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Zu Margarete Stokowskis “Die letzten Tage des Patriachats”


Die letzten Tage des Patriachats Man muss schon den Hut ziehen vor Margarete Stokowski, wenn man diese gesammelten Kolumnen liest. Wie viele zentrale Themen unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verhältnismäßigkeiten darin aufgegriffen und angeschnitten, wie viele wichtige Anmerkungen zu Umgang, Perspektiven und Scheuklappen gemacht werden, wow. Und dann muss man noch einmal den Hut ziehen, wenn Stokowski hier und da durchblicken lässt, mit welcher Engstirnigkeit sie sich oft konfrontiert sieht, in Kommentaren, Zuschriften, etc., weil sie als Verfasserin dieser Kolumnen in Erscheinung tritt.

Der Band sammelt 75 von Stokowski ausgewählte Kolumnen aus den Jahren 2011-2018, die in zehn Themenkapiteln jeweils chronologisch angeordnet sind; viele von ihnen hat sie ergänzt durch Nachsätze, in denen sie Kommentare und Folgen zu den einzelnen Kolumnen schildert. Übergreifend kann man sagen, dass sie (bei Kolumnen nicht überraschend) oft einen Bezug zum Tagesgeschehen haben – aber Stokowski gelingt es fast immer, jenseits (oder eher diesseits) des Anlasses generelle Feststellungen anzubringen, Schlüsse zu ziehen, Symptome freizulegen und zu isolieren, Strukturen zu zeigen und eingespielte Problematiken zu benennen.

Ein zentrales Thema, das viele Kolumnen durchzieht, ist die Rolle von Frauen (und Minderheiten) in der Gesellschaft und ihre Stigmatisierung, die leider immer noch viele (sehr viele) Facetten und Gesichter hat.

Frauen haben immer noch weniger Geld als Männer, sie arbeiten seltener in Führungspositionen, sie erledigen die meiste Familienarbeit, und nicht wenige erleben sexualisierte Gewalt. Im Deutschen Bundestag sind im Jahr 2018 nicht mal ein Drittel der Abgeordneten Frauen. Frauen müssen in vielen Ländern für grundlegende Rechte kämpfen, und selbst dort, wo sie das nicht müssen, hören sie in den verrücktesten Situationen dämliche Kommentare über ihren Körper.

Es sollte jedoch niemand den Fehler machen, Stokowski deswegen für eine Agitatorin mit begrenzter Motivation und begrenzter Perspektive zu halten. Eins beweist sie in ihren Kolumnen mehr als einmal und ich bewundere sie enorm dafür: dass sie immer wieder gegen vereinfachte und festgesetzte, eingespielte und klischeegesteuerte Vorstellungen anschreibt und dass es ihr gelingt ihren Kolumnen (und hier setzt die Bewunderung ein) fast immer einen widerständigen, schlagfertigen Zug zu geben, eine Argumentation und Intonation aufzubauen, die sich auf knappem Raum wirkungsvoll und klug behaupten kann.
Stokowskis Texte zeigen: die Welt mag komplex sein, unübersichtlich vielleicht, aber es gibt doch sehr viel, das wir klar feststellen können, sowohl bei den Sachen, die im Argen liegen, als auch bei den Sachen, die gute Entwicklungen sind und jeden Unkenrufen trotzen können.

Bei Stokowski kann man außerdem lernen (nicht nur bei ihr, aber auch bei ihr), dass Feminismus eben nicht ein Versuch ist, Männer zu dämonisieren, unterzukriegen oder für ihr Mann-sein zu verdammen, sondern die generelle Emanzipation von Macht- und Diktionsstrukturen, sowie die längst fällige Aufhebung von zu enggezogenen Geschlechterbegriffen und Rollenbildern betreibt, zum letztendlichen Vorteil beider Geschlechter. Wie Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ schrieb:

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ungleichheit und Stigmatisierung haben, wie gesagt, noch immer viele Facetten. Großteils sind es eingefahrene, überholte, falsche Vorstellungen, gegen die sich der Versuch der Veränderung von Verhältnissen und Umgangsformen behaupten muss. Das fängt an bei der von vielen Medien geschürten und überall halbgar servierten „Angst“ (in diesem Kontext wirklich das falsche Wort), dass die Anprangerung von sexuellen Übergriffen und Sexismus, am Arbeitsplatz und anderswo, einem Verbot von Flirten und Begehren gleichkommt. Stokowski bringt die Fadenscheinigkeit dieser (und anderer) Panikmacherei auf den Punkt und schreibt am Ende:

Es gibt eine feministische Flirtregel, die man sich im Übrigen sehr leicht merken kann und die lautet [#wheaton’slaw]: Sei kein Arschloch. Fertig. That’s it. Unisex übrigens.

und an anderer Stelle:

Es ist mir ein Rätsel, wie man denken kann, irgendwas würde der Menschheit fehlen, wenn Sexismus, Belästigung und Missbrauch wegfallen.

Aber Stokowski lässt es nicht bei diesen Themen bewenden, sondern äußert sich ebenso pointiert, gewandt, kritisch und klug zu angrenzenden und anders gearteten Themenbereichen. Großartig ist ihre Kolumne zu „Germany’s next Topmodel“, die mir aus der Seele spricht; am liebsten würde ich das folgende Zitat bei ProSieben einblenden, während die Show läuft:

Die Sendung ist eine perverse, niederträchtige, menschenverachtende Geldmaschine, die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben und sich den Regeln der Jury unterwerfen, weil man als Model halt einfach auch mal machen muss, was der Kunde will.

Und sie spricht mir ebenso aus der Seele, wenn sie über die Verbindung von Sexualität und Werbung schreibt – eine Erscheinung, welche, so glaube ich, das Verhältnis zum eigenen Körper in den letzten Generationen mitunter schwer belastet hat, vom Frauenbild ganz zu schweigen und vom Männerbild, das auf dieses Frauenbild ständig anspringen soll, erst recht.

Wenn wir aber die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen können von Sex oder Erotik, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein tief sitzendes. Wenn wir denken, dass wir nicht frei sind, weil nicht überall Brüste hängen oder Frauen halbnackt über Mietwagen robben, dann ist das ein schlechtes Zeichen für unser Frauenbild.

Auch auf die feinsprachliche Ebene geht Stokowski immer wieder – bspw. in einer Kolumne über die häufige Verwendung der Wörter „Krieg“, „Kamp“, „Frontlinie“ bei der Beschreibung von Diskussionen und Auseinandersetzungen zum Thema Gender und Feminismus. Die Kolumne trägt den rotzigen Titel „Hamse jedient im Genderkrieg?“ Stokowski klagt darin die fast schon brutale, zumindest zynische Gedankenlosigkeit bei der Verwendung dieser Worte an, die für eine gewaltsame und leidvolle, verheerende Erscheinung steht und schreibt u.a.:

Sagt mal: Frontlinie, Barrikaden, Krieg – haben die alle zu viel »Star Wars« geguckt. […] Es ist nur eine Metapher, sagt ihr. Nein, es ist unbedachtes Wörterkotzen. Metaphern haben einen Sinn, sie sollen etwas klarer oder schöner sagen. Wer aber von Krieg spricht, macht es weder klarer noch schöner, der sagt nur: Guck, wie sie sich prügeln. […] Hier meine These dazu: Das ist schlecht. Es klingt nach Eskalation, aber da eskaliert nichts. Da reden Leute. […] Krieg! Und dann bringt ein Mann eine Frau um, und was wird daraus? Ein »Beziehungsdrama«. […] So viel Feinfühligkeit darf man erwarten, nicht von Krieg zu sprechen, wo kein Krieg ist, und von Mord, wo Mord ist.

Und so geht es weiter – dreihundert Seiten Schlagfertigkeit, widerständiges und reflektiertes Denken, manchmal nonchalant serviert, manchmal um die Ohren pfeifend, mal von beißendem Spott, mal von klarer Anteilnahme begleitet. Ich erwische mich beim Lesen oft dabei, dass ich mir wünsche, dass Stokowskis Artikel die durchschlagende Wirkung erzielen, die sie für mich haben; dass Germany’s Next Topmodel dichtgemacht wird und Jens Spahns himmelschreiende Aussage zu Hartz IV als der politische Selbstmord gewertet wird, als der er hätte wahrgenommen werden müssen.

Wenn es wäre, wie Spahn sagt, und man hätte mit Hartz IV wirklich alles zum Leben, dann wären die Leute, denen das Geld nicht reicht, entweder unfähig oder gierig. […] Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Voreinstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Aber daraus ergibt sich Verantwortung.

Und für Verantwortung wirbt und kämpf Margarete Stokowski in diesen Texten. Für Verantwortung und Verständnis, fürs Hinterfragen und Empathisieren, sie wirbt darum und sie verlangt danach. Sie bricht Lanzen für Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, sie zerrt Hass und Rücksichtslosigkeit, Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit hervor und stellt sie bloß. Nach dreihundert Seiten kann ich nur noch sagen: Wir können froh sein, eine Stimme und eine Essayistin wie Margarete Stokowski zu haben. Sie hat zumindest mir dabei geholfen weiter zu denken als bisher, vielschichtiger mitzuempfinden, genauer hinzusehen. Wenn ein Buch das leistet, dann ist es ein verdammt gutes Buch.

Zu “Herzweise – 100 Gedichte der Gegenwart”


Herzweise „Wir bissen in die Schaumkronen
versunkener Dichter und Philosophen
glühend waren unsere Gedanken
sie brannten sich Löcher in unsere Worte“
(Simone Lucia Birkner)

Mit diesem Gedichtband habe ich mich nun schon eine Weile beschäftigt. Er lag fast ein ganzes Jahr bei mir herum, ich las darin, immer wieder, konnte ihn aber nie ganz zu fassen kriegen, habe meinen Eindruck zu ihm mehrfach verworfen und neu gebildet.

Aber nie hat er in mir klare Konturen hinterlassen – kaum schloss ich den Band, schwanden auch meine Vorstellungen von den Gedichten dahin, wenig blieb haften. Eine Erfahrung, die ja an und für sich kein Problem darstellt. Gedichte müssen schließlich keine Erwartungen einlösen – im Zweifelsfall sind die Erwartungen verkehrt, nicht die Gedichte. Und sie dürfen auch flüchtig sein, extrem flüchtig.

„Wir aber gehen unter dem Gesang der Vögel
und sammeln Erinnerungen ein
Muscheln, Stöcke und Steine
Die vielleicht überdauern
Oder die wir später woanders verstreuen

Am Horizont ziehen große Schiffe
Mit Hoffnung im Bauch zur See“
(Sandra Blume)

Was mich aber glaube ich von Anfang an störte und das Leseerlebnis dauerhaft untergrub, war der Untertitel: 100 Gedichte der Gegenwart (und zusätzlich das Vorwort). Inwiefern trifft dieser Untertitel auf die Gedichte zu? Das Vorwort beginnt mit der Formulierung: „Gedichte sind Orte, an denen sich Erfahrungen als eine stets zugängliche Gegenwart einprägen.“ Auf den ersten Blick erscheinen dieser Satz und das folgende Vorwort, welches das Gedicht im Prinzip als Kulminationspunkt und Aufbewahrungsinstanz jedweder möglichen Erfahrung sieht, sehr schlüssig zu sein.

Aber im Prinzip ist das Vorwort schlicht ein Herumlavieren, das nichts über die Gedichte dieses Bandes sagt, sondern etwas über Gedichte generell; es verlautbart sehr Hehres und Schönes. Und es sagt ja nichts Falsches, aber es unternimmt keinen echten Versuch, die Gedichte einzuordnen oder genauer zu betrachten und etwas darüber sagen, warum gerade dieses Gedichte das Label „Gegenwart“ (über den vom Vorwort selbst festgelegten Rahmen dieses Begriffs, der aber einfach nicht ausreicht oder nicht einfach ausklammern kann, dass der Begriff Gegenwart auch politisch/gesellschaftlich ist) verdienen (und andere nicht, unausgesprochen).

„Ich liebe dich nicht!
Ich kenne dich nicht einmal!
Und doch fühlt es sich
so an wie Liebe: dieses
Warten auf ein Wort von dir!“
(Hannah Buchholz)

Damit will ich die Gedichte noch gar nicht ästhetisch bewerten, aber es sind schlicht keine Gedichte „der Gegenwart“. Sie haben nichts an sich, das sie als Texte ausweist, dir nur in unserer Zeit entstehen konnten. Ja, sie sind sogar auffällig „zeitlos“ und selbstbezogen, verorten sich weder in irgendeiner lyrisch-literarischen Traditionen, noch haben sie anscheinend theoretische Überlegungen oder Entwicklungen der zeitgenössischen Poesien registriert, beherzigt oder verworfen.

Noch mal: das alles soll nicht die Gedichte als Erlebnisräume und Orte des Ausdrucks schmälern. Aber die Form der Präsentation macht viel aus. Und es schmerzt, dass die Art der Präsentation den Gedichten in diesem Fall einen Bärendienst erweist. So werden bspw. auch, schon in den ersten Zeilen des Vorworts, Petrarca, Baudelaire und Novalis genannt. Das bürdet den Gedichten zusätzlich die unheimliche Last dieser Schatten, des Vergleiches, auf, zumal sie nicht erkennen lassen, dass eine Auseinandersetzung mit Petrarca oder Baudelaire (bei Novalis kann ich mir kein Urteil erlauben) stattgefunden hat.

Ich spiele mich sehr ungern auf und ich bin mir nie sicher, wann es geboten ist, kritische Stimmen anzubringen; meist bin ich mehr an dem interessiert, was in Texten steckt und weniger an dem, was man an ihnen kritisieren könnte (etwas lässt sich immer finden, meiner Erfahrung nach). Hier hatte ich den Eindruck, dass eine Kritik an der Präsentation vonnöten ist.

„und ich hörte
den oktober

mit donnernden fingern
zeichnete er einen blitz
in den himmel
erhob sich die weichheit
und zwinkerte mir zu

schließ die augen
(sieh nicht hin)

und ich schloss die augen
und ich sah“
(Diana Jahr)

Zu den Gedichten: Es gibt bei jeder der Dichter*innen Texte, die mir gefallen haben. Allerdings sind sie dann und wann sehr selbstreferentiell, was mitunter wie eine Manie wirkt, wie eine sich selbst am Laufen haltende Maschinerie. Es gibt auch einige Begriffe, die für meinen Geschmack etwas zu inflationär gebraucht werden: Stille, („Am Schwersten ist es mit der Stille und dem Schweigen – wenn du über sie sprichst, sind sie schon nicht mehr vorhanden. Sie werden nicht herbeigerufen durch das jeweilige Wort, sondern einbezogen durch das Unscheinbarste, das deine Verse nennen.“ Aus einem Brief von Martina Zwetajewa), Herz, Sprache und Wort.
Auch in den Zuordnungen der Bilder, den Metaphern, scheinen sie sich manchmal rein dem Überschwang hinzugeben, fast schon beliebig vorzugehen. Es gibt einige Komposita, schöne darunter, aber sie klingen bei mancher Gelegenheit wie sprachlicher Nippes, also wenig zwingend.

Häufig gibt es ein Du in den Gedichten, das angesprochen wird, was natürlich schön ist, in der Vielzahl aber wie bloße Rhetorik, wie eine Art versichernde Geste wirkt. Überhaupt hätte ich den Gedichten manchmal gern zugerufen: Traut euch doch ein Stück weiter, hüllt euch nicht so stark ins Referentielle, in Wiederholtes und Bewährtes, in die Pose des poetischen Vollführens! Ihr habt die ganze Sprache, von den botanischen Begriffen bis zu den großen Worten Liebe und Tod. Ihr könnt noch so viel mehr erreichen!

Ich will aber gewiss nicht meine Ansprüche an Lyrik gegen diese Gedichte ins Feld führen. Sie dürfen sein wie sie sind, was sie sind. Rückzugsorte, Selbstausdrücke und -bezüge, Ausflüge ins Sprachland, Poesien der wenigen, aber klaren Begriffe.

Das ist mir wichtig, am Ende festzuhalten: ich will diese Gedichte nicht zurechtweisen oder herabstufen, ihnen ein Platz in irgendeiner Hierarchie zuweisen. Dazu habe ich weder die Kompetenz noch Lust noch das Recht. Wichtig war mir, meine Bedenken anzubringen – jeder Dichter und jede Dichterin muss selbst schauen, was an Kritik bei ihr/ihm auf fruchtbaren Boden fällt und mit welchen Anmerkungen man schlicht nichts anfangen kann, weil sie nichts mit der eigenen poetischen Position zu tun haben, sie möglicherweise sogar schlicht verfehlen. Ich bin vielleicht auch nicht der richtige Leser, bewege mich schon zu sehr in anderen Gefilden, kann die Neigung dieser Verse nicht würdigen. Ich hoffe, mir wird dies im Zweifelsfall verziehen.

„Ich werde nach dir suchen
hinter dem Kalk und dem Regen.
Ich werde deine Augen
– die Flüsse des Sommers –
durchqueren, ohne Sprache.“
(Á. M. Perezáno)