Tag Archives: Genial

Zu Margarete Stokowskis “Die letzten Tage des Patriachats”


Die letzten Tage des Patriachats Man muss schon den Hut ziehen vor Margarete Stokowski, wenn man diese gesammelten Kolumnen liest. Wie viele zentrale Themen unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verhältnismäßigkeiten darin aufgegriffen und angeschnitten, wie viele wichtige Anmerkungen zu Umgang, Perspektiven und Scheuklappen gemacht werden, wow. Und dann muss man noch einmal den Hut ziehen, wenn Stokowski hier und da durchblicken lässt, mit welcher Engstirnigkeit sie sich oft konfrontiert sieht, in Kommentaren, Zuschriften, etc., weil sie als Verfasserin dieser Kolumnen in Erscheinung tritt.

Der Band sammelt 75 von Stokowski ausgewählte Kolumnen aus den Jahren 2011-2018, die in zehn Themenkapiteln jeweils chronologisch angeordnet sind; viele von ihnen hat sie ergänzt durch Nachsätze, in denen sie Kommentare und Folgen zu den einzelnen Kolumnen schildert. Übergreifend kann man sagen, dass sie (bei Kolumnen nicht überraschend) oft einen Bezug zum Tagesgeschehen haben – aber Stokowski gelingt es fast immer, jenseits (oder eher diesseits) des Anlasses generelle Feststellungen anzubringen, Schlüsse zu ziehen, Symptome freizulegen und zu isolieren, Strukturen zu zeigen und eingespielte Problematiken zu benennen.

Ein zentrales Thema, das viele Kolumnen durchzieht, ist die Rolle von Frauen (und Minderheiten) in der Gesellschaft und ihre Stigmatisierung, die leider immer noch viele (sehr viele) Facetten und Gesichter hat.

Frauen haben immer noch weniger Geld als Männer, sie arbeiten seltener in Führungspositionen, sie erledigen die meiste Familienarbeit, und nicht wenige erleben sexualisierte Gewalt. Im Deutschen Bundestag sind im Jahr 2018 nicht mal ein Drittel der Abgeordneten Frauen. Frauen müssen in vielen Ländern für grundlegende Rechte kämpfen, und selbst dort, wo sie das nicht müssen, hören sie in den verrücktesten Situationen dämliche Kommentare über ihren Körper.

Es sollte jedoch niemand den Fehler machen, Stokowski deswegen für eine Agitatorin mit begrenzter Motivation und begrenzter Perspektive zu halten. Eins beweist sie in ihren Kolumnen mehr als einmal und ich bewundere sie enorm dafür: dass sie immer wieder gegen vereinfachte und festgesetzte, eingespielte und klischeegesteuerte Vorstellungen anschreibt und dass es ihr gelingt ihren Kolumnen (und hier setzt die Bewunderung ein) fast immer einen widerständigen, schlagfertigen Zug zu geben, eine Argumentation und Intonation aufzubauen, die sich auf knappem Raum wirkungsvoll und klug behaupten kann.
Stokowskis Texte zeigen: die Welt mag komplex sein, unübersichtlich vielleicht, aber es gibt doch sehr viel, das wir klar feststellen können, sowohl bei den Sachen, die im Argen liegen, als auch bei den Sachen, die gute Entwicklungen sind und jeden Unkenrufen trotzen können.

Bei Stokowski kann man außerdem lernen (nicht nur bei ihr, aber auch bei ihr), dass Feminismus eben nicht ein Versuch ist, Männer zu dämonisieren, unterzukriegen oder für ihr Mann-sein zu verdammen, sondern die generelle Emanzipation von Macht- und Diktionsstrukturen, sowie die längst fällige Aufhebung von zu enggezogenen Geschlechterbegriffen und Rollenbildern betreibt, zum letztendlichen Vorteil beider Geschlechter. Wie Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ schrieb:

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ungleichheit und Stigmatisierung haben, wie gesagt, noch immer viele Facetten. Großteils sind es eingefahrene, überholte, falsche Vorstellungen, gegen die sich der Versuch der Veränderung von Verhältnissen und Umgangsformen behaupten muss. Das fängt an bei der von vielen Medien geschürten und überall halbgar servierten „Angst“ (in diesem Kontext wirklich das falsche Wort), dass die Anprangerung von sexuellen Übergriffen und Sexismus, am Arbeitsplatz und anderswo, einem Verbot von Flirten und Begehren gleichkommt. Stokowski bringt die Fadenscheinigkeit dieser (und anderer) Panikmacherei auf den Punkt und schreibt am Ende:

Es gibt eine feministische Flirtregel, die man sich im Übrigen sehr leicht merken kann und die lautet [#wheaton’slaw]: Sei kein Arschloch. Fertig. That’s it. Unisex übrigens.

und an anderer Stelle:

Es ist mir ein Rätsel, wie man denken kann, irgendwas würde der Menschheit fehlen, wenn Sexismus, Belästigung und Missbrauch wegfallen.

Aber Stokowski lässt es nicht bei diesen Themen bewenden, sondern äußert sich ebenso pointiert, gewandt, kritisch und klug zu angrenzenden und anders gearteten Themenbereichen. Großartig ist ihre Kolumne zu „Germany’s next Topmodel“, die mir aus der Seele spricht; am liebsten würde ich das folgende Zitat bei ProSieben einblenden, während die Show läuft:

Die Sendung ist eine perverse, niederträchtige, menschenverachtende Geldmaschine, die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben und sich den Regeln der Jury unterwerfen, weil man als Model halt einfach auch mal machen muss, was der Kunde will.

Und sie spricht mir ebenso aus der Seele, wenn sie über die Verbindung von Sexualität und Werbung schreibt – eine Erscheinung, welche, so glaube ich, das Verhältnis zum eigenen Körper in den letzten Generationen mitunter schwer belastet hat, vom Frauenbild ganz zu schweigen und vom Männerbild, das auf dieses Frauenbild ständig anspringen soll, erst recht.

Wenn wir aber die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen können von Sex oder Erotik, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein tief sitzendes. Wenn wir denken, dass wir nicht frei sind, weil nicht überall Brüste hängen oder Frauen halbnackt über Mietwagen robben, dann ist das ein schlechtes Zeichen für unser Frauenbild.

Auch auf die feinsprachliche Ebene geht Stokowski immer wieder – bspw. in einer Kolumne über die häufige Verwendung der Wörter „Krieg“, „Kamp“, „Frontlinie“ bei der Beschreibung von Diskussionen und Auseinandersetzungen zum Thema Gender und Feminismus. Die Kolumne trägt den rotzigen Titel „Hamse jedient im Genderkrieg?“ Stokowski klagt darin die fast schon brutale, zumindest zynische Gedankenlosigkeit bei der Verwendung dieser Worte an, die für eine gewaltsame und leidvolle, verheerende Erscheinung steht und schreibt u.a.:

Sagt mal: Frontlinie, Barrikaden, Krieg – haben die alle zu viel »Star Wars« geguckt. […] Es ist nur eine Metapher, sagt ihr. Nein, es ist unbedachtes Wörterkotzen. Metaphern haben einen Sinn, sie sollen etwas klarer oder schöner sagen. Wer aber von Krieg spricht, macht es weder klarer noch schöner, der sagt nur: Guck, wie sie sich prügeln. […] Hier meine These dazu: Das ist schlecht. Es klingt nach Eskalation, aber da eskaliert nichts. Da reden Leute. […] Krieg! Und dann bringt ein Mann eine Frau um, und was wird daraus? Ein »Beziehungsdrama«. […] So viel Feinfühligkeit darf man erwarten, nicht von Krieg zu sprechen, wo kein Krieg ist, und von Mord, wo Mord ist.

Und so geht es weiter – dreihundert Seiten Schlagfertigkeit, widerständiges und reflektiertes Denken, manchmal nonchalant serviert, manchmal um die Ohren pfeifend, mal von beißendem Spott, mal von klarer Anteilnahme begleitet. Ich erwische mich beim Lesen oft dabei, dass ich mir wünsche, dass Stokowskis Artikel die durchschlagende Wirkung erzielen, die sie für mich haben; dass Germany’s Next Topmodel dichtgemacht wird und Jens Spahns himmelschreiende Aussage zu Hartz IV als der politische Selbstmord gewertet wird, als der er hätte wahrgenommen werden müssen.

Wenn es wäre, wie Spahn sagt, und man hätte mit Hartz IV wirklich alles zum Leben, dann wären die Leute, denen das Geld nicht reicht, entweder unfähig oder gierig. […] Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Voreinstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Aber daraus ergibt sich Verantwortung.

Und für Verantwortung wirbt und kämpf Margarete Stokowski in diesen Texten. Für Verantwortung und Verständnis, fürs Hinterfragen und Empathisieren, sie wirbt darum und sie verlangt danach. Sie bricht Lanzen für Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, sie zerrt Hass und Rücksichtslosigkeit, Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit hervor und stellt sie bloß. Nach dreihundert Seiten kann ich nur noch sagen: Wir können froh sein, eine Stimme und eine Essayistin wie Margarete Stokowski zu haben. Sie hat zumindest mir dabei geholfen weiter zu denken als bisher, vielschichtiger mitzuempfinden, genauer hinzusehen. Wenn ein Buch das leistet, dann ist es ein verdammt gutes Buch.

Zu den gesammelten Tweets der wunderbaren Ianina Ilitcheva in “@blutundkaffee, 2012-2016”


@blutundkaffe besprochen bei fixpoetry.com

 

Zu Beat Gloors sinnigen, teilweise genialen Aphorismen in “Wir sitzen alle im gleichen Bott. Aber nicht alle rudern.”


wir-sitzen-alle-im-gleichen-boot-o

„Wir haben viel verloren durch den Biss in den Apfel. Aber wir hätten nie erfahren, was wir alles hatten.“

Was die Wiederlesbarkeit angeht, gehören Bände mit Aphorismen zu meinen Favoriten. Es lässt sich darin immer wieder etwas Inspirierendes oder gegen den Strich Gebürstetes finden, man kann sich darin auf eine nachhaltige Art und Weise verlieren. Zumal der Aphorismus auch eine faszinierende Form ist: Eine Agitation auf engstem Raum, eine gegossene und zum Projektil geformte Behauptung, die so durchschlagend sein kann wie eine Wahrheit und in jedem Fall Querschlägerpotential hat. Ihm haftet gleichzeitig die Aura der Weisheit und des Subversiven an. Aphorismen richten sich gegen alle und gegen Niemanden; wer darin mit wem spricht, verschwimmt, selbst wenn eine klare Autorenfigur dahintersteht.

„Der Nestbeschmutzer beschmutzt das Nest nicht. Er sagt nur, dass es schmutzig ist.“

Zudem gibt es auch unterschiedliche Arten von Aphorismen. Auch wenn das blitzschnelle Offenlegen einer Erkenntnis der große gemeinsame Nenner ist – wie sehr dieses Offenlegen sich ins Epiphanische und wie sehr ins Pointierte neigt, wie sehr es auf den Zynismuszug auf- und von der Kante des Sagbaren abspringt, wie kleinteilig es sich mit Sprache auseinandersetzt oder wie groß die Gedanken sind, denen es sich annähern will, das sind alles Nuancen dieser in vielerlei Hinsicht als homogen wahrgenommenen Gattung.

„Wichtig klingt wie das Adjektiv zu Wicht. Wichtig wäre also etwas ganz Kleines …“

Beat Gloors Aphorismen haben unterschiedliche Qualitäten und sind auch von unterschiedlicher. Wie den meisten Aphoristiker, kommt es auch bei ihm dann und wann zur Plattitüde – erfreulich selten allerdings. Dafür hat er ein breites Repertoire an Ansätzen: hintersinnig, witzig, weise, metaphysisch, trotzig, garstig, kritisch, albern, listig, um nur ein paar Adjektive zu nennen, die man auf einzelne Text von ihm anwenden könnte. Seine Bezüge reichen vom Mythischen über Allgemeinheiten bis zu einem häufigsten Spielfeld, der unmittelbaren Lebenswirklichkeit in der Gegenwart, mit all ihren Schikanen. Nun sind Kommentare zum Zeitgeist immer eine leicht bedenkliche Angelegenheit, gerade in unserer schönen, neuen Internetkommentarfunktionsdebattenkultur. Banken, Kriege, Politik und Kapitalismus – es sind die üblichen Verdächtigen, gegen die Gloor zu Felde zieht, mal brachial, dann wieder mit der innovativen Schläue eines Stanislaw Jerzy Lec (an den mich Gloor eh dann und wann erinnert , was ich als Kompliment verstanden sehen will.)

Diese Spitzen zur gegenwärtigen Lage gehen ihm manchmal etwas zu leicht von der Hand, kommen zu frisch von der Leber weg – hier würde man sich dann und wann etwas mehr Hintersinn und weniger vordergründig platzierte Positionierung wünschen. Wobei es natürlich auch darum geht, dass ein Aphoristiker Position bezieht, seine Sätze sind schließlich Manöver, die Knall auf Fall zu den am schwierigsten zu erreichenden Orten vorstoßen, den Finger mit einer schnellen Geste auf die viel zu wenig besehene Wunde legen und dann auch noch im selben Atemzug diagnostizieren können. Aber gerade weil sie zu so etwas fähig sind, muss der Aphorimsenschreibende aufpassen, nicht in eine mehr oder weniger gierige Dynamik zu geraten, in der ihm etwas als Manöver, als Aufdeckung erscheint, das aber eigentlich schlicht ein Gegensatz ist, dessen Reibungsflächen wenig Funken schlagen. Figure out the difference/ Irony is not coincidence, wie schon Weird Al Yankovic sagte. Zwei Beispiele für das, was ich mit dieser Kritik meine, wären die Aphorismen:

„Wissen lässt Menschen zum Mond fliegen,
Glauben in Hochhäuser.“

„Selbstmord ist ein Ausweg, aber keine Lösung.“

Natürlich ist ein Reiz des Aphorismus auch die Provokation, die Entgleisung. Aber dieses Bedürfnis darf meiner Ansicht nach nicht so weit gehen, jedes Thema als potentielle Grundlage für einen Aphorismus auszuschlachten. Bei manchen Themen lohnt es sich, nicht direkt in den Brennpunkt vorzustoßen, sich hineinzustürzen, sondern vielmehr am Rand etwas anzubringen, was dann jeder liest, der sich auf dem Weg ins Zentrum befindet oder was Leute dazu bringt, vom Zentrum wegzusehen und den Rand ihrer Vorstellungen zu bemerken.

„Effizienzsteigerung – schon das Wort auszusprechen dauert zu lange.“

Schon der Titel des Buches ist das Programm: Hier wird man schnell und geistreich in viele Zusammenhänge eingeweiht. Fast alle Tonlagen, vom Ratschlag bis zur Kampfansage, sind enthalten. Und man kann sein kritisches Bewusstsein durch einige Geistesblitze aufladen.

Eine letzte kleine Rüge habe ich anzubringen, und die geht an den Verlag – es gibt in diesem Buch keine Seitenzahlen! Was mir, der ich mir gern besonders gelungene Stellen notiere (vor allem in einem Aphorismenbuch) ein bisschen unsinnig erscheint, zumal ich keinen Vorteil darin erkennen kann, weder für das Layout, noch für den Inhalt.

Nur ganz kurz: Notiz zu Kehlmanns “Kaminski”


“Herr Zöllner, dass alles sind doch abgeschlossene Geschichten! In Wirklichkeit gibt es uns nicht mehr. Alter ist etwas Absurdes. Man ist da und auch nicht, wie ein Geist.” (Zitat, S.39)

Trotz dieser Feststellung möchte Sebastian Zöllner, ein ehrgeiziger Journalist, den greisen Maler Kaminski interviewen, für ein Buch, was dann kurz nach seinem (hoffentlich baldigen) Tod erscheinen soll, damit es einschlagen kann in den Fokus des dann aufblitzenden öffentlichen Interesses, um seinen Autor zu einem reichen und berühmten Mann zu machen. Zöllner will alles aufbieten, um auch noch die letzte unveröffentlichte Wahrheit, das letzte Wissen und die letzte wertvolle Erinnerung aus dem alten Maler herauszutricksen – und stößt auf eine Persönlichkeit voller merkwürdiger, martialischer und genialer Züge, die ihm genau diese Informationen verweigert …

Kehlmann hat ein gleichsam interessantes und vor allem völlig in der Harmonie seines Stils auflebendes Buch geschrieben, das durch kleine Wahrheiten, Witz und intellektuellen Reiz zum Lesensvergnügen wird, aber auch durch einen trefflichen Blickwinkel auf den Geist der Zeit besticht. Man durchlebt Verwirrung und Heiterkeit, Orte und Worte werden schnell gewechselt und doch sehr gekonnt; in Gesprächen verspielt, locker und launisch, treibt sich der ganze Text um die Fragen: Wo leben wir hin? Und was bleibt? Ziele?
Wir erbauen uns selbst und doch kann uns alles entgleiten …

Am Ende von Kehlmanns Roman stehen wir verblüfft vor dem Nichts und wundern uns freudig, dass wir etwas erleben durften und von etwas befreit sind – von einer Kleinigkeit vielleicht, die uns nicht mehr gehören kann.

Kleine Impression zu Cocteaus “Kinder der Nacht”


“Ich will nicht schlafen. Das lässt sich nicht träumen.”
Aus einem Gedicht von Günter Grass

“Ob ich schreibe, ob ich filme, ob ich male – ich errege Anstoß.”
Jean Cocteau

Cocteau ist einer dieser Dichter (denn als Dichter bezeichnete er sich sein Leben lang, auch wenn er vor allem Filme machte und Prosa schrieb) die einem durch den Verstand wirbeln, weil sie so originell und doch im Ganzen so natürlich und nah sind. Seine somnialen, geschmückten Gedichte, seine fassende Art zu erzählen und seine klar ausgerichtete künstlerische Freiheit, die ohne Diktum Phantasie mit Beschwörungen des Realen vereint, machen ihn und auch dieses wundervolle Buch zu Lichtgestalten in einer in der Literatur vorherrschenden Grautönigkeit. Kinder der Nacht ist zwar ein Abgesang, aber auch ein Loblied und diese beiden Dinge in einem Buch zu verbinden, gelingt sehr selten und ist meist ein berauschendes, einmaliges Erlebnis.

Dabei ist an diesem Buch vom Inhalt her nichts Lichtes. Die ganze Zeit schwankt es in einer zwie-bedrohlichen Dämmerung umher; der Hauptteil der vielen, lebendigen Gefühlsoffenbarungen spielt sich in der Nacht ab, denn die beiden Geschwister Elisabeth und Paul sind nun mal “Kinder der Nacht”. In der Dunkelheit erscheinen ihre Obskuritäten, ihre Weltverlassen und -vergessenheit wiederum nicht zwingend als etwas Abnormales, nicht als abwegig, sondern geradezu unausweichlich, richtig und geradezu wahrhaftig, wenn auch immer noch leicht märchenhaft, leicht überirdisch, wie eine Szene aus einer flüchtigen, tieferen Welt.

Ich zögere genaure Angaben über den Inhalt zu machen, denn jede Festlegung scheint mir bei diesem Buch wie eine Ausfahrt, wie ein Ablenken von diesem wunderbaren, ganz in sich stimmigen Wunsch nach einer reinen Geschichte, den man während des Lesens als Ahnung ins Blut geimpft bekommt. Weder ist dieses Buch ein surrealistisches Buch, noch kann man es einen realistischen Roman nennen; auf wunderliche Weise bezieht es aus beidem sein Nötigstes und lebt zwischen beidem wie im Schwebezustand, der die eigentliche Fülle des Buches erst möglich macht, verdichtet. Jeder Satz, jeder Absatz ist wie ein kleiner Atemzug; das Buch als Ganzes eine eingefasste Welt aus Luft, durch die der Schnee von Träumen, Phantasien, Schraffuren von Sehnsucht und Verlangen, ein Eindruck aus Wünschen und Verliebtsein fällt; dann und wann liest man hinter dem Gestöber die Keilschrift der Wirklichkeit.

Eigentlich ist das Buch eine einzigartige Liebesgeschichte; aber auch eine sensible Studie zu den Emotionen der Kindheit, eine Elegie von der Furcht und dem Versuch sie zu vertreiben oder ein Versteck vor ihr zu finden, ein Traum von überlebendigen Regungen und ein Kunststück traurigbizarrer Atmosphäre. Jeder sollte dieses Buch auf seine Weise erfahren, denn es steckt darin ein Urbild unser selbst, die wir, der Kindheit entwachsen, immer noch glauben, dass unsere innere strömende Welt mehr zählt, als jene sich verzahnende dort draußen.
Cocteau hatte also Recht: Er erregt Anstoß. Aber nicht irgendwo draußen in der rohen Materie, sondern ganz tief drinnen, vielleicht bei etwas ganz Vergessenem …

 

 

Link zu Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de

“Alexander oder Was ist Wahrheit?” – Eine kleine Erinnerung an die Reminiszenzprosa von Arno Schmidt. Oder: W.ie I.ch e.uch h.asse


Es gibt drei zentrale Schriftsteller in der modernen deutschsprachigen Literatur, die nicht nur Außenseiter waren und ihre speziellen Stile und Charakteristika ihrer Prosa pflegten, sondern die auch (mit unterschiedlicher Vehemenz) konkret anders sein wollten, auf der Suche nach neuer sprachlicher Dichte in der Prosa.

Diese drei Schriftsteller sind der Österreicher Thomas Bernhard (Als Beispiel: Watten), der Hamburger Hans Henry Jahnn (bekannt durch Fluß ohne Ufer) und eben Arno Schmidt..

Von all diesen dreien ist Schmidt wohl der sprachoperativste, der eigene Typographien erfand und sein Schriftbild seiner eigenen Empfindung von sprachlicher Dichte anpasste – er war aber auch thematisch auf sehr abwegigem Terrain unterwegs. Vielen dürfte er am Rande nur aufgrund seines Machwerks Zettels Traum bekannt sein. Dabei war Schmidt nicht nur ein radikaler und vielschichtiger, sondern vor allem ein einzigartiger Erzähler, von überragender Substanz. Einer der nicht nur unglaublich kompliziert Bücher, sondern auch großartige Erzählungen schrieb.

In diesem Band sind drei sehr frühe Texte versammelt.. Alle sind mehr oder weniger in der Antike angesiedelt und alle zeichnen sich durch eine geradezu frontale Bildsprache, Interpunktion und Poesie aus. Es sind eigentlich keine Erzählungen, sondern wandelnde Eingebungsüberblendungen, die Eindrücke, Bewusstsein, Ideen und Welterfahrung in einem einzigen Prosagemisch vermitteln.

“Goldmond brennt auf am Festungsturm; in Märchenfernen reist ein Sturm, zaust und zaubert. Ich trage Krüge weinbelaubt; der Wein schwatzt innen laut. Mond reitet an mit Söldnerstern; das rasche Heer versteckt sich gern hoch in den Wolken. Die wilde Wolkeninsel steht mit Pässen, die kein Mensch begeht und schroffen Silberklippen. Mond landet im Wacholdermeer; die kleine Stadt schläft hell und leer hoch im Bergland. Ich steige leicht wie Wind empor, zum Wolkenwald, zum Wolkentor; weiß nicht, wie meine Spur verlor. Ich wandere mit der Wolke. – -“

Neben den stark expressiven Beschreibungen, sind Schmidts zweiter Angelpunkt seine exzentrischen Figuren, die vor allem als eine Synthese aus Gedanken und Meinungen, die sie laufend von sich geben, auftreten. Schmidt führt diese, obgleich sie alle in antiken Zeiten leben, nicht historisch, sondern alltäglich an uns heran; dabei geht es ihm, so scheint es, vor allem um die Aufhebung der Distanz, denn er lotet clever die Möglichkeiten von Unverblümtheit und Arroganz aus und so erscheinen einem die Personen bald nicht als verblasste geschichtliche Vorgänger unseres Geschlechts, sondern als Charaktere ihrer Zeit wie wir in der unseren, mit ganz eigenen und ebenso breiten Spektren an Annahmen, an Wissen, Illusionen, Interessen und gesellschaftlichen und intellektuellen Problemen.

In “Alexander oder Was ist Wahrheit” um noch einmal etwas konkreter zu werden, geht es zum Beispiel um die Wahrheit über Alexander den Großen: War er tatsächlich ein Held und weiser Mann, oder ein mordender, macht- und besitzhungriger, hitziger Jüngling, ohne auch nur einen der ihm zugeschriebenen Vorzüge (es historisch zu akzeptieren ist ja das eine, aber es zu seinen Lebzeiten zu erleben eine ganz andere)? Der Erzähler, ein Verehrer Alexanders, der diesem auch nun bald zum ersten Mal persönlich begegnen soll, glaubt einem großen, übermenschlichen Mann zu begegnen, doch schon auf der Fahrt zum Lager Alexanders wird ihm von Mitreisenden die ganze Idiotie und der Wahnsinn des Heroen, an historisch belegten und von Schmidt interpretierten Beispielen, süffisant und ironisch unter die Nase gerieben. “Kein Platz für Heldentum, nur Größenwahn, in der Welt”, wie eine der Figuren sagt.

Warum Schmidt lesen? Nun, er ist ungeheuer (im wahrsten Sinne des Wortes) poetisch und kann einem eine ganz neue Erfahrung von Sprache und Erleben in Prosa bieten. Seine eigenwillige Art der Erzählens, die zwischen sprachlich-vollkommener, beklemmender Eleganz und undurchsichtigen Prosaströmen hin und her tendiert, ist vielleicht nicht so leicht zu lesen, bringt einem dafür aber eine Fülle an Ideen dar und übermittelt einem mehr als einmal eine völlig neue Vorstellung des “Lesens” an sich.

“Kühler Wind ging nah vorbei, wie ein schlanker Knabe mit Sternen in den Händen;”

“Himmel mit weißen Wolkennelken bedruckt. … der Wind riss aus wie ein Hengst.”

“Keuchend hoch: der Mond schwamm, schon halb aufgelöst, in gelben Lichtbrühen. Ein Trupp besoffener Nachtwinde randalierte drüben im Obstgarten, hieb sich mit Zweigen und pfiff zuhältrig: hoffentlich bleibt’s schön morgen! “

“Ein alter Bauer mit Fuchspelzmütze, ganz langlebiger Thrakier, zeigte uns eine getötete Schlange: aus der aufgeschnitten kroch eben eine Kröte hervor: die Hinterbeine bereits vollständig verdaut!!! >>(Und siehe, es war alles gut)<< : oh derLuderlump ! ! !”

Walter Jens schrieb in einem Feuilleton des Jahres 1950, er habe Schmidts Schreibstil zunächst für “Blödsinn” gehalten und sich darüber geärgert, dann aber Entzücken über Schmidts Bilder, seinen Snobismus und seinen lebendigen Expressionismus empfunden.
Genauso ging es mir und deshalb muss man am Ende sagen: Wer wirklich, unter Anstrengung und Genuss, mal etwas ganz anderes, fast rätselhaft Bedeutendes und gleichsam Anregendes lesen will, der sollte sich an Arno Schmidt einmal versuchen – vielleicht mit diesen ersten Erzählungen. Wer in irgendeiner Weise eine unterhaltsame, geradlinige Form der Prosa sucht, dem ist natürlich abzuraten. Denn Schmidt zu lesen ist eine, ich betone es noch mal, weil es essentiell ist, einzigartige, aber sehr abnormale Erfahrung.

Inhalt:

1. Enthymesis oder W.I.E.H. (Erzählung über eine Weltvermessung zu Fuß, von jemandem, der nicht glaubt, dass die Erde rund sein kann – um 200 v.Chr.)
2. Gadir oder Erkenne dich selbst (Erzählung eines 95-jährigen Gefangenen, der seine Flucht plant und, schon halb Irre geworden, in seinen Gedanken die Welt und ihre Irrsinnigkeiten aufzudecken meint)
3. Alexander oder Was ist Wahrheit

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Alexander-oder-Was-ist-Wahrheit/dp/3596291119/ref=cm_rdp_product

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen

“Das Michael Ende Lesebuch” – Für Michael Ende, einen wirklich großen Autor. “Denn die großen Geheimnisse sind keine Rätsel…”


“Nur wer von einer besseren Welt wenigstens träumen kann, gewinnt die Kraft für ihre Verwirklichung.”

Michael Ende gehörte für mich schon immer zu den innovativsten, schönsten und auch größten Schriftstellern Deutschlands. Jetzt, nach der Lektüre dieses Lesebuches, bin ich auch davon überzeugt, dass meine Empfindung nicht allein dem Zauber seiner Prosa entspringt, sondern allgemein in der Intelligenz und Phantasie dieses Mannes zu verorten ist.

Ende wäre heute 83 Jahre alt, er starb jedoch bereits 1995. Mich quälte nach der Lektüre seiner bekanntesten Bücher Momo, Jim Knopf und der Unendlichen Geschichte, die Frage, was für wunderbare Bücher dieser Mann noch hätte schreiben können. Nach und nach stieß ich dann auf weitere Werke, die zwar eine etwas andere, aber nicht minder faszinierende Seite seiner literarischen Produktion offenbarte.

Im Prinzip finden sich in diesem Lesebuch größtenteils Texte aus diesen “anderen” Büchern versammelt – Essays, Erzählungen, Ideen. So auch die 44 Fragen an den Leser, die Ende anstatt eines Vorworts an den Anfang dieser Sammlung stellte und die einen mit ihrer kleinen Genialität sofort für diese gewinnen.

“Liegt die Kraft, die eine Kompassnadel dazu veranlasst, immer nach Norden zu zeigen, in der Nadel oder im Erdball?”

Denn in diesen Fragen ist auch direkt das angedeutet, was Endes Werk durchzieht: Ein Umschiffen abstrakter Philosophie und ein Ablassen von der Glätte eines deterministischen  Realismus, um zu wirklich phantastischen und trotzdem authentischen Fiktionen zu gelangen, in denen die Faszination der Welt sich gleichsam spiegelt und erweitert wird. Leicht kommen die Ergebnisse daher, in jeder Faser inspirierend-unterhaltsam, wie sie mit dem Wesen von Darstellung und Erzählung spielen – umso schwerer muss es gewesen sein, dies ohne Ballast oder Bodenlosigkeit zu schreiben.

Oft denkt man, dass solche Geschichten gut für Kinder sind, weil sie die Phantasie und Freude beflügeln, ohne das etwas anderes als das Erleben der den Geschichten innewohnenden Ideen und Abenteuer vollzogen werden muss – aber genau darum sind solche Erzählungen (Märchen, phantastische Geschichten und dergleichen) auch bei Erwachsenen sehr beliebt – weil sie uns erweitern, ohne für diese Erweiterung neue Regeln aufzustellen.

“Wenn Wirklichkeit etwas mit Wirken zu tun hat, welche Wirklichkeit hat dann ein Traum?”

In diesem Buch kann man Ende ganz neu kennen lernen, man wird aber auch einige bekannte Texte wieder lesen. Viel stammt aus dem Band Der Spiegel im Spiegel: Ein Labyrinth und viele kleine Sachen aus Zettelkasten: Skizzen und Notizen. Wirklich exklusive Sachen gibt es nicht, aber es wurden noch sehr viele andere Werke hinzugezogen; es finden sich Stellen aus Momo, der Unendlichen Geschichte, dem Gauklermärchen – immer noch eines der wunderbarsten Stücke in Endes Werk – und Jim Knopf. Des Weiteren auch Auszüge aus dem Buch mit Gesprächen über seinen Vater, den Maler Edgar Ende (Die Archäologie der Dunkelheit) und aus dem schlichten, aber nichtsdestotrotz sehr guten Gedichtband Trödelmarkt der Träume. Im Buch selbst befindet sich hinten eine ganze Auflistung von Werken, die man von Ende kennen sollte, auch mit 1-2 Geheimtipps.

“Was treibt wohl einen Nihilisten dazu, andere Menschen von seiner Absicht, dass alles sinnlos sei, zu überzeugen?”

Einen erwarten phantastische Erzählungen (von denen eine Jorge Luis Borges gewidmet ist), kleine Aphorismen, interessante Essays über die Kindlichkeit, ein Brief an eine besorgte Leserin, Entwürfe für Romane und Erzählungen, ein unveröffentlichtes, fragmentarisches Kapitel aus der Unendlichen Geschichte und noch vieles mehr. Das Ganze ergibt eine Art von Leseabenteuerreise durch ein fiktives Land, mit all seinen Legenden und Weisheiten.

Michael Ende war, um es klar zu sagen, ein unheimlich bedeutender und genialer Autor; und gerade weil er sich nie intellektuell oder gar liebreizend gegeben hat, sind seine Bücher und Texte so wahr und einzigartig. Jeder ist eine Geschichte für sich, wie Ende es ja wünschte und jeder ist ein Symbol dafür, dass nie alle Geschichten geschrieben sein werden, weil jedem Menschen unzählige Bilder innewohnen und er unzählige Bilder aus der Sprache erhalten kann.

In dem Fragment des Kapitels der Unendlichen Geschichte, gibt es einen Satz, der sehr gut beschreibt, wieso wir die Phantasie brauchen, wieso sie kein Trugschluss oder gar eine Illusion ist. Dort sagt die Zauberin zu Bastian: “vielleicht möchtest du manchmal anders sein, aber du möchtest dich nicht ändern”.
Ich denke es geht vielen so. Aber erreichen kann man so etwas nur in seinen ganz eigenen Träumen und Vorstellungen – die Ende steht’s für das Wichtigste hielt. Und in Erzählungen und Geschichten.

“Ist der Mond den Goethe duzte und der Klumpen aus Schlacke und Staub, auf dem die beiden Astronauten herumtaumelten, ein und derselbe Himmelskörper?”

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Aber-das-eine-andere-Geschichte/dp/3492244440/ref=tmm_pap_title_0

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen