen, dass wir uns mit Belanglosigkeiten abgelenkt haben, während der Planet brannte.

Es ist eine Rede, bei deren Lektüre ich mir wünsche, dass alle Journalist*innen der Welt sie verinnerlichen würden, damit die „vierte Gewalt“ im Staat wirklich überall das aufklärende und wachsame Organ wird, das es sein könnte. Journalist*innen als Schöpfer*innen und Zerstörer*innen von Geschichten – Solnit löst dieses Potenzial, diese Verantwortung, in ihren eigenen Texten ein und fordert sie von den Studierenden, zu denen sie spricht.

Auch die anderen beiden Texte handeln von Courage, von Mut: dem Mut, Veränderungen in Gang zu setzen, selbst wenn nicht direkt Ergebnisse zu erwarten oder Wirkungen zu ersehen sind. Es geht ums tun und nicht ums Siegen, wie schon Konstantin Wecker sang. Der Zweifel am Tun ist zwar wichtig, aber ihn selbst als entscheidende Tat zu sehen, wäre fatal.

„Die Dinge beim Namen nennen“ ist ein lebenskluges, gleichsam feinsinniges und Klartext redendes Werk. Solnit, umtriebig und doch bei jedem Thema sehr fokussiert, festigt ihren Ruf als wichtige und profilierte Stimme ihrer Zeit. Sie spricht hier von Dingen, die uns alle angehen und die sie klug und beredet beim Namen nennt. Neben Ta-Nehisi Coates “We were eight years in power – Eine amerikanische Tragödie” ist es außerdem das beste Buch über die derzeitigen amerikanischen Verhältnisse, das ich kenne.

 

Zu David Foster Wallace gesammelten Essays in “Der Spaß an der Sache”


Der Spaß an der Sache zu Wallace 10tem Todestag besprochen bei Fixpoetry