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Zu Denis Schecks “Kanon”


Schecks Kanon Wieder jemand, der unbedingt mit einem Kanon auf Spatzen schießen will oder besser gesagt: auf die Zugvögel, die die Menschen heute sind, ziehend von Eindruck zu Eindruck und wenig interessiert am Verweilen vor dem Buch, geschweige denn dem Klassiker, was immer das jetzt wieder sein soll? Dennis Scheck ist aber schon mal so clever nicht von „dem“ Kanon, sondern lediglich von seinem eigenen zu reden und überzeugt im Vorwort durchaus mit hehren Absichten.

Weder will er, so schreibt er dort, sich in Geschmacksfragen verirren und wichtige Bereiche der vielfältigen literarischen Landkarte dabei unterschlagen, noch will er es sich nehmen lassen, vor allem und allein seine Lieblinge auszustellen. Klingt schon sehr nach der Quadratur des Kreises, doch am Ende von Schecks Liste mit 100 Büchern sieht das, was sich da entfaltet hat, tatsächlich sowohl einem Kreis als auch einem Quadrat nicht unähnlich.

Denn in der Tat berücksichtigt er in seinem Kanon nicht nur viele Autorinnen, sondern auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“ und Ngũgĩ wa Thiong’os großartiges Werk „Der Herr der Krähen“, „Omeros“ von Derek Walcott, Sei Shonagons „Kopkissenbuch“ und einige andere Bücher aus nicht westlichen Kontexten. Zusätzlich bricht Scheck noch Lanzen für ausgewählte Vertreter verschiedener Genres, darunter Comic (Tim und Struppi, sowie Donald Duck), Fantasyroman (Herr der Ringe), SciFi (Ursula K. Le Guin) und Kinderbuch (Karlsson vom Dach) (wobei er auch anmerkt, das Unter-Genres ihm meist eh wenig einleuchten).

In Summe ist dann aber doch sehr viel Klassisches dabei: „Die Odyssee“, „Faust“, „Krieg und Frieden“, „Verbrechen und Strafe“, Ovid, Shakespeare, Flaubert, Cervantes, Kafka, Proust, etc. – mal geht Scheck diese Klassiker durchaus erfrischend an, manchmal durchaus gebräuchlich. Trotzdem gibt es genug zu entdecken und Scheck kann immer wieder mit charmanten und anschaulichen Darstellungen punkten, manchmal verzettelt er sich aber auch und der Text dreht sich etwas zu wenig um das Buch selbst und etwas zu viel um etwas anderes, das Scheck erzählen will (überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Qualität der Texte gegen Ende etwas abnimmt).

Von James Tiptree Jr. über Hypatia bis zu Lu Xun gibt es dennoch, wie gesagt, einiges Neues zu entdecken und manche Klassiker werden durch Scheck auch anschmiegsamer, klingen lesenswerter, spannender. Zu einigen Büchern wird man unweigerlich greifen wollen, andere kann man vielleicht endgültig ad acta legen. Letztlich ist dieses Buch vor allem ein Genuss, wenn man Spaß daran hat, einem großen Buchfreund beim frei von der Leber-Reden zuzuhören.

Zu Italo Calvinos “Warum Klassiker lesen?”


Warum Klassiker lesen Italo Calvino war eine mannigfaltige und einzigartige Autorenpersönlichkeit. Man begegnet ihm an den unterschiedlichsten Orten – etwa in einem Buch über italienische Comickultur und in einer Agentenserie, in der ein männlicher Protagonist eines seiner Bücher im Flugzeug liest, dann aber auch in Studien zum metaexperimentellen und postmodernen Roman – und seine Werke stehen in den unterschiedlichsten Kontexten – in der Tradition von Oulipo, aber auch in der Tradition des italienischen Furioso und des magischen Realismus borgesker Prägung, der Widerstandsliteratur und einigen anderen – und aufgrund seines frühen Todes wird er gerne als verhinderter Nobelpreisträger genannt.

Viele seiner Bücher sind heute in Italien Volksgut und Schullektüre und erfreuen sich einer breiten Leser*innenschaft. Gleichzeitig sind sie oft unendlich komplex, was mit ihrer spielerischen Art auf einzigartig-verfängliche Weise in Zusammenhang steht. Calvino war ein großartiger Romancier und ein heiter-melancholischer Geschichtenerzähler, ein Tüftler und ein Metaphysiker.

Über sein eigenes Werk hinaus hat sich Calvino als Leser und Theoretiker einen Namen gemacht. Sein nur wenige Jahre vor seinem Tod publiziertes Werk „Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft“ legt davon ebenso Zeugnis ab wie die nach seinem Tod publizierten Harvard-Vorlesungen, die er nicht mehr halten konnte („Sechs Vorschläge für das nächste Jahrhundert“) und dieses Buch „Warum Klassiker lesen?“ mit Aufsätzen und Essays zu Büchern und Autoren.

Wer glaubt mit diesem Buch einfach nur auf eine weitere Leseanleitungssammlung zu den klassischen Texten gestoßen zu sein, der/die wird womöglich eine Überraschung erleben, wenn er/sie ein paar Seiten darin gelesen hat. Vielleicht wird er/ sie auch frustriert sein.
Denn zum einen Kreisen Calvinos Betrachtungen oft um Texte, die man als Klassiker nicht unbedingt auf dem Zettel hat (oder zumindest nicht als klassische Bücher von durchaus klassischen Autoren (leider sind es auch nur Bücher von männlichen Autoren)) und zum anderen kann man seine Ausführungen nur als „sprunghaft“ bezeichnen, so schnell saust er manchmal von Motiv zu Motiv oder klappt mit einem Mal eine ganze Gedankenpalette zu einem Gegenstand auf, die einem durch ihr dringliches Auftrumpfen mit allerlei Begriffen und Ideen schnell entgleitet und davonzurollen droht.

Dies klingt zunächst nach einer mühsamen Lektüre und es wäre auch ein Akt des Beschönigens, würde man Calvinos Essays als zugänglich und wohlstrukturiert bezeichnen. Dafür haben sie aber andere, furiose Qualitäten, die teilweise ihrem Chaos entspringen.
Zum einen zeigen sie auf nachhaltige Weise, wie komplex die Plots, Figuren und Motive von so unterschiedlichen Klassikern wie der Odyssee, Candide oder den Werken Raymond Queneaus sind, wie weit man sie in viele Richtungen denken kann. Er schildert diese Bücher nicht nur als große Geschichten, die man kennen sollte, sondern als Zugänge zur Welt, in denen Archetypen, wertvolle Vorstellungen und Problematiken das Licht der Welt erblickten, die uns jetzt, hier und heute, mehr denn je um die Ohren fliegen, sich in manchen Konflikterscheinungen und in vielen Darstellungen festgesetzt haben. Es gelingt ihm die ganze Besonderheit von vielen Autoren und ihren (oft unbekannteren) Werken hervorzukehren, umständlich manchmal, aber letztlich bestechend.

Denn die Texte sprühen zum anderen vor Begeisterung. Manchmal ein bisschen zu viel und hoch, das man fast die Augen abwenden muss. Aber das Gute daran ist: es geht ja auch nicht darum, ein Buch wirklich erklärt zu bekommen (dazu reichte ein Essay ja nicht aus), sondern darum, einen Eindruck zu bekommen und im besten Fall einen Initiationsmoment zu erleben, der einen dazu bringt, das Buch selbst zu lesen. Und dafür sind diese Texte mehr als geeignet, gerade weil sie vielleicht nach ein paar Sätzen schon übersprudeln und man sie nicht zu Ende liest – derweil man trotzdem fasziniert ist von dem Bild des Buches, das Calvino schon in den wenigen Zeilen skizziert und illuminiert hat.

Nicht alle Texte aus diesem Buch sind lesenswert. Manche sind bestimmten Lieblingsbüchern von Calvino gewidmet, die wohl kein/e andere/r Leser*in, vor allem nicht ohne Kenntnis des Italienischen, so begeistert lesen wird. Dafür gibt es Texte (bspw. zur Odyssee, zu Denis Diderot, zu Charles Dickens und Mark Twain), die wirklich großartig sind, ungeordnet und überladen, aber eine Reise wert, die vielleicht keinen Ursprungsgedanken verfolgt oder ein klares Ziel vor Augen hat, aber die pure Freude am Entdecken und Beobachten der vielen Stärken und Einzigartigkeiten der Bücher zum Ausdruck bringt und damit die Bedeutung und Schönheit dieser Facetten hervorhebt.

Keines von Calvinos Büchern ist leichte Kost, aus unterschiedlichen Gründen. Aber wer Bücher sucht, die einen etwas aufhalten, aber dabei auch zu ganz vielen Anregungen führen, zu Rätseln und kleinen Offenbarungen, denen Aberwitz und Nachdenklichkeit innewohnen und die einem vieles im gleichen Moment erzählen, der wird hier fündig werden – in diesem Buch und im ganzen Werk von Italo Calvino.

 

Zu Julian Barnes Essays in “Am Fenster”


Am Fenster „Romane erzählen uns die reinste Wahrheit über das Leben: was es ist, wie wir es leben, wozu es da sein könnte, wie wir es genießen und was es uns wert ist, wie es misslingt und wie wir es verlieren. […] Was es bedeutet, ein Individuum zu sein, was es heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein. Was es heißt, allein zu sein. […]
Wir sind, im tiefsten Inneren, erzählende Wesen und immer auf der Suche nach Antworten.“

Noch einer dieser Romanfetischisten? Nach der Lektüre des Vorwortes war ich fast schon geneigt, Julian Barnes Essays neben denen von Milan Kundera, Virigina Woolf und Mario Vargas Llosa einzureihen, deren unermüdliche Gedanken zum Wesen, der Schönheit und den Möglichkeiten des Romans gleich mehrere Bücher füllen – und es sind nicht die schlechtesten Essays, die dort versammelt sind. Doch Julian Barnes hat, wie sich im Verlauf der Lektüre von „Am Fenster“ zeigte, mehr zu bieten, als Loblieder und Eruierungen zum Roman; obgleich der Roman ein Genre ist, auf das er immer wieder zurückkommt.

Ich schätze Julian Barnes schon seit langem als Romancier – vor allem für „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“, ein Romankaleidoskop, das zwischen dem beschaulich-schönen (Wahn-)Witz eines Douglas Adams, dem enzyklopädischen Schimmer eines Jorge Luis Borges und dem Geschick eines arrivierten Prosa-Komponisten (wie Faulkner oder Kundera) hin und her pendelt und sich dabei selbst nie zu ernst nimmt (aber keineswegs nur Spaß versteht); ein Buch, das mit seinem Hauptmotiv, der Arche Noah, auf genau die richtige Art und Weise spielt, es transzendiert und dann wieder profaniert.

Aber auch als Verfasser von anderen Büchern habe ich Barnes schätzen gelernt. „Nichts, was man fürchten müsste“ ist nach wie vor das beste Nichtroman-Buch über den (eigenen) Tod, das ich bisher gelesen habe.
Alles in allem: mir gefällt die Wandelbarkeit seines Oeuvres, aber auch die Kontinuität darin.

Ein Thema, zum dem Barnes eines natürliche Affinität zu haben scheint, ist Frankreich, was sich auch in seinen Essays niederschlägt. So finden sich in diesem Buch nicht nur zwei Texte über Rudyard Kipling und das Land von Paris, Provence und Côte d‘Azur (namentlich „Kiplings Frankreich“ und „Frankreichs Kipling“), die trotz ihrem Mix aus Tiefgang und anekdotischer Leichtigkeit wohl nicht jedermanns Interesse wecken werden, sondern (u.a,) ein Text über die verschiedenen englischsprachigen Übersetzungen von Madame Bovary (mit besonderem Augenmerk auf die neuste von Lydia Davis) und ein großartiger Michel Houellebecq-Halbverriss, der die Stärken und Schwächen des von der Grässlichkeit aller Dinge überzeugten Autors auseinanderdividiert und klar benennt.

Auch ansonsten ist das Buch eine Fundgrube, mit spezielleren und offensichtlicheren Schätzen. Das Buch steigert sich kontinuierlich – obgleich es mit einer gelungenen Würdigung von Penelope Fitzgerald, einer viel zu unbekannten Autorin, beginnt – und wo am Anfang vor allem Texte mit einem fast schon zu engen Fokus stehen, die auch hier und da etwas diffus wirken, sind es am Ende die Texte über John Updike, die großartige Short Story-Autorin Lorrie Moore und Barnes eigene bibliophile Neigung, die mir in Erinnerung bleiben werden. Auch der Text über die autobiographischen Bücher von Joyce Carol Oates und Joan Didion (die jeweils vom Verlust eines geliebten Menschen handeln) ist ein meisterhaftes Beispiel für einen Essay, der auf wunderbare Weise Distanzen überbrücken und sie doch mitunter auch einhalten kann – wenn das nötig ist und dem Text besser dient. Und manchmal, das kann bei Julian Barnes lernen und schauen, dient der Abstand zum Objekt einem Text sehr gut. Solange man ihn auch überwinden kann.

Die einzelne Kurzgeschichte – im Prinzip der Versuch, die Schönheit und Stärke eines Werkes, das hinter dem Bild einer Figur zu verschwinden droht, herauszuarbeiten – ist eine schöne Lektion in Sachen Scheitern.

Bleibt mir nur noch, den letzten Satz des Vorwortes, den ich im Anfangszitat unterschlug, hier ans Ende zu setzen und jedem zu empfehlen, Julian Barnes zu lesen. „Flauberts Papagei“ vielleicht. Oder das Buch mit dem Pinguin drauf, ganz egal. Oder dies hier.

„Die beste Literatur liefert nur selten Antworten, aber sie formuliert die Fragen ganz ausgezeichnet.“

Zu den Texten in “Charisma – Sämtliche Stories” von James Salter


Es war spät am Nachmittag und ein Regenschauer war vorübergezogen. Das Licht war silbrig und seltsam. Autos, die aus dem Regen auftauchten, hatten die Scheinwerfern und Scheibenwischer an. Die gelben Straßenbaumaschinen, die am Straßenrand standen, leuchteten unnatürlich grell.
Es war die Stunde kurz nach der Arbeit, wenn hoch oben in der Luft die Tropfen der Bewässerung glitzern, die Hügel dunkel zu werden beginnen und die Wiesen wie Teiche sind.
Sie ritt alleine oben den Kamm entlang. Sie saß auf einem Hengst namens Fiume, groß, wohlgeformt, aber nicht sehr klug.

Es gibt Dinge, die liest man, und schon im Moment der Lektüre werfen sie einen weiten Schatten; schon meint man bereits zu wissen, dass einem der Text – oder eine Formulierung, eine Atmosphäre, ein Eindruck – noch lange im Gedächtnis bleiben wird, vielleicht sogar wieder und wieder beschwörend aus der Erinnerung hervorbricht, in die er sich unerklärlicherweise eingebrannt hat. Natürlich kann auch der stärkste Eindruck schnell schwinden und zumindest mir wird es immer ein Rätsel bleiben, warum ich mich an manche Bücher und Texte so genau und nachdringlich erinnert fühle und von manchen nur ein gesetztes, schlichtes Resümee, eine Meinung, eine Sympathie oder Abneigung, geblieben sind.

Fest steht: es gibt Texte, die schon beim Lesen das Gefühlt aufkommen lassen, dass sie ein besonders eindrückliches Licht in sich tragen und lange Schatten werfen können. Zu diesen Texten gehören auch einige der Kurzgeschichten von James Salter, die in diesem Band versammelt wurden.
Was löst das Licht aus, was erschafft Atmosphäre, Eindruck, Eindringlichkeit? So unterschiedlich die Quellen für diese Erscheinung sind, oft entspringen sie in der Literatur einem Merkmal, das Prosa im Allgemeinen hervorhebt oder einreiht: dem Stil. Zu dem schrieb Salter in einem der ebenfalls enthaltenen Essays über das Schreiben und Lesen:

Stil. Flaubert ging es um Objektivität und um den Stil, um die präzise Wahl des richtigen Wortes. Sprache ist ein natürliches Merkmal des Menschen, und meist kommt sie mühelos hervor, sozusagen nolens volens, aber Schreiben ist nicht das Gleiche, Schreiben ist schwieriger.”

Ganz so gekonnt wie sein Ahne Flaubert geht Salter allerdings nicht immer vor; dann und wann kommt das Bedürfnis über ihn, etwas zu hastig zu erklären, was seine Figuren gerade bewegt, anstatt es ein wenig den Untiefen seiner Sätze zu überlassen (den Wörtern, die Fassaden errichten, aber auch einen Riss in der Fassade darstellen können) oder eleganter den Innenraum seiner Charaktere zu entfalten; manchmal gelingt es ihm dann wieder vorzüglich und erstaunlich. Und somit gibt es einige Erzählungen in “Charisma”, die etwas Vollkommenes haben, die in ihrer offenen Existenzschau großartig Emotionen verdichten oder auch Szenarien.

Die Schilderung geschieht oft wie von leichter Hand, obgleich Salter zeigt, wie unter der Oberfläche die heftigsten Gefühle und verschiedensten Ideen, Regungen und Möglichkeiten auflodern und kreisen. Der oben zitierte Abschnitt stammt aus einer Erzählung, die die letzten zwanzig (wachen) Minuten einer Frau beschreiben, nachdem sie vom Pferd gestürzt ist (das Pferd fällt danach auf sie und zertrümmert dabei natürlich ihre Beine und vermutlich noch einiges mehr). Ihre Gedanken und Erinnerungen werfen sich auf, man spürt förmlich, wie das Leben lebendig und doch versickernd an ihrem inneren Auge vorbeizieht, wie sich aufbäumt und doch flüchtet. Der Landschaft, der Umgebung, dem Dahinziehenden, wird die sich rasch verschiebende, aufleuchtende und dunkle Landschaft der Seele gegenübergestellt.

Ich würde sogar so weit gehen und sagen: die Differenz (und Ambivalenz) zwischen den einfachen Schilderungen der Lebensumstände und den in ihrer ganzen Aufgewühltheit geschilderten und stets mit eingebrachten Innenleben, macht die Meisterschaft von Salter aus. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Figuren ungeheuer lebendig zu machen, mit ihrem Verlangen, ihrer Geworfenheit – und noch mehr: es gelingt ihm einen wesentlichen Widerspruch des Menschen darzustellen: auf der einen Seite das sozialisierte, in Gesellschaften und Abläufen lebende, Vernunft und Regeln folgende Geschöpf und auf der anderen Seite ein Wesen, das von leidenschaftlichen, widersinnigen (oder vielleicht gerade sinnigen?) Sehnsüchten und Wünschen erfasst werden kann und sich trotz des dahinlaufenden Existierens immer wieder daran erinnert, dass es lebt und stirbt, dass es ganz allein ist und nicht allein sein will.

Diese Meisterschaft kommt der speziellen Meisterschaft Flauberts dann doch wieder sehr nah. Im Prinzip hat auch Flaubert die Beweggründe seiner Figuren, ihre innere Zerrissenheit, ihre Suche, sehr deutlich exponiert und dem bürgerlichen Dahinlaufen des Lebens entgegengestellt (um nichts anderes geht es, verkürzt, in Madame Bovary).
Es gibt Bücher, von denen sagt man, dass sie „erhebend“ sind, andere sind „unterhaltsam“. Beides wären viel zu beliebig wirkende Bezeichnungen für Salters Storys, vielleicht sogar unzutreffend. Am besten gefällt mir immer noch, sie als „eindrücklich“ zu bezeichnen. Verdammt eindrücklich. Diese Eindrücklichkeit, die verdichtet, aber auch Dinge zersplittern lässt, sie macht viel von dem Reiz aus, den diese Erzählungen ausstrahlen. In jedem Fall: ein paar Meisterwerke sind hier zu finden.

Etwas zu Flauberts: “Madame Bovary”


Wann immer das Gespräch auf große, durchkomponierte Romane kommt, wann immer man über den modernen Roman und seine Geschichte redet, gibt es einige Werke, um die man nicht herumzukommen scheint. Madame Bovary von Gustave Flaubert ist so ein Roman, ja, er wird sogar einvernehmlich in literarischen Kreisen als “erster” moderner Roman bezeichnet, sein Aufbau wird gerühmt, Flauberts Sprache und Psychologie gepriesen.

In der Tat kann man in verschiedenen Werken von Milan Kundera bis zu Mario Vargas Llosa diesen Roman behandelt finden – dort wird er natürlich auseinander genommen, eingefügt in einen Zusammenhang, sozusagen “instrumentalisiert”. Jeder, der wie ich vor der Lektüre des Romans zahlreiche Schriften über ihn gelesen hat, sieht ihn natürlich mit “anders definierten Augen”, wie André Gide sagen würde.

Neben der Größe und Auslegungsbreite des Buchs im Feuilleton und der Essayistik, schwingt immer wieder die Kraft der verruchten Aura mit, die diesem Roman von allen Seiten angetragen wird. Doch ähnlich wie Lady Chatterley ist auch “Madame Bovary” natürlich kein wirklich erotischer Roman, sondern eine psychologisch-menschliche Konflikt- und Lebensgeschichte, die tatsächlich in dieser Form nicht unbedingt das erste Mal (siehe z.B.: Balzac “Das Haus zur »Ballspielenden Katze«”), aber auf jeden Fall das erste Mal in so eindringlicher Klarheit, Tiefe und Nähe beschrieben wurde.

Die Handlung soll hier nicht genau unter die Lupe genommen werden, sie ist hinlänglich wohl bekannt und wenn nicht ist sie umso mehr und besser überraschend zu genießen; der Dreh und Angelpunkt sind sowieso die Charaktere, die so zweideutig sind, (ja geradezu eigensinnig) dass sie dem Ideal der Romanfigur, einer richtigen Person mit ambivalentem Selbst- und Weltverständnis und allerlei plötzlichen Regungen trotz eines festen Charakters, sehr nahe kommen. Flaubert mischt sich, so bemerkt man, so selten wie möglich als Erzähler wertend ein und dann auch nur wenn es um seine Hauptperson Emma Bovary geht, der noch am meisten definierten Person im ganzen Buch; ihre Figur schreitet wie durchleuchtet durch die Welt.

Mit stilistischer Bravour und Eleganz, weiß Flaubert immer genau wo er (physisch und blicktechnisch) als Erzähler zu stehen hat, um die beste Einstellung zu bekommen; so ist er zwar den größten Teil der Zeit bei Emma, in ihr, um sie, als wäre sie ein altes Ich (Flaubert meinte immer wieder: “Emma Bovary – das bin ich!”) um doch wieder (und eigentlich immer) allwissend über allem zu schweben und seine Blicke auch hier- und dorthin zu werfen, wo gerade etwas Interessantes einzufügen ist. Nebenbei finden sich natürlich unvergessliche Szenen und Beschreibungen in diesem Buch; eine der berühmtesten hat mir der Überschrift und einer sehr langen Kutschenfahrt zu tun.

Flaubert schrieb 5 Jahre an seinem Werk; lange haderte er mit den Sätzen und versuchte die (wir würden sagen ultimativen) Worte zu finden, die alles genau und möglichst poetisch, aber nicht schwülstig, beschreiben würden – man kann mit großer Sicherheit sagen, dass “Madame Bovary” den Roman auf alle Zeiten beeinflusst hat und ihn vielleicht auch dort hin gebracht hat, wo er heute ist. Vielleicht war es die konsequente Weiterentwicklung der Balzacschen Realistik, die wiederum eine Weiterentwicklung von Sternes (Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman) und Rabelais (Gargantua und Pantagruel) Romanabschweifungen war, die wiederum vom Urroman, dem Don Quijote des Cervantes herrühren; ja, vielleicht ist die Formstärke doch die größte Stärke der Literatur… zweifelsfrei ist eins: Flauberts 5 jährige Arbeit haben sich in dieser Prosa niedergeschlagen und gleichsam einen Spiegel UND ein Fenster geschaffen, dass Lesegenuss und Reflexion im gleichen Maße vereint.

Zur Übersetzung: Meine Übersetzung ist die von Maria Dessauer aus der Insel Verlag Zusammenstellung Romane und Erzählungen und hat mir persönlich hervorragend gefallen; sie ist flüssig, gekonnt, nicht übertrieben ältlich, nicht übertrieben modern und fängt die Sonnenstrahlen der Flaubertschen Prosa ein.

*diese Rezension ist teilweise bereits auf Amazon.de erschienen.