“Romane sind Pflanzen auf den Feldern des Lebens.”
Johann Wolfgang von Goethe
Romane schreiben – Irving vergleicht diese Arbeit gerne mit dem Ringen. Der Roman ist der Gegner und du musst ihn richtig angehen, damit dir das Schreiben gelingt. Und auch wenn dieser Vergleich sicherlich ein wenig hinkt, ein Fitzelchen Wahrheit muss daran sein, denn sonst würde John Irving nicht bereits über einen so langen Zeitraum hinweg tolle Romane schreiben.
Eine anderer Teil von Irvings Arbeitsidee liegt darin, dass er keinen Roman beginnt, bevor er den letzten Satz nicht kennt; und er schreibt keinen Roman, der sich nicht um ein paar neue besondere Orte/Gegenden und Berufe & Milieus herum aufbaut, deren Wesen er vorher einige Monate lang sorgfältig studiert hat: Bisher waren das u.a. der Zirkus, das Waisenhaus, ein Hotel. Und im Kern ist jeder Roman trotzdem der gleiche, ein neuer Ansatz für dasselbe Ziel: Eine Geschichte von einem Menschen, so erzählt, dass man weiß, was das Leben mit sich bringt, was man aufs Spiel setzt, wenn man es lebt, was Verlust, Liebe und Bestimmung bedeuten; was alles passiert wenn man eine Lebensgeschichte erzählt. Das ist in jedem Irving-Roman enthalten, manchmal mehr, manchmal weniger episch.
Mit “Letzte Nacht in Twisted River” ist Irving sicherlich kein neuer Garp gelungen, kein besseres Buch als Owen Meany, kein Jahrhundertwerk amerikanischer Romankunst. Nein, er hat einfach einen großen, vielschichtigen und überaus kulinar-akribischen Roman geschrieben, der, ausgehend von einer verrückt anmutenden Idee zu einem großen und kleinen Panorama eines amerikanischen Lebens gerät und auf seine ganz eigene Art eines der besten Bücher ist, die Irving geschrieben hat – einfach, weil es teilweise so herrlich einfach und auch ein wenig hinterwäldlerisch daherkommt und es sich nicht gerade schwer macht, dabei aber fast schon wieder gnadenlos ist, mit jedem neuen Kapitel und jeder neuen Wendung. Es ist tatsächlich, um das Wort wieder aufzugreifen, “episch”, im besten und im schlimmsten Sinne des Wortes.
Ich respektiere alle Leute, die diesen Roman nicht mögen, die meinen, der Plot gehe von einer irrsinnigen Idee aus oder die Längen des Romans seihen nicht zumutbar, sondern schlichtweg zum Haare raufen und ich verstehe jeden, der sich fragt, warum er so viele Seiten lesen soll, wenn Irving schon auf den ersten 150 Seiten so wenig zur Sache kommt und einfach nur so dahin erzählt, als wäre es nicht wichtig, von der Beschreibung zum Wesentlichen zu kommen.
Doch die Pflanze schenkt die Frucht erst im letzten Abschnitt ihres Wachsens. Erst, wenn dieser Roman wachsen kann (und wer nicht warten kann, muss ihn ja nicht lesen) und seine Natur entfaltet und seine zahllosen Geschichten erst richtig beginnt und dann zu Ende erzählt hat, wird er einem wirklich den Atem nehmen, der einem am Anfang beinahe ausgehen wollte.
Und ist nicht jeder große, wunderbare Roman so, gewinnt er, mal abgesehen vom Stil, nicht erst mit der Bravour der Länge, wenn letztlich alles ausgebreitet ist? “Fegefeuer der Eitelkeiten”, die Romane von Dickens oder das jüngst erschienene Werk von Marisha Pessl “Die amerikanische Nacht” und Chabon’s “Kavalier & Clay”? Ist eine gute Geschichte nicht eine, die dann, wenn sie einen ganz fesselt, einen auch entlässt? Darüber gibt es sicherlich verschiedene Ansichten, aber, um einmal über die Maßen sentimental zu werden: Irvings Geschichten sind in diesem Sinne Blumen. Sie wachsen und wachsen und es scheint die Sonne und es gibt Regen, sie wachsen, immer mehr, und der größte Moment ist dann, wenn sich die Blüte öffnet und man den Deckel schließt. Und dann erst merkt, wie reich man beschenkt wurde. Dann ist da die ganze Wucht, die zwischen den ruhigen Zeilen versteckt war. Die Zeilen, in denen so viel geschah, all diese Teile, diese Stationen, Personen, Momente. Dinge, die nun fehlen.
Noch zur Handlung des Buche:
Die Lebensgeschichte eines Vaters und eines Sohnes auf der Flucht vor einem Verbrechen, das eigentlich ein Unfall war, gezogen über 40 Jahre, wobei zwischen den einzelnen erzählten Ausschnitten der Lebensstationen immer größere zeitliche Sprünge sind, die in der nächsten Episoden wieder mit aufgearbeitet werden. So entsteht das Bild eines Lebens, und gleichzeitig ein Bild von Amerika von Vietnam bis zum 11. September; außerdem hat John Irving zum ersten Mal (soweit ich weiß) einen Schriftsteller als Protagonisten gewählt, sodass es neben vielen Exkursen in den Fachbereich der Gastronomie, die das Gewerbe des Vaters darstellt, auch zahlreiche Ideen, Anmerkungen und Geschichten zum Schreiben, der Literatur und dem Beruf des Schriftstellers gibt und man fast so etwas wie ein kleines Selbstportrait vermuten kann. Aber Irving schreibt eben auch keine Autobiographie, er schreibt großartige, dicke Romane – was darin fiktiv, was erdacht und was aus der Wirklichkeit entwendet wurde, ist in dem Strom dieser breiten Geschichten, die uns zugeführt werden, im Wesentlichen unwesentlich.