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Zu Philip Roth


 

Seine großen Themen waren Sex und Tod. Das in manchen seiner Romane nicht ganz unproblematische und nicht selten einseitig gewichtete Frauenbild, dürfte manchen Leser*innen schon einmal sauer aufgestoßen sein. Seine Frauenfiguren, oft nur Spiegel für die Vergänglichkeit und Konflikte der männlichen Protagonisten, blieben seine Achillesverse.

In den USA sorgten einige seiner Plots für Furore – schon sein Erstling „Portnoys Beschwerden“ wurde begrüßt und gleichsam verdammt, aber auch sein in Europa kaum bekannter Satireroman über Richard Nixon, seine Zuckermann-Quadrologie und nicht zuletzt sein Buch „Der menschliche Makel“, erhitzten die Gemüter und sorgten für einige Kontroversen. Nun ist der Autor Philip Roth gestern im Alter von 85 Jahren gestorben.

Immer wieder thematisierte er das Neurotische im und am Triebhaften, die Fallhöhen der kreativen und erotischen Existenz – und schon früh, und am Ende immer häufiger, die Qualen des Alters, die Furcht vor dem Tod. Eine Furcht, der seine Protagonisten anscheinend nur durch eine Flucht ins Brodelnde oder Ebenmäßige der wiedergefundenen Jugend beikommen konnten, im Wiederaufleben der Pubertät, einer letzten Erregung.

Ich schätze vor allem seine unkonventionelleren Werke: das anarchische Baseball-Opus „The great american Novel“, halb Parodie, halb Mythos, eigentlich ein wahnsinniger Witz und streckenweise eigenwilligste Unterhaltung. Das schmale Buch „Mein Leben als Sohn“, eine Auseinandersetzung mit dem Vater. Und jene beiden ersten Bände seiner letzten Kurzromanserie „Jedermann“ und „Empörung“.

Ersteres: eine rücksichtslose, hoffnungsangekratzte Bilanz einer (männlichen) Existenz, ein Endpunktspektakel, das berührt, weil es alle Kraft der Beschreibung in die Aussichtlosigkeit investiert. Ein Konzentrat der Endlichkeit.
„Empörung“: Das Gegenstück. Eine Geschichte von Jugend, Aufbruch und Ungeduld. Ein Konzentrat der Unendlichkeit. Und beide Bücher haben ihre ganz eigene Antipointe.

Viele können sicher viel mehr über das Werk Philip Roths, seine Größe, seine Problematiken, berichten. Aber für diese vier Bücher will ich ihm einfach danken. Mir werden sie bleiben. Ruhe sanft.

Zu dem bemerkenswerten Buch “Der Sinn des Lesens”, das Vermächtnis des Autors Pieter Steinz


(© des Bildes by Marina Büttner)

„Antiklimaxe, das Leben ist voll davon. Die Weltliteratur übrigens auch, und die schönsten sind im Werk von Franz Kafka zu finden. Große und faszinierende Romane wie Das Schloss blieben ohne Schluss […] doch auch viele seiner vollendeten Erzählungen enden mit einer Antiklimax. In manchen Fällen erhöhen diese den absurden Gehalt, in anderen die philosophische Wirkung – man gerät ins Nachdenken.“

Das Leben hat in der Tat viele Antiklimaxe, den größten hebt es sich bis zum Schluss auf, trägt ihn aber schon immer mit sich: den Tod, der dann auch folgerichtig am Ende von Kafkas einzigem mit einem Ende versehenen Roman steht, in dem das Leben ein Prozess ist, den der Mensch nicht gewinnen kann (ein Verfallsprozess). Die meisten Menschen können dieser finalen Antiklimax lange aus dem Weg gehen, weil der genaue Zeitpunkt unbekannt ist und man sich so mit jedem Akt des Lebendigen fernab der Aussichtslosigkeit bewegt – es gilt hier jene paradoxe Weisheit Senecas: man ist so lange unsterblich bis man stirbt.

Doch was ist, wenn man, noch am Leben, ein recht genaues Todesurteil in Händen hält? Es gehört nicht zu den zweiundfünfzig Büchern, die der niederländische Schriftsteller, Gelehrte und Direktor der niederländischen Literaturstiftung Pieter Steinz für seine Kolumnenserie (aus der dieses Buch hervorgegangen ist) ausgewählt hat, doch Victor Hugos Die letzten Tage eines Verurteilten wäre sicherlich im späteren Verlauf seiner Krankheit ebenfalls eine Lektüre gewesen, mit der er sich ein Dialog entsponnen hätte – oder vielleicht gerade nicht, denn Steinz geht es eigentlich nie um die seelische Vorbereitung auf den Tod, sondern um das Gewahr werden und Auskosten der Aspekte des Lebens, um den Trost, um die Bewältigung, die weiterhin das Wichtigste ist – nach Rilke: „Wer spricht von Siegen/ Überstehn ist alles.“

„Das Buch, das so entstanden ist, gibt vielleicht keine definitive Antwort auf die Frage, ob Literatur in schwierigen Situationen Trost bieten kann, für mich hat sich auf jeden Fall erwiesen, dass zumindest das Schreiben über Literatur sehr tröstlich ist.“

2013 wird bei Pieter Steinz ALS diagnostiziert, eine unheilbare, degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems; der einzige prominente Überlebende von ALS ist Stephen Hawking, der allerdings an einer speziellen Form der Erkrankung leidet. Nicht ein einziges Mal im ganzen Buch beklagt Steinz dieses Schicksal (auch wenn natürlich Bedauern, Nostalgie und Schwermut manchmal eine Rolle spielen) und schon im ersten Text des Buches, über Platons Phaidon und den Tod des Sokrates durch den selbstzugeführten Schierlingstrank, positioniert er sich gleichsam fatalistisch und lebensbejahend: Fatalistisch, weil er nicht versuchen will, das Unvermeidliche zu leugnen und es stattdessen hinnimmt, lebensbejahend, weil er es nicht als Ende einer erfüllten Existenz ansieht, auch wenn er von nun an seine Tage in großen Teilen eingeschränkt verbringen muss und immer mehr Freuden unmöglich werden. Da in den Niederlanden die aktive Sterbehilfe erlaubt ist, hat Steinz sich früh entschlossen, in dem Moment, in dem es gar keine Möglichkeit mehr gibt, am Leben aktiv teilzunehmen, diese in Anspruch zu nehmen.

„ALS ist eine Krankheit, die die Phantasie beflügelt. Negativ natürlich und in verschiedenerlei Hinsicht. Seitdem die meisten Krebsarten nicht mehr automatisch das Todesurteil bedeuten und AIDS sich gut mit Medikamentencocktails bekämpfen lässt, haben tödlich Nervenkrankheiten die Rolle des ultimativen Angstgegners übernommen. […] Vor allem, dass die eigenen Gliedmaßen eine nach der anderen gelähmt werden, bis man nur noch die Augen bewegen kann, grenzt an puren Horror.“

Wie gegen den „puren Horror“ angehen? Steinz will, neben Aktivitäten mit der Familie und der Fortführung seiner gewohnten Arbeit (so lange wie möglich), noch einmal viele seiner Lieblingswerke und Lebensbücher lesen. Auch wenn sich diese Lektüreliste an seinen Vorlieben orientiert, haben die Bücher öfters einen Bezug zu seinem momentanen Krankheitsverlauf, seinen neusten Erfahrungen mit der Behandlung, den Einschränkungen. So ist das Kapitel über Kafka, das die Erzählung Der Hungerkünstler zum Thema hat, verknüpft mit seinem erzwungenen Hungern (da die Schluckmuskeln ebenfalls abgebaut werden), eine Ausführung zu Rabelais großem Roman Gargantua und Pantagruel beschäftigt sich ebenfalls mit der Üppigkeit und den Ausschweifungen der Genüsse, die nicht mehr möglich sind, in einem anderen Text wirft er Dickens spaßeshalber vor, dass er viele Berufsklassen durch Figuren portraitiert (und persifliert) hat, aber keine Ärzte.

Meist ist eine Figur aus den Texten oder ihre generelle Botschaft, denen sich Steinz verbunden fühlt und die er ins Zentrum stellt. Als er eine Zeit im Krankenhaus verbringt, in dem er zwar nicht sterben wird, aber wo letztlich Eingriffe und Therapien durchgeführt werden, die sein Leben nur unwesentlich verlängern, muss er an Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg denken. Er kam eigentlich nur ins Krankenhaus für einen kurzen Aufenthalt, um eine Magensonde legen zu lassen, musste dann aber wegen zahlreicher Komplikationen drei Wochen bleiben; Castorp will nur einen Freund besuchen und bleibt dann sieben Jahre in der Lungenheilanstalt – Jahre, die ihn prägen. Steinz betont vor allem die Unterschiede zwischen seiner Lage und der von Castorp, aber am Ende weiß er doch, warum er sich an Manns Bildungskind erinnert fühlt:

„Nein, das Krankenhaus ist kein Zauberberg. Dennoch sehe ich eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen meinem Werdegang und der Hauptperson Manns. Nachdem Hans Castorp nach sieben Jahren endlich perfekt gebildet vom Berg hinabsteigt, spaziert er geradewegs in die Schützengräben des ersten Weltkriegs. All die Jahre der Sorge und Bildung sind umsonst gewesen. Wenn ich nach all den sündhaft teuren Operationen, den hundert Arten von Medikamenten und den Wochen liebevoller Pflege und Betreuung die Intensivstation verlasse, habe ich noch immer ALS, und ein langes Leben wird mir nicht vergönnt sein. Es ist ein Stück Ironie, für das sich Thomas Mann nicht geschämt haben würde.“

Also doch die Aussichtslosigkeit? Eben das ist so beeindruckend (und doch tief authentisch) an dem Buch: jeder weitere Text versucht wiederum (was einige Wiederholungen bedingt) mit der Lage umzugehen, kann wiederum nicht leugnen, dass es sich bei den Schilderungen und Erzählungen eben um eine Chronik des Verfalls handelt, egal, was man diesem Verfall noch abtrotzen kann. Steinz bietet alles dagegen auf: Genüsse, Gedanken, Erkenntnisse und Erinnerungen. Und dass diesen Dingen nur ein zeitweiliger Sieg eingeräumt werden kann, ist stets klar.

Dieses Denken, Leben, Erfassen im Angesicht eines nahenden Todes ist ganz klar eine Ausnahmesituation und doch ein Sinnbild für die verwirrende Verquickung von „carpe diem“ und „c’est la vie“, die in jeder Existenz am Werk ist; voller Momente, die schön sind und in ihrer Schönheit schon wieder grausam, schon wieder aufgeladen, schon wieder unerreichbar.

„Eine der schönsten Erfahrungen des zurückliegenden Jahres, seit dem Moment, als bekannt wurde, dass ich an ALS leide, war der Strom an Briefen und E-Mails, die ich von Bekannten und Unbekannten bekam. Jeder versuchte, Trost zu spenden, und sehr oft bestand dieser Trost in einer Erinnerung an etwas Kleines, mit dem ich das Leben des anderen ein wenig verändert hätte: eine helfende Hand, die ich gereicht, ein Seminar, das ich gegeben, ein Praktikum, das ich ernsthaft betreut, einen Artikel, den ich in der Zeitung veröffentlicht, oder einen Scherz, den ich gemacht hatte.“

Gedichte und Romane, Klassiker von Dumas und Orwell, Sagen und Märchen, unbekanntere niederländische Klassiker, aus ihnen allen zieht Steinz Trost und kann in ihnen kleine Bastionen für seine Lebensfrohsinn aufbauen, mit denen er sich gegen seine täglichen Sorgen und Nöte rüstet. Sie begleiten ihn auf einem Weg, den er nicht gehen wollte, aber nun entschieden geht. In einem der besten Kapitel begegnet er einem Leidensverwandten, dem Philosophen Boethius, der, zum Tode verurteilt, sein Schicksal in seinem Werk Trost der Philosophie (geschrieben in der Haft vor der Vollstreckung) zu verstehen suchte. Steinz destilliert die Weisheit dieses Werkes auf seine Weise:

„Alle Menschen stecken in ihrem großen Rad, sind einmal oben und dann wieder unten. Das einzige, worauf Fortuna keinen Einfluss hat, ist der eigene Geist und die eigene Güte – sie müssen ausreichen, um einen durchs Leben zu bringen.“

Solche feinen Hoffnungen inmitten des groben Lebens, von Literatur gewoben, machen neben den Schilderungen des Krankheitsverlaufes – erschütternd und doch schlicht, manchmal fast unverfänglich dargelegt – den Inhalt dieses Werkes aus.
Dass Literatur nicht nur Bewältigung ist, sondern in ihr die tiefe Hoffnung schlummert, dass sich Menschen mit Geschichten und Gedanken auch über Generationen hinweg beistehen können, ist seine Botschaft, seine Idee. Und die Plätze auf der Liste der Dinge, die noch zu tun bleiben, wenn das Leben zu Ende geht, sind an so manches Buch nicht verschwendet.

„Sozusagen als Droste-Effekt sollte auf der Bucketlist eines jeden auf alle Fälle High Fidelty stehen, denn der zwanzig Jahre alte Roman von Nick Hornby ist zweifellos das schönste Buch über Listen, das jemals geschrieben worden ist. […] Listen anzulegen heißt leben – Nick Hornby wird mir aus ganzem Herzen zustimmen.“

Die Offenheit, mit der Steinz in diesem Werk von sich und seinen Leiden, aber eben auch von seinen Empfindungen und Eindrücken, bei der Lektüre und in anderen Moment, berichtet, hat mich tief bewegt. Es ist keine sich zur Schau stellende Offenheit und auch keine rein dokumentarische. Es ist eine Offenheit, die noch vieles vermitteln will und sich deswegen öffnet. Dankbares und Erfreuliches (das man sich als Leser*in, wenn man sich in die Krankheit und ihre Erscheinung hineinversetzt, kaum noch vorstellen kann) wird eben so wenig verschwiegen wie die zahllosen Rückschläge und Einschnitte; auch die seltsamen Heilsversprechen nicht, die Steinz erreichen, der teilweise problematische Umgang der Ärzte und anderer offizieller Stellen mit seiner Krankheit. Als sein Verfall keinen ganz so raschen Fortgang zeigt, wie prognostiziert, schreibt Steinz:

„Unbewusst schämt man sich ein bisschen, dass man nach einem halben Jahr, dann nach einem Jahr, und schließlich nach anderthalb Jahren noch immer nicht tot ist.“

und als er von anderen darauf angesprochen wird, dass es bewundernswert ist, dass er sich nicht beklagt, obwohl er sich der Hoffnungslosigkeit seiner Lage bewusst ist, setzt er sich wiederum durch die Literatur – genauer mit Edgar Allan Poe, der fürchtete lebendig begraben zu werden und oft in dieser Angst schwelgte wie in einer Hoffnungslosigkeit – mit diesen Aussagen auseinander und resümiert:

„Selbstmitleid ist ebenso wie die Todesangst kontraproduktiv und reine Zeitverschwendung – und damit eigentlich ein vorzeitiges Begräbnis.“

Nun habe ich viel über dieses Buch geschrieben und ich weiß, es ist eigentlich noch immer nicht genug. Dieses Buch ist etwas Besonderes, in all seiner Einfachheit, seinen Wiederholungen und seiner Schmerzlichkeit; und nicht nur, weil es das Vermächtnis eines belesenen Geistes ist, der viele Sympathien in einem weckt, durch die Art wie er mit der Welt umgeht.

Steinz starb 2016. Die Hoffnung, das Versprechen, die Kunst, die Stärke, die Macht, die Idee der Literatur werden durch sein Schreiben, seine Auseinandersetzung, an verschiedensten Stellen offengelegt. Zwar ist die Literatur nicht der Protagonist von Der Sinn des Lesens – diesen Platz nimmt die Krankheit ein. Aber die Literatur ist der Sidekick, ist die liebenswerteste Nebenfigur, die im richtigen Moment genau das Richtige sagt, die in all ihrer Bescheidenheit ihren Beitrag leistet. Wie jener Schwertmeister in Game of Thrones, der Aria Stark die Flucht vor der kaiserlichen Garde ermöglicht und sie jenen Spruch lehrt, den sie von da an beherzigen wird und den auch Steinz während seiner Krankheit zu schätzen lernt:

„Mein Bestreben ist es, meine Augen zufrieden zu schließen […] bis dahin hole ich aus dem Leben heraus, was herauszuholen ist, und behalte dabei den knappen Dialog im Hinterkopf, den ich kurz nach meiner Diagnose mit meinem siebenjährigen Neffen geführt habe.
-Du stirbst, nicht wahr?-, fragte er und sah von seinem iPad hoch, auf dem er ein Spiel spielte, in dem es um einen Affen ging, der mehrere Leben hat.
-Ja-, sagte ich.
-Aber nicht heute-, sagte er beschwörend, als hätte er Angst, dass ich auf der Stelle das eine Level gegen das andere eintauschen würde.
-Nein, heute nicht.-“

Zu den Texten in “Charisma – Sämtliche Stories” von James Salter


Es war spät am Nachmittag und ein Regenschauer war vorübergezogen. Das Licht war silbrig und seltsam. Autos, die aus dem Regen auftauchten, hatten die Scheinwerfern und Scheibenwischer an. Die gelben Straßenbaumaschinen, die am Straßenrand standen, leuchteten unnatürlich grell.
Es war die Stunde kurz nach der Arbeit, wenn hoch oben in der Luft die Tropfen der Bewässerung glitzern, die Hügel dunkel zu werden beginnen und die Wiesen wie Teiche sind.
Sie ritt alleine oben den Kamm entlang. Sie saß auf einem Hengst namens Fiume, groß, wohlgeformt, aber nicht sehr klug.

Es gibt Dinge, die liest man, und schon im Moment der Lektüre werfen sie einen weiten Schatten; schon meint man bereits zu wissen, dass einem der Text – oder eine Formulierung, eine Atmosphäre, ein Eindruck – noch lange im Gedächtnis bleiben wird, vielleicht sogar wieder und wieder beschwörend aus der Erinnerung hervorbricht, in die er sich unerklärlicherweise eingebrannt hat. Natürlich kann auch der stärkste Eindruck schnell schwinden und zumindest mir wird es immer ein Rätsel bleiben, warum ich mich an manche Bücher und Texte so genau und nachdringlich erinnert fühle und von manchen nur ein gesetztes, schlichtes Resümee, eine Meinung, eine Sympathie oder Abneigung, geblieben sind.

Fest steht: es gibt Texte, die schon beim Lesen das Gefühlt aufkommen lassen, dass sie ein besonders eindrückliches Licht in sich tragen und lange Schatten werfen können. Zu diesen Texten gehören auch einige der Kurzgeschichten von James Salter, die in diesem Band versammelt wurden.
Was löst das Licht aus, was erschafft Atmosphäre, Eindruck, Eindringlichkeit? So unterschiedlich die Quellen für diese Erscheinung sind, oft entspringen sie in der Literatur einem Merkmal, das Prosa im Allgemeinen hervorhebt oder einreiht: dem Stil. Zu dem schrieb Salter in einem der ebenfalls enthaltenen Essays über das Schreiben und Lesen:

Stil. Flaubert ging es um Objektivität und um den Stil, um die präzise Wahl des richtigen Wortes. Sprache ist ein natürliches Merkmal des Menschen, und meist kommt sie mühelos hervor, sozusagen nolens volens, aber Schreiben ist nicht das Gleiche, Schreiben ist schwieriger.”

Ganz so gekonnt wie sein Ahne Flaubert geht Salter allerdings nicht immer vor; dann und wann kommt das Bedürfnis über ihn, etwas zu hastig zu erklären, was seine Figuren gerade bewegt, anstatt es ein wenig den Untiefen seiner Sätze zu überlassen (den Wörtern, die Fassaden errichten, aber auch einen Riss in der Fassade darstellen können) oder eleganter den Innenraum seiner Charaktere zu entfalten; manchmal gelingt es ihm dann wieder vorzüglich und erstaunlich. Und somit gibt es einige Erzählungen in “Charisma”, die etwas Vollkommenes haben, die in ihrer offenen Existenzschau großartig Emotionen verdichten oder auch Szenarien.

Die Schilderung geschieht oft wie von leichter Hand, obgleich Salter zeigt, wie unter der Oberfläche die heftigsten Gefühle und verschiedensten Ideen, Regungen und Möglichkeiten auflodern und kreisen. Der oben zitierte Abschnitt stammt aus einer Erzählung, die die letzten zwanzig (wachen) Minuten einer Frau beschreiben, nachdem sie vom Pferd gestürzt ist (das Pferd fällt danach auf sie und zertrümmert dabei natürlich ihre Beine und vermutlich noch einiges mehr). Ihre Gedanken und Erinnerungen werfen sich auf, man spürt förmlich, wie das Leben lebendig und doch versickernd an ihrem inneren Auge vorbeizieht, wie sich aufbäumt und doch flüchtet. Der Landschaft, der Umgebung, dem Dahinziehenden, wird die sich rasch verschiebende, aufleuchtende und dunkle Landschaft der Seele gegenübergestellt.

Ich würde sogar so weit gehen und sagen: die Differenz (und Ambivalenz) zwischen den einfachen Schilderungen der Lebensumstände und den in ihrer ganzen Aufgewühltheit geschilderten und stets mit eingebrachten Innenleben, macht die Meisterschaft von Salter aus. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Figuren ungeheuer lebendig zu machen, mit ihrem Verlangen, ihrer Geworfenheit – und noch mehr: es gelingt ihm einen wesentlichen Widerspruch des Menschen darzustellen: auf der einen Seite das sozialisierte, in Gesellschaften und Abläufen lebende, Vernunft und Regeln folgende Geschöpf und auf der anderen Seite ein Wesen, das von leidenschaftlichen, widersinnigen (oder vielleicht gerade sinnigen?) Sehnsüchten und Wünschen erfasst werden kann und sich trotz des dahinlaufenden Existierens immer wieder daran erinnert, dass es lebt und stirbt, dass es ganz allein ist und nicht allein sein will.

Diese Meisterschaft kommt der speziellen Meisterschaft Flauberts dann doch wieder sehr nah. Im Prinzip hat auch Flaubert die Beweggründe seiner Figuren, ihre innere Zerrissenheit, ihre Suche, sehr deutlich exponiert und dem bürgerlichen Dahinlaufen des Lebens entgegengestellt (um nichts anderes geht es, verkürzt, in Madame Bovary).
Es gibt Bücher, von denen sagt man, dass sie „erhebend“ sind, andere sind „unterhaltsam“. Beides wären viel zu beliebig wirkende Bezeichnungen für Salters Storys, vielleicht sogar unzutreffend. Am besten gefällt mir immer noch, sie als „eindrücklich“ zu bezeichnen. Verdammt eindrücklich. Diese Eindrücklichkeit, die verdichtet, aber auch Dinge zersplittern lässt, sie macht viel von dem Reiz aus, den diese Erzählungen ausstrahlen. In jedem Fall: ein paar Meisterwerke sind hier zu finden.

Betrifft: “Der Fänger im Roggen” von J.D. Salinger.


“Sie hatte eine angenehme Stimme. Vor allem für Telefongespräche geeignet. Sie hätte immer ein gottverdammtes Telefon mit sich herumtragen sollen.”

Seit ich Rezensionen schreibe habe ich mich immer bemüht alle Kritikpunkte und Ansätze zu einem Buch in meine Besprechungen mit einfließen zu lassen. Nicht um mich lieb Kind zu machen, sondern weil die Summe aller Meinungen der Spiegel eines jeden Buches ist, ob sie nun zutreffen oder nicht.

Bei jedem Buch, das der amerikanische Schriftsteller J.D. Salinger geschrieben hat (es sind genau 4), fällt mir diese Taktik jedoch sehr schwer. Ich liebe seine Bücher und doch möchte ich nicht ausschließen, dass sie für manche eine eher unbeeindruckende Erfahrung darstellen können, auch wenn ich jedem ans Herz legen möchte, sie zu lesen. Mich haben diese Bücher verändert. Ich kann sie immer wieder lesen, ich bin immer wieder aufs Neue fasziniert und gepackt, gehe immer wieder durch diese Prosa, die ganz ohne Manierismen und fast ohne Sorgfalt auskommt, mit einem Gefühl, als wäre alles, was dort geschrieben steht, ein Geschehen irgendwo zwischen Leben und Kunst, eine nahe, lebendige und doch zugleich sehr literarische Erfahrung. Auf der Höhe der Literatur und doch in vielen Untiefen.

Der Fänger im Roggen ist nun ein ganz besonderes Werk und ich weiß nicht, ob ich es hinkriege, darüber etwas Gescheites zu schreiben. Ich bin mal wieder, nach der 4ten Lektüre, überrascht, wie schnell dieser Roman doch vorbeigeht und wie viel (in den Zwischenräumen) und zugleich wenig (an der Oberfläche) darin passiert. Doch am meisten hat mich wieder einmal die unglaubliche Nähe, die Aufrichtigkeit und Authentizität, die Empathie und der plötzliche Witz dieses Buches begeistert. Ich frage mich wie immer: Wer traut sich wirklich, so ein Buch zu schreiben, wie “Catcher in the rye” eines ist? So wahr und doch (oder deswegen) so gegen den Strom.
Eine Bekannte, der ich das Buch zu Lesen gab, meinte Holden wäre ein Außenseiter, ein Verrückter gar, ein Nihilist, ein Abgedrehter. Ich bin nicht der Ansicht. Ich glaube Holden geht einfach an der Welt kaputt (und ist nebenbei sehr viel gesünder als die meisten von uns). Aber er geht eben nicht spektakulär kaputt, wie es allzu oft erwartet wird, aber selten geschieht. Überhaupt ist nichts in diesem Buch spektakulär, äußerlich. Es ist alles ganz einfach – und doch so kompliziert. Und Salinger schafft es, dies auf den Punkt zu bringen – er hat ein wundervolles Buch darüber geschrieben, mit einer der besten, in seinen Empfindungen wirklich nachzuempfindenden Figur, die je auf den Leser losgelassen wurde. Wer glaubt, dass Kunst nicht das Leben abbilden könne, weil sie idealisiert, trickst, glättet, der sollte den Fänger im Roggen lesen.

“Aber wenn man am Leben bleiben will, muss man eben dieses Zeug mitmachen.”

Ein Buch das sagt: Take it or leave it und das doch im Geheimen weiß: So einfach ist es nicht. Viele Leute sehen in Holden gerne einen klassischen Antihelden (aber Held und Antiheld sind Konstruktionen der Kunst und damit wird man Holden nicht gerecht) oder einen sehr sprunghaften, sonderbaren Kerl. Aber werden wir nicht alle von denselben Dingen wie er umgetrieben? Spontane Abneigung, Verlorenheit, Daseinsjammer und oft dieses Gefühl der Oberflächlichkeit, als hätte man sich in einer Welt der Schemata und Konventionen verlaufen, aus denen stets nur das immer gleiche, beschränkte erwächst, in deren Korridoren Rahmen hängen, in denen die Bilder nichts mehr bedeuten – wo man selbst doch nur ein bisschen was Wahres haben will? Salinger hat sich getraut diese Emotionen und Ideen am Beispiel eines Heranwachsenden wunderbar zu durchleuchten, dieses ganze Problem, mit der Welt klarzukommen, mit den Menschen, die alle so verschieden sind und die doch alle in einer Gleichung zusammenkommen sollen, die man Zusammenleben nennt.

Und doch ist “Der Fänger im Roggen” kein Manifest, keine psychologische Studie und Holden ist kein Ankläger, keine Thomas Bernhard Figur, keiner, der es sich in seiner Opposition leicht macht. Nein, auch er sucht nur seinen Platz in dem Ganzen und hält sich selbst für reichlich schwierig. Dabei zeigt sich gerade an seinem Beispiel, wie schwierig es ist, man selbst zu sein, wenn dieses selbst sich fast nirgendwo mit der Umwelt deckt und sich nicht in eine maßgeschneiderte Existenz begeben will.
Dies alles und noch mehr, verteilt und oft unscheinbar, steckt in diesem Buch.

Mancher mag meinen, es sei ein bloßer Kniff aus Stilmitteln und Vulgärsprache, wie Salinger Holden reden lässt und das sei das ganze Revolutionäre an diesem Buch. Weit gefehlt – weiter geht kaum mehr. Wer den Fänger im Roggen auf diese Dinge festmacht, wird ein großartiges Buch versäumen. Denn all diese sprachlichen Kleinigkeiten – wenn man genau hinhört, nachfühlt, sind es Signale der Seele, wie auch wir selbst sie für einen Moment oft spüren. Dinge, die einen umhauen. Die einen wütend machen. Die einen abrutschen lassen in eine plötzlich Melancholie oder Abgewandtheit. Die einen euphorisch machen oder einen irgendwie seltsam beruhigen oder gar glücklich machen. Dinge, die uns eben umtreiben, weil wir in einer Welt leben, die ständig mit uns kommuniziert und unser Selbst auch ausmacht. All das hat Salinger seiner Figur eingegeben und wenn man dies beim Lesen bedenkt, ist es wahrlich umwerfend, das er dieses Buch überhaupt geschrieben hat. Vor allem, dass er es geschrieben hat, ohne es zu kommentieren, ohne in irgendeiner Weise in Rhetorik oder Abhandlung oder Essayistik zu verfallen.

Bei allem was ich sage, möchte ich dennoch nicht verhehlen, dass dieses Buch kein Wegweiser ist oder eine wirkliche Philosophie vertritt. Holden ist nicht Salinger und selbst wenn, dann ist Holden kein Prophet. Er ist ein Mensch, ein Teenager, wie tausend andere und er spricht mit der Stimme eines solchen und nur damit. Und das, diese einfache Tatsache, macht dieses Buch letztlich (und allein schon) so lesenswert. Nichts türmt sich darüber auf, keine unterschwellige philosophische Strömung hat dieses Werk aufgeschüttet. Es ist ein Werk, das einfach erzählen will, wie das so ist, das Problem mit dem Leben, mit der Schule, mit den Mädchen, mit der Freude, mit der Liebe, mit der Angst, mit dem Glück.

Man kann Salinger nur dankbar sein, dass er es geschrieben hat. Für mich und vielleicht nur für mich, ist der Fänger im Roggen eines der schönsten und eindrucksvollsten Werke, die je zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlicht wurden. So konzentrierte Erzählkunst und doch ist es ist kein großer, erlesener Roman – es ist viel mehr als das, viel näher am Leben. Es ist Literatur, im besten Sinne.

Zuletzt zur Übersetzung: Übersetzungen sind immer so eine Sache. Ich glaube nicht, dass man Den Fänger im Roggen im Original lesen muss, auch wenn das wiederum eine ganz besondere Erfahrung ist. Die neue Übersetzung von Eike Schönfeld finde ich okay, wobei mir die alte von Böll besser gefällt, wenn sie auch anfangs etwas verstellt wirkt. Aber in dieser Übersetzung habe ich mehr das Gefühl, dass das Werk wirklich in die deutsche Sprache übersetzt wurde und ihren Ansprüchen, ihrer Art gerecht wurde, während Schönfelds Übersetzung mehr ein Versuch ist, die Legerheit und Eigenheit der englischen Version auch im Deutschen erreichbar zu machen (aber es ist nun mal das Problem, dass diese Art im Englischen total gut kommt, mit ihrer Knappheit etc., aber im Deutschen etwas zu BAM-mäßig klingt). Sind eben zwei Konzepte, die man beide nicht aburteilen sollte.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen