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Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”
Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.
In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.
Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).
Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.
Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.
Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!
Zu den Porträts in “Über Geist und Macht” von Wilhelm von Sternburg
Dieser schöne Band versammelt biographische Studien, Abrisse und Essays von Wilhelm von Sternburg, die zwischen 1993-2017 in verschiedenen Publikationen (hauptsächlich der Frankfurter Rundschau) erschienen. Unter den Protagonist*innen finden sich ein paar der üblichen Verdächtigen (Schiller, Heinrich Böll, Stefan Zweig, Günter Grass, bei den Politikern Bismarck, Churchill und Willy Brandt), aber auch unbekanntere oder vergessene Namen wie Gustav Freytag, Bruno Frank, Elisabeth Langgässer und wenig thematisierte wie Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Golo Mann oder Herbert Wehner.
Mit Ausnahme von Lessing und Schiller waren alle Persönlichkeiten des Buches auf die eine oder andere Weise Zeitgenossen und Akteur*innen während der Entwicklungen und Verwerfungen der deutschen Nationalgeschichte zwischen 1848 und den Zeiten der Bonner Republik. Und obgleich Sternburg auch ein feinsinniger literarischer Rezipient ist – die Texte dieses Bandes (wie auch schon der Titel „Über Geist und Macht“ andeutet) richten ihr Hauptaugenmerk auf die zeitgeschichtlichen Aspekte des Werks, den Charakter und die Integrität, die Verwicklungen und Positionen der jeweiligen Geistes- und Machtgrößen.
Bei einigen Namen bleiben die Texte eher so etwas wie ein gut ausbalanciertes summa summarum (wobei es auch dann an interessanten Einblicken nicht fehlt). Zu Schiller beispielsweise gibt es selbstverständlich tiefere, mannigfaltigere Arbeiten (z.B. von Thomas Mann oder Rüdiger Safranski). Bei solchen Namen spürt man, das Sternburg klug gesammelt hat und mehr das bekräftigt, was zu Schiller bereits gesagt wurde und weniger eine eigene Deutung anstrebt (wenn er sie auch, hier und da, einfließen lässt). Auch bei Joseph Roth, dem ein längerer Text gewidmet ist, bewegt sich Sternburg etwas im Kreis, verdeutlicht und untermalt, stößt aber nicht wirklich in eine eigene Schilderung vor.
Sehr verdienstvoll sind hingegen die Beiträge zu den Unbekannteren – und das Highlight sind ein paar mutige Klarstellungen. Sehr fasziniert hat mich der längere Text zu Gustav Freytag, in dem Sternburg nicht nur die Geschichte des damals sehr erfolgreichen Literaten und Feuilletonisten erzählt, sondern auch ein nachvollziehbares Bild des Antisemitismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts zeichnet und beides in der Entwicklungsgeschichte des Publizisten Freytag zusammenbringt. Seine Texte zu Bismarck und zu fast allen anderen politischen Personen, die er portraitiert, haben eine Schonungslosigkeit, die sich stets ohne Verdammnis artikuliert – was oft ausgewogen wirkt, nur selten zu friedfertig und versöhnlich. Insgesamt legt er eine beeindruckende Differenziertheit an den Tag und bei den Publizisten und Politikern deckt er deren Schwächungen und Verfehlungen mitunter so konsequent auf, das man sie in in einem neuen, unspektakuläreren Licht sieht.
Nur Lob habe ich auch für seine Texte zu Böll und Grass. Bei Böll macht Sternburg klar, welch engagierten Geist und wichtigen (sicher auch großen, aber vor allem wichtigen) Künstler die Bonner Republik mit dieser Persönlichkeit hatte und wie erschreckend Boulevardpresse, Feuilleton und Regierung diesen Menschen teilweise behandelt haben. Aber er stellt ihn eben nicht als Opfer dar, sondern als den agierenden Humanisten, Vertreter der Entrechteten und eigenwilligen Zeitgenossen, den seine eigenen Schriften auch widerspiegeln. Und ich fühle mich Böll durch Sternburgs Darstellung wieder genauso verbunden, wie zu der Zeit, als ich vieles seiner Romane und Kurzgeschichten las.
Bei Grass wird Sternburg noch entschiedener zum Verteidiger und beklagt offen die verheerende Dimension der Verrisse und den Unbill, den man Grass Werk und dem geistesgegenwärtigen Prinzip darin über Jahrzehnte entgegenbrachte und -bringt. Obwohl schon ein älterer Text, ist er wohl nach wie vor aktuell. Natürlich hat Grass sich mit seinem Gedicht über Israel und seinen schwierigen Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“ weiter in Verruf gebracht, bevor er starb. Aber sein episches Werk ist zu großen Teilen nach wie vor seltsam verpönt, viele Dimensionen darin werden verkannt und falsch oder missgünstig oder nur autobiographisch gedeutet.
Andere Beiträge, bspw. zu Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger, sind schön zu lesen, manchmal etwas unordentlich strukturiert, was mir persönlich aber sympathisch ist. So wirkt es, als Reise man kreuz und quer durch den Geist und das Leben der Person. „Über Geist und Macht“ ist letztlich eine tolle Kombination aus Schmöker und Geistesgut – etwas, das man auf dem Feld der Essays leider allzu selten antrifft. Lesenswert!
Fixpoetry.com Profil
Sieh da, mein Profil war dieses Jahr das am häufigsten besuchte auf fixpoetry.com.
Es scheint sich also zu lohnen – Man schaue mal vorbei und lese vielleicht ein paar der letzten Beiträge & Interviews!
http://www.fixpoetry.com/autoren/literatur/feuilleton/timo-brandt
Über einen kleinen Meister der Sprache und des Humanismus: Alfred Polgar und den 1. Band seiner Werkausgabe: Musterung
“Was ist Erkenntnis? Doch zumeist nur der Trugschluss, dem man’s nicht anmerkt. Wahrheit? Der Irrtum, auf den noch keiner gekommen ist. Und welcher Beweis gilt? Jener, der schlauer geführt wird, als sein Gegenbeweis.”
Polgars viel zitiertes, amüsiertes Glaubensbekenntnis.
“Ich glaube an das Gute im Menschen, rate aber, sich auf das Schlechte in ihm zu verlassen.”
“Sonderbar, dass die kleinen Nuancen des Lebens so viel Feindseligkeit unter den Menschen bewirken – und das allen gleiche “Sterben-Müssen” so wenig Solidarität.”
Es gibt wenige Schriftsteller, die es in der kleinen, kurzen Textform zu Ruhm brachten und bringen. Augusto Monterrosso fällt ein, überhaupt die spanischen Minimalisten. Im deutschen ist ein Triumvirat, deren Mitglieder alle etwa zur selben Zeit lebten und wirkten: Robert Walser mit seinen poetischen Nuancierungen, Träumereien und Spielen (siehe: Der Spaziergang), Franz Kafka mit seiner alles erschließenden und alles verklitternden Optik, und als ungekrönter Caesar: der Autor, Essayist und Aphoristiker Alfred Polgar.
Genremäßig gehört Polgar allerdings eher zu einer anderen Riege – zu den berühmtes Caféhausliteraten und Feuilletonisten, die sich in den 20er und 30er Jahren in der Weimarer Republik und Österreich hauptsächlich als Freelancer für Zeitungen und Zeitschriften, mit Theaterkritik, sowie dem Kabarett verdingten. Viel von dem, was hier in diesem ersten Band seiner Werkauswahl enthalten ist, hat die Länge eines Zeitungsartikels, vieles davon wurde auch in diesem Medium zuerst veröffentlicht.
Was die Art angeht, habe ich lange überlegt, mit wem Polgar zu vergleichen wäre. Er ist Oscar Wilde nicht unähnlich, allerdings nur, wenn es um seine Beobachtungsgabe und die Genialität und Knappheit seiner Bonmonts und Beobachtungen geht; anders als Wilde war er ein gemäßigter Dandy, lange nicht so monströs und geltungssüchtig, beflissener, wiederum aber wie Wilde von einer festen Größe, nur ohne die großen Gipfel und Abgründe. Scharfsinn und Zweifel sind immer Polgars vorrangige Waffen; mit ihnen geht er die unterschiedlichsten Themen an.
Dieser erste Band Musterung enthält hauptsächlich engagierte Essays/Prosa; im ersten Teil vor allem pazifistische und antifaschistische Glossen, Satiren, Berichte und Betrachtungen, im zweiten Teil allgemeine Zeitspiegel, wie etwas Strafprozesse, Wiener Lebensart, Anekdoten & politische Vorkommnisse. Wer sich an schöner, geschliffener Sprache erfreuen kann und subtilen Witz und Esprit schätzt wird hier immer wieder auf seine Kosten kommen und eine, vor allem stets sehr anregende, Kurzlektüre finden – wer allerdings mehr auf kleine Geschichten, denn auf Zeitgeschehen und Feuilleton setzt, sollte den Band 2: Kreislauf wählen. Irrlicht: BD 3 enthält Literaturkritiken und Szenen aus dem literarischen Leben.
Wer einen kleineren, beschaulicheren Überblick über Polgars Art und Ceuvre erhalten will, kann auch mit diesem schmalen Band beginnen: Im Lauf der Zeit
Es gibt ein Faustfragment von Lessing, in dem der Geist dem Faust auf die Frage: “Was ist das schnellste auf Erden?” die Antwort erteilt: “Der Übergang vom Guten zum Bösen.”
Um diesen schnellen Übergang weiß und gegen ihn kämpf Polgar mit aller aufgeboten Menschlichkeit und Bissigkeit. In seinem Engagement steht er dem etwas rauerem Tucholsky und auch Karl Kraus nah, auch Erich Kästner und seine weimarer Lyrik bieten sich als Vergleich an; Polgar stemmte sich gegen Gewalt, Willkür und falsche Objektivität, sowie überschüssige Subjektivität. Errare humanum est – jeder unterliegt dieser Bedingtheit und Alfred Polgar wieß die Menschen nur zu gerne süffisant auf ihre Fehler hin, ohne dabei das Augenzwinkern zu vergessen und dem großen Ideal seines lateinischen Credos mit der Besonnenheit eines Mark Aurel zu folgen, der in seinen Selbstbetrachtungen schrieb: “Die Menschen sind füreinander geboren, also belehre oder ertrage sie.”