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Zu “Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez


Unsichtbare Frauen

Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Beginnend mit der Theorie vom Mann als Jäger räumten die Chronisten der Vergangenheit der Frau in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht viel Platz ein. Stattdessen galten männliche Lebensläufe als repräsentativ für alle Menschen. […] Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. […] Die von Männern nicht berücksichtigten frauenspezifischen Faktoren betreffen die verschiedensten Bereiche. Dieses Buch wird jedoch zeigen, dass drei Themen wieder und wieder auftauchen: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen.

Wenn es um die Sicherheit bei Autounfällen geht, werden die dazugehörigen Vorrichtungen abgestimmt auf Körpertypen, die auf männlichen Modellen beruhen; ebenso ist es bei verschiedenen besonderen Kleidungsstücken wie etwa schusssicheren Westen. Regale werden so konstruiert, dass ein durchschnittlicher männlicher Körper das oberste Brett erreichen kann. Räumdienste in Städten räumen priorisiert die Straßen frei, statt die Fußgänger- und Fahrradwege, die sehr viel öfter von Frauen frequentiert werden.

Dies sind nur einige anschauliche Beispiele, fast noch harmlos. Zu ihnen gesellen sich die großen Ungleichheiten bei der Bezahlung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf männliche und weibliche Körper in der Öffentlichkeit und, auf einer abstrakten Ebene, das generelle Fehlen eines weiblichen Faktors in den Erhebungen von Daten zu jeglichem Thema. Dabei wird nicht nur die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen systematisch unterschlagen, sondern elementare und nachweislich feststellbare Bedürfnisse von Frauen bleiben unberücksichtigt. So kommt es zu der Welt in der wir leben – einer Welt, die für Frauen ein wesentlich problematischerer und unzureichend eingerichteter Ort ist als für Männer. Und auch das allgemeine Narrative dieser Welt, mit allen darin zusammengeführten Geschichten von Erfolg, Glück, etc. ist meist männlich.

Die Folge dieser zutiefst männlich dominierten Kultur ist, dass männliche Erfahrungen und Perspektiven als universell angesehen werden, während weibliche Erfahrungen – also die Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als, nun ja, Randerscheinung wahrgenommen werden. […] Deshalb auch ergab 2015 eine Studie über Wikipedia-Einträge in mehreren Sprachen, dass Artikel über Frauen Wörter wie »Frau«, »weiblich« oder »Dame« enthalten, während Artikel über Männer nicht »Mann«, »männlich« oder »Herr« umfassen (weil das männliche Geschlecht stets unausgesprochen unterstellt wird).

Gerade was die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrifft, haben wir meist die männliche Geschichte und die Errungenschaften für die Männer vor Augen – Frauen haben von der Athener Demokratie ebenso wenig profitiert wie von Renaissance und Aufklärung, trotzdem werden sie als übergreifende Errungenschaften gefeiert (die emanzipatorischen Bewegungen gelten dagegen dezidiert als Errungenschaften nur für Frauen). Diese aufs Männliche fixierte Weltsicht wird, wie Criado-Perez sehr umfassend darlegt, für universell gehalten, während eine weibliche Perspektive meist als ideologisch (!) aufgeladen gilt und mit diesem Argumente auch oft beiseitegeschoben wird.

»Unsichtbare Frauen« erzählt, was geschieht, wenn wir die Hälfte der Menschheit einfach vergessen. Es zeigt, wie die geschlechtsbezogene Datenlücke Frauen im Lauf eines mehr oder weniger normalen Lebens schadet – hinsichtlich der Stadtplanung, der Politik oder der Arbeitsplätze.

Es ist in der Tat ein Mammutwerk, das die Autorin hier vorgelegt hat, und das mit jeder vorgebrachten Statistik, mit jedem neuen Themengebiet, auf das Criado-Perez zu sprechen kommt, fundamentaler wird. Man kann es, so behaupte ich, nicht ohne teilweises Entsetzen und Erschrecken lesen. Dass die Macht- und Bezahlstrukturen in unseren Gesellschaften ungerecht sind, ist bereits in einer breiteren Öffentlichkeit angekommen. Dieses Buch aber zeigt, wie tief die Wurzeln, Vorstellungen und Mechaniken, die diese Strukturen stützen und von ihnen hervorgebracht wurden, in alle Winkel des Alltags reichen. Von den einfachsten Wahrheiten bis zu den komplexesten Diskriminierungen ist dabei alles enthalten – viele Geschichten über die repräsentative Abwesenheit von Frauen in allen (für sie) wichtigen Bereichen.

Jede/r sollte zumindest einen Blick in dieses Buch werfen. Vor allem Männer und besonders die, die glauben, sie lebten nicht in einer sexistischen Welt und hätten einen objektiven Blick auf die Dinge (oder ein objektiver Blick würde ihnen täglich präsentiert).

Studien haben gezeigt, dass die Überzeugung, man selbst sei objektiv oder nicht sexistisch, zu weniger Objektivität und mehr sexistischem Verhalten führt.

Zu “Die berühmtesten deutschen Gedichte von Frauen”


Die berühmtesten deutschen Gedichte von Frauen besprochen bei Fixpoetry

Zu Virginie Despentes “King-Kong-Theorie”


King Kong Theorie Virginie Despentes war schon 2006, als dieser Essayband zum ersten Mal erschien, kein unbeschriebenes Blatt. Sie hatte mit „Baise-Moi“ einen Bestselleroman (und Film) vorgelegt, in dem es u.a. um sexuelle Gewalt, abnorme Gelüste und brutale Rache ging und galt auch ansonsten als skandalumwobene Figur. „King-Kong Theorie“ schlug noch einmal in diese Kerbe, bevor es still um Despentes wurde, was sich erst nach der Veröffentlichung der großartigen Roman-Trilogie über Vernon Subutex, die ihr Preise und viel Anerkennung einbrachte, wieder änderte.

Schon die ersten Seiten dieser manifestartigen Essayaneinanderreihung haben es in sich. Despenstes nimmt von Anfang an kein Blatt vor den Mund und sagt, dass sie für die Hässlichen, die Ungeliebten, die Uninteressanten, die Durchgeknallten und Hysterischen sprechen wird. Vor allem geht es ihr aber darum, einer an den Rockzipfeln verquerer sexueller Vorstellungen hängenden Gesellschaft mal kräftig die Leviten zu lesen. Die erste Salve richtet sich gegen die Festlegung der Frau als universelles Objekt der Begierde.

es macht mich rasend, wenn man mir ständig zu verstehen gibt, dass ich als Frau, die die Männer kaum interessiert, gar nicht da sein sollte. […] Sogar heute, wo viele Romane von Frauen geschrieben werden, triffst du darin nur selten Frauenfiguren, die unscheinbar oder durchschnittlich aussehen und nicht imstande sind, die Männer zu lieben oder sich von ihnen lieben zu lassen. […] Es ist mir Wurst, ob ich Männer geil mache, die mich nicht zum Träumen bringen. […] Ich bin zufrieden mit mir, wie ich bin, eher begehrlich als begehrenswert.

Um Weiblichkeit geht es dann im Weiteren und warum diese immer noch ein Korsett ist, das (auch „ausgelebt“) so sehr mit Vorstellungen und Erwartungen zugepflastert ist, dass man darin keine echten eigenen Wege gehen kann. Weiblich sein, das wird heute zwar gerühmt, aber noch im Rühmen ist es eine Fessel, mit der nur fröhlicher gerasselt wird. Despentes sieht im Weiblichen das ewige Ausbleiben von echtem Selbstbewusstsein auf Seiten der Frauen, die mit einem falschen, als dynamisch dargestellten, weiblichen Selbstbewusstsein abgespeist werden, das mehr ein Selbstbild denn ein Selbstbewusstsein ist.

Denn um zu kämpfen und in der Politik Erfolg zu haben, müssen wir tatsächlich bereit sein, unsere Weiblichkeit zu opfern, weil wir bereit sein müssen, uns zu schlagen, zu triumphieren, unsere Macht auszuspielen. Wir müssen aufhören sanft, freundlich, diensteifrig zu sein, wir müssen uns erlauben, den anderen öffentlich zu dominieren.

Die anderen, das sind die Männer, die partout selbst die schönsten, besten, progressivsten Diskurse und Ideen an sich reißen, einfach weil sie andere dominieren, wenn es ihnen in den Kram passt, wenn sie es können. Bei Frauen dagegen wird solches Verhalten als hysterisch, hyperbolisch, keifend, kalt, unverhältnismäßig etc. wahrgenommen.

Frauen genießen sozusagen den Vorzug, edle Wesen zu sein, nur, dass dieser Titel keine echten und jede Menge Scheinvorteile bietet. Frauen werden idealisiert (die schönsten, mächtigsten, intelligentesten von ihnen, die Schatten auf alle anderen werfen) und sie werden mit lauter Zuschreibungen versehen und davon abweichendes Streben wird entweder verharmlost oder verurteilt. Die hohen Ansprüche, die an Frauen in der Gesellschaft gelegt werden, lassen jeden Fehltritt oder jede Eigenheit zu einem Fehler, einer „Sünde“ werden. Die „edlen Wesen“ sind nicht ausgezeichnet durch, sondern gefangen, gebannt in den hohen Standards, die ihnen als Identität verkauft werden.

Männer verurteilen die Vergewaltigung. Deswegen ist das, was sie tun, immer etwas anderes. […] Hört endlich auf, uns einzureden, die sexuelle Gewalt gegen Frauen sei ein neues oder irgendeiner bestimmten Gruppe eigenes Phänomen.

Im nächsten Kapitel geht es um noch härteren Tobak. Hier spricht Despentes, teilweise aufbauend auf dem ersten Teil, über Vergewaltigungen: warum man nicht darüber spricht, warum sie ein Tabu sind, warum Frauen bis heute größtenteils damit alleingelassen werden – und schildert dann eine Vergewaltigung, die sie selbst erlebt hat. Schildert, warum sie sich nicht wehrte, und wie sie in diesem Moment Teil eines gesellschaftlichen Konstruktes, einer gesellschaftlichen Gewalt wurde, die sie, zusätzlich zu den Ereignissen, überwältigte.

Von dem Augenblick an, da ich kapierte, was uns geschah, war ich überzeugt, dass sie die Stärkeren waren. Eine mentale Sache. Inzwischen bin ich überzeugt, dass ich anders reagiert hätte, wenn sie uns unsere Jacken hätten klauen wollen. Ich war nicht tollkühn, aber oft leichtsinnig. Doch in dem Moment fühlte ich mich als Frau, widerwärtig als Frau, wie ich mich nie gefühlt hatte, wie ich mich nie mehr gefühlt habe. […] Ich bin wütend auf eine Gesellschaft, die mich erzogen hat, ohne mir je beizubringen, einen Mann zu verletzen, der mir mit Gewalt die Beine spreizt, während die gleiche Gesellschaft mir eingetrichtert hat, dass es sein Verbrechen sei, von dem ich mich nie wieder erholen dürfe.

Despentes beschreibt die Vergewaltigung als beides: als furchtbare Erfahrung, aber auch als eine, über die sie hinwegkommt; die sie zwar immer wieder einholt, die aber nie bestimmt, wie sie mit Sexualität und Macht und Ängsten umgeht. Sie verharmlost das Erlebnis nicht, fädelt es minutiös auf – und gerade dadurch bekommt es etwas gleichsam Gewöhnliches UND Schreckliches. Was genau die Dimension ist, die Vergewaltigungen in den meisten Gesellschaften immer noch haben. Sie geschehen nämlich täglich, in jedem Krieg, in der Ehe, unter Bekanntschaften, unter Liebenden, in Arbeits- und Geschäftsverhältnissen. Und sind doch eine der schlimmsten Gewalttaten, die man sich vorstellen kann. Weswegen sie ja auch verurteilt werden. Nur reden sich Männer halt sehr viel zurecht, wenn es um den Willen oder die Wünsche der Frau zum/beim Sex geht.

Kurz überlegt Despentes, warum es nicht schon längst ein Gerät gibt, das eine Frau sich in die Vagina einsetzen kann und das jeden unerlaubt eindringen Penis zerfetzt.

Aber vielleicht ist es ja gar nicht wünschenswert, das weibliche Geschlecht für gewaltsames Eindringen unerreichbar zu machen. Eine Frau muss offen bleiben und ängstlich. Wie sonst sollte sich Männlichkeit definieren? […] Die Vergewaltigung, diese verdammte Tat, von der niemand sprechen darf, vereint in sich eine ganze Reihe grundlegender Glaubenssätze über die Männlichkeit.

Am schlimmsten, so sagt sie, ist, dass sie manchmal Vergewaltigungsphantasieren hat, für die sie sich schämt, die sie aber verfolgen. Sie sieht darin keinen wirklichen Wunsch nach dem Akt der Vergewaltigung, sondern einen gesteigerten Ausdruck ihres Wunsches nach Dominanz, den ihr die Gesellschaft, die sexuellen Normen, eingetrichtert haben; ihre Lust muss immer in der Ohnmacht, im Genommenwerden, im passiven Aufnehmen liegen.

Auch in den folgenden Kapiteln tut sich Despentes weiter in brisanten und heiklen Themen um. Oft sind ihre Thesen steil, aber nie ohne Biss, voller Ecken und Kanten, an denen man sich stößt. Zur Sex-Arbeit, die sie eine ganze Weile ausgeübt hat, berichtet sie vor allem Positives und spricht über die Faszination, sich selbst und seinen Körper als Objekt zu begreifen – also nicht objektifiziert zu werden, sondern diesem Prozess sozusagen zuvorzukommen, selbstbestimmt.

Ich war die Hüterin eines wild begehrten Schatzes […] der Zugang zu meinem Körper erhielt eine extreme Bedeutung […] Mein Körper war ein riesiges Spielzeug geworden.

Despentes macht klar, dass sie nicht versteht, warum Frauen nach wie vor stigmatisiert werden, wenn sie ihren Körper verkaufen, während Männer, die Körper kaufen, kein bisschen stigmatisiert werden. Sex soll also etwas sein, dass Männer wollen, Frauen aber ungern geben, oder nur aus Liebe, nicht gegen so etwas Niederes wie Geld (das erst wieder zu einem hohen Gut wird, wenn der Mann es nach Hause bringt)?

Keine Frau darf aus sexuellen Diensten außerhalb der Ehe Gewinn ziehen. Sie ist keinesfalls erwachsen genug für die Entscheidung, ihre Reize feilzubieten. […] Sie sind immer Opfer.

Auch auf Pornographie kommt sie zu sprechen und bietet hier ebenfalls einen eigenwilligen Blickwinkel. Pornographie ist für sie einerseits ein wichtiges Ventil für unsere Phantasien, andererseits liegt in ihr dasselbe Problem, wie in allen Fiktionen: wenn man anfängt, sie eins zu eins für voll zu nehmen, auf die Wirklichkeit zu übertragen (vor allem die Fiktionen, die unterhalten wollen), dann werden daraus Illusionen, falsche Vorstellungen, gefährliche und hartnäckige.

Man verlangt zu oft vom Porno, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein. Als wäre er kein Kino mehr. Man wirft zum Beispiel den Schauspielerinnen vor, ihre Lust nur zu spielen. Aber gerade dafür sind sie da, dafür werden sie bezahlt, das haben sie gelernt.

Natürlich ist Pornographie ein sehr heikles Thema und die teilweise horriblen Arbeitsbedingungen hat Despentes etwas zu wenig im Blick. Despentes plädiert für einen aufgeklärten Umgang mit Pornographie wie auch schon vorher mit Sexarbeit und Vergewaltigung. Die Stigmatisierung und das Tabu sind ihrer Ansicht nach dafür verantwortlich, dass es bei diesen Themen zu wenig Bewegung gibt, sich zu wenig ändert, zu wenig debattiert und gefordert wird, zu viel Misstrauen und Vorurteile herrschen.

Sex, Sex, Sex. In Despentes Buch geht es viel darum und doch ist kaum ein Deut davon erfreulich und damit stellt sie sich, sehr erfolgreich und bemerkenswert, wie ich finde, gegen den ewigen Strom der positivistischen Sexualbücher, Filme, und sonstigen sexualisierten Medien. Natürlich ist Sexualität, einvernehmlich und mit entsprechender Rücksichtnahme und Vorsicht gelebt, etwas sehr Schönes. Aber es wird zu wenig gesprochen über die Versäumnisse und Tabus, die es hier immer noch gibt. Und das sind eben nicht Analsex oder Fisting, Gang-Bangs, etc.

Nein, vielmehr wird zu wenig darüber gesprochen, dass Sexualität noch immer und oft viel mit Gewalt zu tun haben kann. Dass Sexualität immer noch ein Machtinstrument ist, nach dem Geld sicher das Einflussreichste. Und dass die Darstellung von Sexualität bei aller Aufgeklärtheit noch immer fadenscheinig und sehr monokulturistisch sein kann.

Despentes, um nur ein Beispiel zu nennen, spricht zum Beispiel über den weiblichen Orgasmus, der als Errungenschaft gepriesen, aber längst nicht so gelebt wird, werden kann. Denn:

Von einer Möglichkeit wurde der [weibliche] Orgasmus in einen Imperativ verkehrt.

Für eine Frau muss der Orgasmus plötzlich ein Ziel sein und sie muss zum Orgasmus kommen können, muss sich auf den Mann soweit einlassen, damit er sie zum Orgasmus bringen kann. Zwang statt Freiheit.

Despentes Buch ist ein Sammelsurium, ein Schwall, eine Tirade voller Traktate; eine vielleicht nicht immer ausgewogene, aber dennoch großartige Auseinandersetzung mit den blinden Flecken des sexualisierten Zeitalters. Wen einige der angedeuteten Themen interessieren, dem kann ich nur empfehlen, sich mit Virginie Despentes Essays auseinanderzusetzen und sich geistig mit ihnen zu messen; sie vermag es, einiges vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie hat sicher nicht immer Recht, aber sie zwingt die Leser*innen unerbittlich, sich mit der Fragilität von Sexualität auseinanderzusetzen. Denn das ist Sexualität auch: nicht nur kraftstrotzend, vital, hedonistisch, glänzend und eruptiv, sondern auch fragil, widersprüchlich, hässlich, schwierig, eigensinnig. Davor die Augen zu verschließen bringt nichts. Wir müssen miteinander darüber reden, egal wie sehr versucht wird, Normen wie Gräben zwischen uns zu ziehen.

Traditionell sollen sich Frauen und Männer nicht verstehen, verständigen und miteinander aufrichtig sein. Diese Möglichkeit ist offenbar beängstigend.

Zu Jessa Crispins “Warum ich keine Feministin bin”


warum ich keine feministin bin „Ich kann mich keinem Feminismus verbunden fühlen, der sich gedankenlos auf »Selbstermächtigung« fixiert, ohne die Unternehmenskultur restlos zerstören zu wollen, einem Feminismus, dem es genügt, für einen hohen Prozentsatz an weiblichen Vorstandsvorsitzenden und Militäroffizieren zu sorgen, aber weder intensives Nachdenken noch Unannehmlichkeiten oder echte Veränderungen verlangt. […] Wenn ich mich nicht als Feministin bezeichnen darf, ohne versichern zu müssen, dass ich weder wütend bin noch eine Bedrohung darstelle, dann ist dieser Feminismus ganz bestimmt nichts für mich.“

Jessa Crispins Buch wartet schon im Titel mit einem Widerspruch auf: „Warum ich keine Feministin bin – ein feministisches Manifest“. Dieser Widerspruch ist natürlich ein kalkulierter, der signalisieren soll: ich kritisiere zwar die Bewegung, aber ich bin keine Nestbeschmutzerin, keine Abweichlerin, mir liegt die Sache an sich schon am Herzen. Der Titel suggeriert außerdem, dass Crispin es u.a. auf Begrifflichkeiten abgesehen hat, vor allem den Begriffskomplex „Feminismus/Feministin“.

Gibt es den „einen“ Feminismus? Selbstverständlich nicht. Das ist einer von Crispings Hauptkritikpunkten: dass ihrer Ansicht nach viel zu viel Zeit damit vergeudet wird, die Grenzen dessen zu definieren, was feministisch ist, wer sich als Feministin bezeichnen darf und wer nicht. Gleichzeitig sieht sie den Feminismus als unbequeme, konstruktive, progressive Bewegung bedroht. Er wird ihrer Meinung nach aufgeweicht von allzu hipp-braven Vorstellungen, teilweise entkernt durch eine Kommerzialisierung, die ihn letztlich entradikalisiert.

Die Gefahr, so meint sie, ist, dass eine Welt entsteht, in der das Patriachat nicht abgeschafft, sondern lediglich infiltriert wird. Es wird nicht mehr das System dekonstruiert und attakiert, stattdessen werden lediglich Freiräume innerhalb des Systems geschaffen. So entsteht ihrer Meinung nach eine Welt

in der das Konzept der persönlichen Entscheidungsfreiheit den Versuch ersetzt, begreifen zu wollen, unter welchem Druck Frauen politisch und sozial stehen. […] wir müssen aufhören, Wertschätzung seitens des Patriachats zu erwarten. Wir müssen uns vielmehr eingestehen, dass Erfolge innerhalb dieses Systems verdächtig sind.

Crispin will ein Ende des Systems. Die große Schwäche ihres Buches ist, dass sie neben vielen Kritikpunkten an einigen derzeitigen feministischen Debatten und Weltanschauungen (und den Atmosphären in diesen), kaum Möglichkeiten präsentiert, wie solch ein Ende vonstattengehen soll. Ihr Buch diagnostiziert aggressiv – teilweise, finde ich, mit schiefen Vergleichen und etwas vereinfachten, teilweise pauschalen Urteilen – aber sobald es um Mittel und Wege geht, gleicht ihr Schreiben plötzlich einem pathetischen Aufruf, einem nebulösen Appell an Altruismus und Gemeinsamkeiten.

Der Fokus verschiebt sich weg von der Gesellschaft hin zum Individuum […] Ich glaube, dass das Ziel der meisten immer schon die Teilhabe am System war, nicht dessen Zerstörung.

Wobei sie ja nicht ganz Unrecht hat: das Individuum wird in den westlichen Gesellschaften derzeit so hoch im Kurs geführt, dass manche gesellschaftlichen Gefüge dadurch einer Zerreisprobe nah sind; ob das gut oder schlecht, wichtig und notwendig oder übertrieben und vermeidbar ist, kann man diskutieren. Aber es ist definitiv kein Problem, dass man einfach dem Feminismus überstreifen kann.

Generell scheint Crispin den Feminismus einerseits an seine Wurzeln erinnern zu wollen (sie kritisiert u.a. die häufig in feministischen Diskursen der dritten Welle auftretende Verdammung radikaler Autorinnen und Aktivistinnen, wie bspw. Andrea Dworkin oder Kate Millett, von deren Werken man sich distanziert oder die man für fehlgeleitet erklärt), andererseits will sie ihn zu einer universellen Bewegung machen, an deren Ende eine bessere Gesellschaft steht. Beide Ansätze haben Potenzial und könnten in einer umfassenden Studie vielleicht sogar verknüpft werden. Hier stehen sie etwas disparat.

Das Zeitalter der Dominanz muss durch ein Zeitalter der Kooperation, nicht der Spaltung abgelöst werden. Das ist nur möglich, wenn wir mit einem Gespür für die uns gemeinsamen Verpflichtungen aufeinander zugehen, nicht mit überzogenen Vorstellungen davon, was uns zusteht.

Gemeinsam und tatkräftig – so könnte man Crispins Vision zusammenfassen. Sie will keine Etappensiege, bei denen auf der einen Seite ein Sexist im Licht der Öffentlichkeit deklassiert oder auf der anderen Seite eine Frau Präsidentin wird, sie will keinen Wettkampf, sondern ein Ende des Wettkampfs. Eine Revolution, nach der alle zusammenfinden und nicht einfach nur neue Anführer*innen gewählt werden.

Während diese Vision universell ist, hatte ich zumindest den Eindruck, dass einige ihrer Kritikpunkte nicht auf der Höhe der Zeit sind (zumindest nicht in Europa, vielleicht ist der amerikanische Diskurs ein bisschen anders). Bspw. wenn sie schreibt:

Nie war der Druck so groß, ein ganzes Leben sexuell verfügbar zu bleiben. Weibliche Prominente, die ihr Figur halten und nach vielen Jahren immer noch heiß aussehen, werden als feministische Role Models gepriesen.

Ich maße mir nicht an zu glauben, dass ich weiß, wie sehr ein solcher Druck auf Frauen in heutigen europäischen Gesellschaften lastet und sicher sind Body-Shaming, Körperkult und die als Obsession suggerierte und als großer Glückshort verehrte unbedingte Fixierung auf Sexualität weiterhin problematische Züge in unseren gesellschaftlichen und kulturellen System und Konstrukten.

Aber ich habe bei den Begegnungen und Diskussionen in meinem Freund*innenkreis (und darüber hinaus) schon das Gefühl, dass viele dieser Mechanismen zwar längst nicht überwunden sind, aber durchaus durchschaut werden von vielen Menschen, auch denen, die nicht mit beiden Beinen auf feministischen (oder feministisch inspirierten) Standpunkten stehen. Bei einigen Punkten bin ich dagegen sicher, dass die meisten Feminist*innen sich dieser Problematiken durchaus bewusst sind. Beispiel:

Will man eine geeinigte feministische Front aufbauen, ist auch Folgendes Teil des Problems: Im Allgemeinen ist die Durchschnittsfeministin eine gebildete weiße Frau aus der Mittelschicht.

Ich glaube nicht, dass sich die Problematiken, die Crispin anspricht, eins zu eins auf europäische Verhältnisse übertragen lassen; andererseits kann ihr Buch nicht ganz als „amerikanisches Problem“ abgestempelt werden. Mit einigen Kritikpunkten stellt sie sich klar gegen – von ihr als virulent empfundene – Phänomene und Erscheinungen in vielen feministischen Bewegungen, zum Beispiel gegen das Gerede über alte weiße Männer:

Wenn wir jemanden abqualifizieren, weil er ein weißer alter Mann ist, sinken wir auf das Niveau von Ideologen. Wenn dieser weiße männliche Sündenbock gleichbedeutend wird mit langweilig, privilegiert und mittelmäßig, denken wir nicht mehr nach, sondern wiederholen nur noch Stereotype.

Ein Denken, das sich langsam aber sicher Scheuklappen überstülpt, so charakterisiert Crispin die Dynamiken in derzeitigen feministischen Diskursen und Zielen. Sie macht es sich an vielen Stellen etwas zu einfach und hüpft manchmal von einem Thema ins andere, argumentiert nicht immer schlüssig und stringent. Ihre Ansprüche sind groß, ihre Beobachtungen teilweise unpopulär und interessant, teilweise vorschnell und bedenklich. Und manchmal alles auf einmal:

Mit den Behinderungen, Diskriminierungen und Diffamierungen, der Gewalt und dem Schmerz, den wir erfahren haben, rechtfertigen wir, dass wir uns jetzt nehmen, was wir wollen, ohne je zu hinterfragen, warum wir es wollen.

Als kritischer Kommentar zu feministischen Diskursen ist dieses Buch sicherlich keine schlechte Lektüre, sofern man die Thesen nicht einfach schluckt, sondern hinterfragt, ja sogar dekonstruiert und/oder auf die Füße stellt. Crispins Kritik an der Kommerzialisierung, Verharmlosung und Vereinfachung feministischer Ziele ist nicht ganz unberechtigt (wobei nicht der Feminismus an sich, sondern lediglich einige Feminist*innen von dieser Kritik betroffen sind).

Vieles andere biegt sie sich zurecht. Ihr Buch ist eben kein Manifest, sondern ein Sammelsurium, eine Polemik, ein Katalog von Sachen, die sie immer schon mal sagen/kommentieren wollte, egal, ob das nun unter einen Hut passt oder nicht. Das nervt teilweise.

Es sollte noch erwähnt werden, dass sich ihr Buch vor allem an Frauen richtet. Männer, so meint sie, sollten sich um ihre eigenen Probleme kümmern und Frauen sollten sich nicht den Kopf über Männer zerbrechen, sich an ihnen abarbeiten, sondern ihre einzigartige Position und Rolle nutzen.

Heute befinden sich Frauen in einer einzigartigen Position. Wir sind halb drin. Wir befinden uns auf beiden Seiten der Dynamik zwischen Mächtigen und Machtlosen. Eigentlich müsste es ganz einfach sein, dieses Mistding zu zerstören, wenn wir nur an beiden Seiten kräftig ziehen.

Zu Margarete Stokowskis “Die letzten Tage des Patriachats”


Die letzten Tage des Patriachats Man muss schon den Hut ziehen vor Margarete Stokowski, wenn man diese gesammelten Kolumnen liest. Wie viele zentrale Themen unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verhältnismäßigkeiten darin aufgegriffen und angeschnitten, wie viele wichtige Anmerkungen zu Umgang, Perspektiven und Scheuklappen gemacht werden, wow. Und dann muss man noch einmal den Hut ziehen, wenn Stokowski hier und da durchblicken lässt, mit welcher Engstirnigkeit sie sich oft konfrontiert sieht, in Kommentaren, Zuschriften, etc., weil sie als Verfasserin dieser Kolumnen in Erscheinung tritt.

Der Band sammelt 75 von Stokowski ausgewählte Kolumnen aus den Jahren 2011-2018, die in zehn Themenkapiteln jeweils chronologisch angeordnet sind; viele von ihnen hat sie ergänzt durch Nachsätze, in denen sie Kommentare und Folgen zu den einzelnen Kolumnen schildert. Übergreifend kann man sagen, dass sie (bei Kolumnen nicht überraschend) oft einen Bezug zum Tagesgeschehen haben – aber Stokowski gelingt es fast immer, jenseits (oder eher diesseits) des Anlasses generelle Feststellungen anzubringen, Schlüsse zu ziehen, Symptome freizulegen und zu isolieren, Strukturen zu zeigen und eingespielte Problematiken zu benennen.

Ein zentrales Thema, das viele Kolumnen durchzieht, ist die Rolle von Frauen (und Minderheiten) in der Gesellschaft und ihre Stigmatisierung, die leider immer noch viele (sehr viele) Facetten und Gesichter hat.

Frauen haben immer noch weniger Geld als Männer, sie arbeiten seltener in Führungspositionen, sie erledigen die meiste Familienarbeit, und nicht wenige erleben sexualisierte Gewalt. Im Deutschen Bundestag sind im Jahr 2018 nicht mal ein Drittel der Abgeordneten Frauen. Frauen müssen in vielen Ländern für grundlegende Rechte kämpfen, und selbst dort, wo sie das nicht müssen, hören sie in den verrücktesten Situationen dämliche Kommentare über ihren Körper.

Es sollte jedoch niemand den Fehler machen, Stokowski deswegen für eine Agitatorin mit begrenzter Motivation und begrenzter Perspektive zu halten. Eins beweist sie in ihren Kolumnen mehr als einmal und ich bewundere sie enorm dafür: dass sie immer wieder gegen vereinfachte und festgesetzte, eingespielte und klischeegesteuerte Vorstellungen anschreibt und dass es ihr gelingt ihren Kolumnen (und hier setzt die Bewunderung ein) fast immer einen widerständigen, schlagfertigen Zug zu geben, eine Argumentation und Intonation aufzubauen, die sich auf knappem Raum wirkungsvoll und klug behaupten kann.
Stokowskis Texte zeigen: die Welt mag komplex sein, unübersichtlich vielleicht, aber es gibt doch sehr viel, das wir klar feststellen können, sowohl bei den Sachen, die im Argen liegen, als auch bei den Sachen, die gute Entwicklungen sind und jeden Unkenrufen trotzen können.

Bei Stokowski kann man außerdem lernen (nicht nur bei ihr, aber auch bei ihr), dass Feminismus eben nicht ein Versuch ist, Männer zu dämonisieren, unterzukriegen oder für ihr Mann-sein zu verdammen, sondern die generelle Emanzipation von Macht- und Diktionsstrukturen, sowie die längst fällige Aufhebung von zu enggezogenen Geschlechterbegriffen und Rollenbildern betreibt, zum letztendlichen Vorteil beider Geschlechter. Wie Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ schrieb:

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ungleichheit und Stigmatisierung haben, wie gesagt, noch immer viele Facetten. Großteils sind es eingefahrene, überholte, falsche Vorstellungen, gegen die sich der Versuch der Veränderung von Verhältnissen und Umgangsformen behaupten muss. Das fängt an bei der von vielen Medien geschürten und überall halbgar servierten „Angst“ (in diesem Kontext wirklich das falsche Wort), dass die Anprangerung von sexuellen Übergriffen und Sexismus, am Arbeitsplatz und anderswo, einem Verbot von Flirten und Begehren gleichkommt. Stokowski bringt die Fadenscheinigkeit dieser (und anderer) Panikmacherei auf den Punkt und schreibt am Ende:

Es gibt eine feministische Flirtregel, die man sich im Übrigen sehr leicht merken kann und die lautet [#wheaton’slaw]: Sei kein Arschloch. Fertig. That’s it. Unisex übrigens.

und an anderer Stelle:

Es ist mir ein Rätsel, wie man denken kann, irgendwas würde der Menschheit fehlen, wenn Sexismus, Belästigung und Missbrauch wegfallen.

Aber Stokowski lässt es nicht bei diesen Themen bewenden, sondern äußert sich ebenso pointiert, gewandt, kritisch und klug zu angrenzenden und anders gearteten Themenbereichen. Großartig ist ihre Kolumne zu „Germany’s next Topmodel“, die mir aus der Seele spricht; am liebsten würde ich das folgende Zitat bei ProSieben einblenden, während die Show läuft:

Die Sendung ist eine perverse, niederträchtige, menschenverachtende Geldmaschine, die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben und sich den Regeln der Jury unterwerfen, weil man als Model halt einfach auch mal machen muss, was der Kunde will.

Und sie spricht mir ebenso aus der Seele, wenn sie über die Verbindung von Sexualität und Werbung schreibt – eine Erscheinung, welche, so glaube ich, das Verhältnis zum eigenen Körper in den letzten Generationen mitunter schwer belastet hat, vom Frauenbild ganz zu schweigen und vom Männerbild, das auf dieses Frauenbild ständig anspringen soll, erst recht.

Wenn wir aber die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen können von Sex oder Erotik, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein tief sitzendes. Wenn wir denken, dass wir nicht frei sind, weil nicht überall Brüste hängen oder Frauen halbnackt über Mietwagen robben, dann ist das ein schlechtes Zeichen für unser Frauenbild.

Auch auf die feinsprachliche Ebene geht Stokowski immer wieder – bspw. in einer Kolumne über die häufige Verwendung der Wörter „Krieg“, „Kamp“, „Frontlinie“ bei der Beschreibung von Diskussionen und Auseinandersetzungen zum Thema Gender und Feminismus. Die Kolumne trägt den rotzigen Titel „Hamse jedient im Genderkrieg?“ Stokowski klagt darin die fast schon brutale, zumindest zynische Gedankenlosigkeit bei der Verwendung dieser Worte an, die für eine gewaltsame und leidvolle, verheerende Erscheinung steht und schreibt u.a.:

Sagt mal: Frontlinie, Barrikaden, Krieg – haben die alle zu viel »Star Wars« geguckt. […] Es ist nur eine Metapher, sagt ihr. Nein, es ist unbedachtes Wörterkotzen. Metaphern haben einen Sinn, sie sollen etwas klarer oder schöner sagen. Wer aber von Krieg spricht, macht es weder klarer noch schöner, der sagt nur: Guck, wie sie sich prügeln. […] Hier meine These dazu: Das ist schlecht. Es klingt nach Eskalation, aber da eskaliert nichts. Da reden Leute. […] Krieg! Und dann bringt ein Mann eine Frau um, und was wird daraus? Ein »Beziehungsdrama«. […] So viel Feinfühligkeit darf man erwarten, nicht von Krieg zu sprechen, wo kein Krieg ist, und von Mord, wo Mord ist.

Und so geht es weiter – dreihundert Seiten Schlagfertigkeit, widerständiges und reflektiertes Denken, manchmal nonchalant serviert, manchmal um die Ohren pfeifend, mal von beißendem Spott, mal von klarer Anteilnahme begleitet. Ich erwische mich beim Lesen oft dabei, dass ich mir wünsche, dass Stokowskis Artikel die durchschlagende Wirkung erzielen, die sie für mich haben; dass Germany’s Next Topmodel dichtgemacht wird und Jens Spahns himmelschreiende Aussage zu Hartz IV als der politische Selbstmord gewertet wird, als der er hätte wahrgenommen werden müssen.

Wenn es wäre, wie Spahn sagt, und man hätte mit Hartz IV wirklich alles zum Leben, dann wären die Leute, denen das Geld nicht reicht, entweder unfähig oder gierig. […] Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Voreinstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Aber daraus ergibt sich Verantwortung.

Und für Verantwortung wirbt und kämpf Margarete Stokowski in diesen Texten. Für Verantwortung und Verständnis, fürs Hinterfragen und Empathisieren, sie wirbt darum und sie verlangt danach. Sie bricht Lanzen für Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, sie zerrt Hass und Rücksichtslosigkeit, Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit hervor und stellt sie bloß. Nach dreihundert Seiten kann ich nur noch sagen: Wir können froh sein, eine Stimme und eine Essayistin wie Margarete Stokowski zu haben. Sie hat zumindest mir dabei geholfen weiter zu denken als bisher, vielschichtiger mitzuempfinden, genauer hinzusehen. Wenn ein Buch das leistet, dann ist es ein verdammt gutes Buch.

Zu “100 Seiten – Emanzipation” von Katrin Rönicke


Emanzipation „Ja, das Ende des Mittelalters, die Reformation, der Beginn des Kapitalismus und die Demokratie haben viele äußere Zwänge abgeschafft – aber bei genauerem Hinsehen bringen sowohl die Neuzeit als auch der Kapitalismus und die Demokratie neue Formen von Ungleichheit und Diskriminierung mit sich“

Die Emanzipation rückt das menschliche Individuum und seine individuellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt und wendet sich gegen die Hoheit und das Diktum einer bestimmten Klasse, Ethnie, eines bestimmten Geschlechtes oder einer bestimmten Weltanschauung.

Emanzipation bedeutet wörtlich die „Entlassung aus der väterlichen Gewalt“, wobei man wohl eher von der „Befreiung aus“ sprechen müsste, denn selten wurden Menschen aus dieser väterlichen Gewalt freiwillig „entlassen“. Egal ob es um Frauen, Sklaven und Sklavinnen, Anhänger*innen von Religionen oder anderen Gruppen von unterdrückten, stigmatisierten und diskriminierten Menschen ging – fast immer war Emanzipation ein Akt, der von ihnen ausging und nicht von einer herrschenden Macht ermöglicht wurde.

Und als eine solche Bewegung, ein solcher Zug zum Ungehorsam und zur Befreiung, wird Emanzipation auch nie aus der Mode kommen; jede Emanzipation, die von herrschenden Kräften vorangetrieben wird, sollte dagegen genauestens darauf abgeklopft werden, ob sie überhaupt emanzipatorisch ist oder nur als Freiheit verkauft werden soll, aber eigentlich im gewissen Sinne versklavt, Unfreiheit und Ungleichheit fördert.

„Menschen ringen nicht nur um die Emanzipation und den Fortschritt, sondern auch um Macht und Privilegien. Das eine kann dem anderen im Weg stehen.“

Katrin Rönicke hat in der 100 Seiten Reihe von Reclam eine wirklich fabelhaft vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema gewagt, zusammengesetzt aus einer Einführung, der anschließenden Konzentration auf verschiedene Schwerpunkte menschlicher Emanzipation in den letzten fünfhundert, vor allem aber den letzten hundert Jahren und außerdem Interviews (das erste mit Matthias von Hellfeld und das zweite mit Sineb El Masrar), biographischen Abrissen, Begriffserläuterungen.

Das Buch zeigt und begreift Emanzipation als Prozess und nicht als einmalige Tat. Es erzählt des Weiteren nicht einfach nur ein Märchen über Fortschritt, Liebe zur Freiheit und großen Errungenschaften, sondern zeigt die Schwierigkeiten in den Emanzipationsprozessen, in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. Zur Wahrheit gehört zum Beispiel auch, dass über lange Zeit Emanzipationsbewegungen nicht allen Menschen zugutekamen, meist nur den Männern, oft nur weißen Menschen; immer blieb irgendwer von neu erworbenen Privilegien aufgeschlossen. Eben deshalb sind die meisten Emanzipationsprozesse, die in dem Buch genauer in Augenschein genommen werden, noch längst nicht abgeschlossen.

Rönicke legt in ihrem Text Schicht für Schicht das Thema frei, beginnend bei der Historie, über die Befreiungskämpfe von Schwarzen und Frauen, endend bei der Digitalisierung; am Ende hat man eine umfassenden Eindruck davon, wo Emanzipation überall stattfindet – und stattfinden sollte. Zwischendurch geht sie auch sehr gut auf den Backlash-Effekt ein, also restaurative und regressive Prozesse (wie wir sie auch gerade in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft erleben).

Überhaupt beschreibt sie vieles überraschend einfühlsam (aber nicht gefühlig), was eine zusätzliche Stärke des Buches ist: einem wird das Thema nicht einfach hingeblättert, sondern nahegebracht.

Fazit: ein solches Thema kann nicht auf 100 Seiten ausgeschöpft werden, aber trotzdem deckt das Buch sehr viel ab, vor allem sehr viel Reflexives; und da hinten sogar einen Liste mit Lektüretipps enthalten ist (die ich ergänzen will um die Bücher von Margarete Stokowski, Ta-Nehisi Coates, Rebecca Solnit und Jessica Crispin), kann man das Buch auch als Ausgangpunkt sehen, als Anstoß. Viel ist schon passiert, aber vieles ist noch zu tun, im Großen, aber auch im Kleinen, wie Rönicke richtig anmerkt:

„wir brauchen noch immer viel Mut, wenn wir das Studium schmeißen, den Vater unserer Kinder verlassen, den Twitteraccount löschen oder den Job an den Nagel hängen wollen.“

 

Zu dem Band “Suchers Welt – Literatur, 49 leidenschaftliche Empfehlungen”


Suchers Welt, Literatur Ich frage mich, ob es noch andere Leute gibt, die diese Art von Empfehlungsbüchern in großer Anzahl kaufen und lesen; ich jedenfalls habe ein Faible dafür. Vielleicht, weil ich Begeisterung mag, vielleicht, weil man in jedem dieser Bücher mindestens eine Entdeckung macht (sonst taugen sie nichts) oder vielleicht, weil sie einem immer wieder längst bekannte Werke nahelegen; manchmal so überzeugend, dass man sie direkt im Anschluss zur Hand nehmen will.

C. Bernd Suchers neunundvierzig Empfehlungen beherbergen allerhand Bekanntes, viel Erfreuliches und ein paar ungewöhnliche (und mitunter ebenfalls erfreuliche) Spezialitäten. Die Texte zu den einzelnen Büchern füllen 3-4 Seiten und haben leicht unterschiedliche Gewichtungen (auch je nachdem, welches Genre der Text hat), verlaufen dennoch meist auf ähnliche Weise.

Zu Anfang erzählt Sucher in der Regel, wie er mit dem Buch oder dem Autor in Berührung kam, gibt eine kurze Auskunft über den Inhalt und/oder den Verfasser. Im weiteren Verlauf schildert er dann, was er aus dem Buch für Erkenntnisse gewonnen hat, zitiert und verknüpft es nicht selten mit seiner eigenen Entwicklung. Leidenschaftlich sind diese Empfehlungen tatsächlich, dennoch auch behutsam und filigran, manchmal etwas beliebig, aber mit einem Zug zum Wesentlichen.

Ärgerlich ist allerdings eine Bemerkung aus dem Vorwort: „Dass unter den 49 nur zwei Autorinnen sind, beweist keineswegs eine misogyne Haltung. Allein, ich kann mit vielen, vor allem zeitgenössischen Autorinnen nicht allzu viel anfangen. Da ich aber nicht den Ehrgeiz habe, politisch korrekt zu lavieren, sondern wirklich nur jene Bücher nennen möchte, die ich auf jede unbewohnte Insel mitnehmen würde, sind eben nur die zwei geblieben.“

Diese halbseidene Rechtfertigung hätte mir fast das ganze Buch vermiest. Entweder man hinterfragt als Autor(*in) eines solchen Buches seine Lesegewohnheiten und handelt entsprechend oder man lässt es bleiben und setzt sich der rechtmäßigen Kritik an seiner Sammlung aus. Sich aber präventiv dazu zu äußern und so zu tun, als würden sämtliche Vorwürfe von vorneherein nicht zutreffen (weil: eh bemerkt, aber halt Geschmack, etc., da kann man nichts machen), das wirkt etwas armselig.

Auch an anderen Stellen beweist Sucher wenig Taktgefühl, zum Beispiel, wenn er das teilweise erniedrigende Frauenbild in James Joyce‘ „Ulysses“ schlicht zum Bereich der notwendigen Grenzüberschreitungen zählt, es zum Tabubruch stilisiert. „Ulysses“ ist in vielerlei Hinsicht ein tolles, innovatives Werk und Sucher schafft es, viele Vorzüge gut herauszuarbeiten. Aber man sollte auch als begeisterter Freund eines Werkes, nicht blind für dessen Fehler und Zeitgeisterscheinungen sein oder sie retuschieren, wegerklären.

Auf jeden Fall sollte man derlei nicht in Nebenbemerkungen verhandeln, sondern umfassender Stellung zu den Themen beziehen oder es gleich bleiben lassen. Es wirkt sonst, als wäre das ganze Thema für den Autor nur eine Lappalie, was ich nicht glaube. In seinem Text zu „Malina“ setzt sich Sucher jedenfalls sehr viel genauer und sensibler mit dem Stoff auseinander und weist vortrefflich nach, warum „Malina“ auch ein Buch über die Gewalt ist, die Männer an Frauen verüben. Solcherlei versöhnt, macht die anderen Schnitzer aber nicht wett.

Man kann in diesem Buch viele Entdeckungen machen und wer eine breite Palette erwartet, wird nicht enttäuscht werden. Es finden sich zwar keine Werke jüngeren Datums (nach 1970), aber die Spannweite ist ansonsten groß und reicht von Dantes „Die göttliche Komödie“ über Hans Henny Jahnns „Perrudja“ bis zu Pasolinis „Raggazi di vita“.

Überhaupt sei das Buch besonders denen ans Herz gelegt, die sich für Literatur interessieren, die homosexuelle Aspekte und Geschichten beinhaltet und behandelt – hier präsentiert Sucher ein paar wunderbare Beispiele und wagt sich unter anderem an eine Auseinandersetzung mit Shakespeares Sonetten.

Zu den Schriften von Olympe de Gouges in “Die Rechte der Frau und andere Texte”


Die Rechte der Frau Olympe de Gouges (mit bürgerlichem Namen Marie Gouze) war eine Theaterautorin der Aufklärung und Feministin der ersten Stunde, die sich in den bewegten Zeiten vor und während der französischen Revolution für die Gleichheit aller Menschen (sowohl in Bezug auf Frauen als auch auf afroamerikanische Sklaven) einsetzte.

In dieser kleinen Edition ihrer Texte im Reclam Verlag wurden vier Texte versammelt. Den Anfang machen die „Réflexions sur les hommes Nègres“. Darin setzt sich de Gouges mit der Kritik an ihrem Theaterstück „Zamore et Miza“ (ein Stück über die Konsequenzen der Sklaverei am Beispiel zweier Sklaven) auseinander, begründet ihre Aversionen gegenüber der Sklaverei und verleiht ihrer Überzeugung Ausdruck, dass eine Befreiung und Gleichberechtigung der Sklaven*innen die einzig vernünftige und richtige Handlung darstellt.

Sie beschreibt, wie sie schon früh an der Sklaverei zu zweifeln begann und wie ihr die Verdammung aufgrund der Hautfarbe stets unsinnig erschien; ihre Mitmenschen beantworteten ihre Zweifel mit pauschaler Rassenlogik.

Doch als ich älter wurde, erkannte ich sehr deutlich, dass es Gewalt und Vorurteil waren, die sie zu dieser schrecklichen Sklaverei verdammt hatten, dass die Natur hieran keinen Anteil hatte, und alles nur auf das ungerechte und mächtige Interesse der Weißen zurückzuführen war. […] Ein Handel mit Menschen! … Gütiger Gott! Dass die Natur nicht erzittert! Wenn sie Tiere sind, sind wir es nicht ebenso wie sie?

Der zweite Text „Ein nützliches und heilsames Projekt“ beschäftigt sich mit dem Theater in der Revolutionszeit und ist außerdem ein Aufruf zur Einrichtung von Frauenhäusern. De Gouges beklagt, dass, obgleich es zahlreiche Einrichtungen für Kriegsversehrte und andere Gruppen gibt, keine Einrichtungen allein für Frauen, vor allem für Schwangere, zur Verfügung stehen, in denen Sauberkeit und professionelle Betreuung eine Geburt ermöglichen, die für die Frau nicht das hohe Risiko des Kindbetttods bereithält. Es ist, über diesen konkreten Vorschlag hinaus, generell ein Aufruf zur Würdigung des gesellschaftlichen Beitrags der Frau und zur Beschäftigung mit ihrer Lage.

Oh, Bürger! Oh, Monarch! Oh, meine Nation! Möge meine schwache Stimme im Grunde eurer Herzen wiederhallen! Möge sie euch dazu bewegen, das bedauerliche Schicksal der Frauen anzuerkennen. […] Welche zahllosen Schmerzen erleiden die jungen Damen, bis sie heiratsfähig sind? Welche furchtbaren Qualen empfinden die Frauen, wenn sie Mütter werden? Und wie viele von ihnen verlieren dabei ihr Leben […] oft sieht man junge Frauen, die, nachdem sie Tag und Nacht unter heftigen Schmerzen gelitten haben, in den Armen ihrer Geburtshelfer verscheiden, um im Sterben Männern das Leben zu schenken, von denen sich bis zu diesem Augenblick niemand ernsthaft darum bemüht hat, auch nur das geringste Interesse an diesem allzu unglücklichen Geschlecht zu bekunden, für all die Qualen, die sie ihm verursacht haben.

Der zentrale und längste Text der Sammlung ist die Schrift „Die Rechte der Frau“, der ein Brief an Marie Antoinette vorangestellt ist (mit der Bitte, nicht gegen das französische Volk zu konspirieren und sich lieber für die Rechte der Frauen einzusetzen) und die sowohl einen Rechtekatalog, als auch den Entwurf eines Gesellschaftsvertrages zwischen Mann und Frau beinhaltet.

In den Rechten heißt im Artikel 1:

Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.

Abschließender Text ist de Gouges politisches Testament, in dem sie ihre wichtigsten Überzeugungen noch einmal festhält, geschrieben im Juli 1793, wenige Monate vor ihrem Tod durch die Guillotine.

Es fehlt mir schwer, das Buch zu bewerten. Natürlich ist es ungemein wichtig, eine Vorläuferin und Initiatorin wie Olympe de Gouges zu ehren und ihrem Namen und ihren Schriften den Platz in der Geschichte zu geben, der ihnen gebührt. Und sieht man sie in ihrer Zeit, sind diese Schriften allesamt auf gewisse Weise bahnbrechend.

Trotzdem möchte ich eine Warnung an jene Leute aussprechen, die sich von diesen Texten möglicherweise zu viel erhoffen. Es sind wichtige Dokumente, die starke Gedanken enthalten, sie sind aber ansonsten nicht ganz so gut gealtert. Das mag allerdings auch daran liegen, dass sie innerhalb von historisch-brisanten Kontexten entstanden sind und sowohl das Zeitgeschehen, als auch allgemeine Themen in einem Zusammenhang verhandeln wollten. Diese Verbindung hat ja durchaus etwas Reizvolles, aber die Leser*innen unserer Tage müssen sich das Allgemeine halt aus dem Historischen herauspicken.

Das Nachwort von Margarete Stokowski ist hier eine Hilfe, denn es bringt das Wesentliche und Wichtige in De Gouges Biographie und Werken auf den Punkt, ohne falschen Flair. Als Denkerin sollte De Gouges in jedem Fall allen ein Begriff sein und es schadet sicher nicht, sich mit ihr und ihren Schriften auseinanderzusetzen. Einige ihrer Rufe hallen nach bis in unsere Tage.

Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt; du wirst ihr wenigstens dieses Recht nicht nehmen. Sag mir, wer hat dir die souveräne Herrschaft verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?

Zu “Sechs Stücke” von Dea Loher


Sechs Stücke Seit beinahe zwanzig Jahren gilt Dea Loher (neben Felicia Zeller, Kerstin Specht, Nino Haratischwili, der Altmeisterin Elfriede Jelinek u.a.) als eine der wichtigsten Theaterautorinnen des deutschsprachigen Raums; 2017 bekam sie den hochdotierten Joseph-Breitbach-Preis.

Der Wallstein Verlag, bei dem die Romane und Erzählungen von Loher erscheinen, hat nun einen Sammelband mit ihren Stücken herausgebracht. Namentlich vereint dieser die Stücke „Adams Geist“, „Blaubart – Hoffnung der Frauen“, „Unschuld“, „Das Leben auf der Praca Roosevelt“, „Das letzte Feuer“ und „Diebe“. Nicht vertreten sind also die ganz frühen Stücke, die aber in einem Band beim Verlag der Autoren verfügbar sind („Olgas Raum / Tätowierung / Leviathan“) und die Aktuellsten, was ebenfalls verständlich ist.

Theaterstücke sind leider selten eine gern genommene Lektüre, was vielerlei Ursachen hat. Zum einen sicherlich die landläufige Meinung, der Text sei zum Aufführen und nicht zum Lesen geschrieben worden; auch die Erinnerungen aus der Schulzeit werden vielen im Weg stehen und sie daran hindern, freiwillig zu dieser Form von Literatur zu greifen.

Dabei haben Theatertexte oft so viel zu bieten. Die sprachliche Gewandtheit, Komplexität und Tiefe eines William Shakespeare erreicht kaum eine Lyrik, so amüsant und gleichsam hintersinnig wie Dürrenmatts Dramen sind wenige Gesellschaftsromane, beim Abklopfen des Zeitgeistes mit Sprache haben Jelineks Stücke dem Feuilleton oft einiges voraus. Um zu Dea Loher zu kommen: Ihre Stücke wiederum schildern das zerbrechliche Dasein in manchen Momenten besser als eine oscarreife Darbietung im Film.

Es ist ein bisschen schade, dass das Vorwort nicht darlegt, warum genau diese Stückauswahl getroffen wurde. Die Palette beeindruckt und besticht jedoch trotzdem. Loher arbeitet gut mit dem chorischen Aspekt der dramatischen Gattung, ihre Sprache ist dabei ungeheuer wandelbar, zerfasert im einen Moment und rafft im anderen. Behände betreibt sie immer wieder den Einbruch der Wirklichkeit in die Traumlandschaften des Theaters. Als Figuren hat sie gern Außenseiter*innen, geprellte und verhärmte Existenzen. Sie verleiht ihnen eine Stimme, hebt sie aber auch nicht auf ein zu hohes Podest, sondern hält sie dort, wo sie wirklich über sich und ihre Lage sprechen können. Die Konflikte und Schicksale ihrer Figuren wirken absehbar und doch wird ihre Schilderung zum eindrücklich-stimmigen Erlebnis. Impression und Expression verschmelzen in ihren Texten (wie in vielen guten Theatertext), fließen ineinander.

Man müsste jedes Stück einzeln unter die Lupe nehmen, um noch mehr zu sagen. Wer auf der Suche nach zeitgenössischen, teilweise gekonnt, aber nicht militant progressiven Theatertexten ist, der sollte einen Blick auf Dea Loher werfen.

Zum Film “The red pill”


The red pill Nur selten geschieht es in Zeiten, die ihren Fokus und ihre Dynamiken so sehr auf Extreme verlagert haben wie unsere – zusätzlich forciert von Faktoren wie Sensation und Unterhaltung –, dass man eine wirklich differenzierte Studie zu sehen/zu lesen bekommt. Kontroversen sind heute meist ein Euphemismus für den Austausch von Beleidigungen; im besten Fall sind es Gefechte, in denen die Fronten so klar gezogen sind, dass man sich auch klar positionieren muss, ansonsten nimmt man nicht teil. Kontroversen, die Weltsichten tatsächlich infrage stellen und nicht dazu führen, sie zu verhärten, gibt es kaum noch; Kontroversen, die Erschütterungen sind, Anregungen; die Gebiete sind, in denen man sich nicht sofort positionieren kann oder sich in vielen Positionen wiederfindet.

Der Film der amerikanischen Filmemacherin Cassie Jaye enthält genügend Stoff für eine solche produktive Form der Kontroverse.

Worum geht es in „The red pill“?
Die zuvor vor allem in feministischen Kreisen tätige Filmregisseurin Jaye stößt im Zuge einer Recherche auf die Website von men‘s-right-Aktivist*innen. Fasziniert von dieser, ihrem feministischen Weltbild scheinbar diametral gegenüberstehenden Bewegung, will sich ein genaueres Bild machen: wie ticken diese Menschen, die davon überzeugt sind, dass Männerrechte nicht genug gewürdigt werden. Sie besucht einige Aktivist*innen, führt Gespräche mit ihnen, hört sich an, was sie bewegt und wie sie dazu kamen, Männerrechtsbewegungen zu gründen – und dokumentiert alles mit der Kamera, schneidet zusätzlich Live-Berichterstattungen, Bilder, Atmosphärisches mit ein. Sie besucht auch Feminist*innen, Genderaktivist*innen und -forscher*innen und hört sich ihre Meinungen zu den Motivationen und Aussagen der Männerrechtsbewegung an. Bald beginnt sie zwischen all den Motivationen und Kritikpunkten die Orientierung zu verlieren – und stellt sich selbst ungewohnte Fragen: inwiefern kann Feminismus als Ideologie gesehen werden? Was lässt man außen vor, wenn man die Männerrechtsbewegung und ihre Themen ignoriert? Zwischen diesen Fragen und ihren eigenen Überzeugungen werfen sich Grauzonen auf …

Direkt vorweg: man darf sich die Aktivist*innen der men‘s-right-Bewegungen nicht wie Al Bundys „No Ma’am“-Männer-Haufen, eine Gruppe Stammtisch-Misogyniker oder eine Horde Machotypen, Verherrlicher von männlichen Tugenden vorstellen. Sie proklamieren (in der Mehrzahl) nicht, dass Männer ihre Männlichkeit wiederfinden/darauf stolz sein sollen oder etwas in der Richtung, noch sind sie eine schlichte Kontrabewegung, deren Ziel die Aufweichung von feministischen Aussagen und Ideen ist. Es sind Aktivist*innen, denen es darum geht, die andere Seite sichtbar zu machen. Es sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die sich in Feldern bewegen, in denen Männerrechte nach wie vor vernachlässigt werden und die, von ihrer Warte aus, mit einer Gesellschaft ringen, in der zu wenig Räume für eine differenzierte Betrachtung von Männern als Opfer, als Leidtragende, als des Mitgefühls für wert erachtete Individuen existieren.

Mir ist bewusst, dass das alles erstmal empörend klingt. Warum beschweren sich diese Menschen – von denen man weiß (oder annimmt?), dass sie auf Grund ihres Geschlechts zu den Privilegierten zu zählen sind – über irgendetwas, das sie betrifft, während sie sich für die Rechte von Menschen einsetzen könnten, die über Jahrhunderte unterdrückt wurden und nicht die Rechte und Privilegien besaßen, die Männer aufgrund ihres Geschlechts seit jeher hatten (teilweise wohlgemerkt nur, wenn sie in die richtigen Verhältnisse hineingeboren wurden)? Im Großen und Ganzen ist diese Empörung natürlich berechtigt. Aber wie sieht es auf der Mikroebene aus? Wie, wenn man den Blick auf einen bestimmten Aspekt wirft?

Männer, die dasselbe Verbrechen begangen haben, bekommen bis zu 60% längere Gefängnisstrafen als Frauen (in den vereinigten Staaten, in Europa gibt es keine Studien zu dem Thema, zumindest habe ich keine gefunden). In Sachen Vaterschaftsrecht und Mutterschaftsrecht gibt es gravierende Diskrepanzen (was, wiederum, teilweise auf patriarchale Denkweisen zurückzuführen ist). Männer verrichten nach wie vor einen Großteil der schweren Arbeiten und 97% der Arbeitstodesfälle in den Vereinigten Staaten entfallen auf Männer (in der EU entfallen 66% der nichttödlichen Arbeitsunfälle auf Männer) (auch hier ist natürlich die hohe Zahl teilweise auf die männliche Vormachtstellung in diesen Berufen zurückzuführen; aber würde sich, wenn sich das ändern würde, wirklich eine große Anzahl Frauen dazu entscheiden in Bergwerken zu arbeiten, auf dem Bau oder auf Ölplattform? Zurecht haben die feministischen Bewegungen früh für einen Zugang zu höherer Bildung, höheren Posten in Unternehmen und gleiche Gehälter gekämpft, eine Forderung, der man sich nur anschließen kann und die unbestritten umgesetzt werden muss. Aber wie steht es mit der Beteiligung an den gefährlichen Arbeiten? Gehören sie gewürdigt, gehört auch hier die Gleichberechtigung, zugunsten der Männer, umgesetzt?)

Ich glaube nicht, dass diese Themen in irgendeiner Weise mehr oder dringendere Beschäftigung verdienen als andere. Sie sind nicht komplett aus der Luft gegriffen, das ist alles. Und ich glaube, dass es wichtig ist, auf sie einzugehen, denn wenn wir über neue Formen von reflektierter Männlichkeit diskutieren und ihnen den Weg bereiten wollen, dann werden diese Aspekte eine Rolle spielen. Wenn Männer als Opfer nicht wahrgenommen werden, wenn ihnen dieser Status kategorisch abgesprochen wird oder als zweitrangig gewertet wird, dann wird das den Prozess eines solchen Diskurses, eines Neudenkens hemmen. Ich will gar nicht leugnen, dass es trotzdem schwerfällt, den Gedanken der Unverhältnismäßigkeit im Hinblick auf diese Vergleiche und Forderungen, auf die ganze Idee von Männerrechtsbewegungen, auszublenden. Ich glaube, er sollte auch nicht ausgeblendet werden, denn er ist berechtigt; aber er berechtigt nicht dazu, diese Bewegungen wiederum als unberechtigt oder nicht erwähnenswert zu betrachten.

Viele werden jetzt sagen: da hab ich eh nichts dagegen und der Feminismus hat sicher auch nichts dagegen. Das stimmt. Es gibt Überschneidungspunkte zwischen den Männerrechtsbewegungen und den Frauenrechtsbewegungen – beide wollen Gleichberechtigung und haben natürlicherweise jeweils jene Themen, bei denen dies für ihre Seite noch nicht erreicht ist, mehr auf dem Zettel als jene, bei denen sie in der privilegierten Position sind. Wer das Privileg innehat, kann sich leisten zu leugnen, dass es ein solches gibt, um Carolin Emcke zu paraphrasieren. Der Film zeigt auf, wo die blinden Flecken in einer ansonsten richtigen Denkweise liegen könnten; diese Flecken, einmal entdeckt, entstellen die Denkweise nicht; aber sie entstellen sie möglicherweise, wenn man sie nicht entdeckt.

Ja, der Film spielt in Amerika und ist auf europäische Verhältnisse nur bedingt anwendbar; überhaupt ist er vermutlich gar nicht auf irgendwelche Verhältnisse anwendbar. Er stürzt keine gesellschaftlichen Paradigmen, bringt keine revolutionäre Ideen an den Mann/die Frau, auch wenn manche Redner*innen dies implizieren. Aber er verschafft eine breitere Perspektive, beleuchtet Ränder, erweitert ohne Frage das Spektrum.

Letztlich war ich am Ende, nach viel Widerstand und viel Unbehagen, noch mehr von meiner feministischen Perspektive überzeugt – aber ebenso davon, dass sie modifiziert gehört. 90% der Morde in der Welt werden von Männern begangen – es gibt ganz klar einen engeren Zusammenhang zwischen tödlicher Gewalt und dem männlichen Geschlecht. 1 von 3 Frauen erfährt in intimen Beziehungen regelmäßig Gewalt, man(n) kann es nicht oft genug sagen. Aber ich hätte vor diesem Film nicht gewusst, dass 1 von 4 Männern ebenfalls in intimen Beziehungen Gewalt erfährt. Gewalt ist kein rein männliches Phänomen und sollte nicht als ein solches bezeichnet und besetzt werden, auch wenn seine offensichtlichsten Auswüchse meist männlich geprägt sind und zu dieser Sicht verleiten (diese Auswüchse sollen auch nicht kaschiert werden). Und ja, es gibt viele Männer in Machtposition, die ihre Macht zu Unterdrückung von Frauen missbrauchen; trotzdem berechtigt das nicht zu allgemeinen Aussagen über Männer, was Macht und Gewalt angeht. Eine männliche Geste, die einem missfällt, sollte, auch wenn wir uns in patriarchalen Strukturen befinden, nicht automatisch als Machtgeste gedeutet werden. Wir alle sind Ausdruck der Strukturen, in denen wir uns bewegen – aber genauso Ausdruck unser selbst. Diese Unterscheidung zu vergessen oder gar aufzuheben wäre fatal.

„The red pill“ ist von einigen Stellen als Propaganda-Film bezeichnet und ihm ist vieles vorgeworfen worden, einiges davon zu Unrecht (und wohl ohne die genaue Kenntnis des Inhalts), so wie manches, das in Teilen durchaus greift (bspw. ist ein Teil des Einstiegs durchaus heftig und sehr problematisch und viel zu lang, bis fast zum Schluss, bleibt der Hintergrund unaufgelöst). Es liegt mir auch fern, die darin geäußerten Meinungen allesamt als gut zu bezeichnen oder ihnen zuzustimmen (es gibt auch hier Meinungen, die einfach an jeglichem vernünftigen Diskurs vorbeigehen, Argumente, die einfach nicht ins Gewicht fallen, Themen wie rape-culture, die zwar angeschnitten, aber nicht integriert werden). Aber in der Art wie dieser Film Menschen unterschiedlichster Hintergründe und Motivationen zu Wort kommen lässt und sich nicht auf die polemischen, sondern die produktiven Aussagen und Ideen konzentriert und sie verfolgt, in seiner Art, die Dinge und Stimmen einfach zu zeigen, leistet er etwas, das ich schon lange nicht mehr erlebt habe: er diktiert keine Sicht, er wirft die Zuschauer*innen ultimativ auf sich selbst zurück. Und zwingt sie dazu, sich mit den eigenen Ansichten – die vielleicht teilweise im Gehirn nur noch reproduziert, aber nicht mehr mit Umsicht zusammengesetzt werden – auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung mag letztlich wiederum dazu führen, dass man viele der im Film geäußerten Meinungen als verfehlt betrachtet, Positionen findet und definieren kann, von denen aus sie angreifbar sind. Aber die Auseinandersetzungen mit den eigenen Überzeugungen schaden nie – und dazu lädt dieser Film auf vielschichtige Weise ein. Und allein deshalb ist er sehenswert. Weil er hadert, weil er sich vielem aussetzt. Wie schrieb eine kanadische Autorin unlängst: „Wir müssen aufhören, Kunstwerke nur danach zu bewerten, ob man ihnen zustimmen kann oder nicht. Wenn es je einen Holzweg gab, dann ist es dieser. Die Frage ist nicht, wie wir sie bewerten, was also wir mit ihnen machen. Sondern wie sie auf uns wirken.“