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Der gro(e)ß(r)e Faktor Klima


Fatum

„Im vorliegenden Buch soll gezeigt werden, dass der Einfluss des Klimas auf die römische Geschichte abwechselnd kaum merkbar und dann wiederum riesengroß war, manchmal positiv und andere Male zerstörerisch. Der Klimawandel war jedoch immer ein exogener Faktor, ein echter Joker, der alle übrigen Spielregeln außer Kraft setzte. […] Aus guten Gründen verehrte man in der Antike die furchterregende Göttin Fortuna: Die Menschen ahnten, dass die Mächte, die diese Welt regierten, letztlich unberechenbar waren.“

Fatum, Schicksal. Kyle Harper ist nicht unter den Ersten, die den Niedergang der römischen Zivilisation mit diesem Wort versehen haben. So unterschiedlich die Interpretationen des Untergangs der pax romana auch sind, in einer Sache sind sich die meisten Historiker*innen einig: er war unvermeidlich.

Einige Analysen dazu haben sich eingebürgert: vom ganz allgemeinen „Imperien steigen auf und fallen, brechen unter ihrer eigenen Last/ihren eigenen Ambitionen zusammen“ bis zu Analysen der spätrömischen Dekadenz, die das Reich träge und unflexibel werden ließ – außerdem auf der Liste der üblichen Verdächtigen: das Christentum, die Reichsteilung und nicht zuletzt die Völkerwanderung. 

„Alle diese Antworten mögen gleichzeitig richtig sein. Das auf diesen Seiten vorgetragene Argument jedoch ist das folgende: Um den langen Zeitraum zu erfassen, den wir als Untergang des Römischen Reichs bezeichnen, müssen wir einen genaueren Blick auf die gewaltige Selbsttäuschung inmitten der triumphalen Zeremonien des Imperiums werfen – den trügerischen Glauben, der sich im blutigen Ritual der inszenierten Schaukämpfe gegen Tiere ausdrückte, dass nämlich die Römer die Kräfte der wilden Natur gebändigt hätten. Während die Römer selbst den Untergang ihres Reiches nicht verstehen und ihn sich kaum vorstellen konnten, bedeutete er letztlich den Sieg der Natur über menschliche Ambitionen. […] In diesem Buch soll dargestellt werden, wie die Angehörigen einer der bedeutendsten Zivilisationen der Geschichte erfahren mussten, dass sie die Natur längst nicht so beherrschten, wie sie gedacht hatten. […]Wir wollen deutlich machen, dass die Blüte Roms auf einem prekären und vorübergehenden Zusammentreffen günstiger klimatischer Bedingungen beruhte. Und noch bedeutsamer war, dass die Strukturen des Reich die ökologischen Bedingungen für das Aufkommen einer neuen Infektionskrankheit begünstigten, die mit bis dahin nicht gekannter Wucht zuschlug.“

Laut Harper hatten die Römer bei ihrem Aufstieg nicht nur ihre Tatkraft und ihr Bundesgenossensystem, nebst Aneignung verschiedener Technologien, Gesellschaftssysteme und Traditionen, auf ihrer Seite, sondern auch das Klima. Neuste Erkenntnisse, so Harper, legen nah, dass in den ersten Jahrhunderten vor und nach Christi ein sehr beständiges und mildes Klima im Mittelmeerraum herrschte (Ägypten bspw. war damals, nicht nur wegen der Nilfluten, eine Art Kornkammer des Reichs), sodass die Expansion der pax romana und die damit einhergehende Befriedung und Prosperität, die zu einem großen Bevölkerungswachstum führten, nicht Hungersnöte und Aufstände, sondern eine allgemeine Blüte zur Folge hatten, die der Stabilität und der Vorherrschaft des Reichs zugutekam.

Um etwa 250 n.Chr. änderte sich aber dann das Klima, wurde unbeständiger, bis es schließlich etwa um 550 n.Chr. zu einer kleinen Eiszeit (ohne große Eisflächen und massive Kälteeinbrüche, aber mit ungünstigeren Temperaturen für die Landwirtschaft) kam. Außerdem erwiesen sich die Lebensart der Römer und ihr weitläufiges Handelsnetz als optimaler Nährboden für Infektionskrankheiten, die sich einige Male (zum ersten Mal in der Geschichtsschreibung) zu Pandemien ausweiteten.

Aus offensichtlichen Gründen ist Harpers Buch, trotz seines eigentlich historischen Themas, brandaktuell: Die Römer wähnten sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, als sich bereits Symptome zeigten, die den Keim ihres Untergangs in sich trugen; nicht anders könnte es uns ergehen, wenn wir die Zeichen unserer Zeit nicht in all ihrer Konsequenz deuten und begreifen. Die Hybris, die das Buch beschreibt, ist zeitlos, weil menschlich.

Dennoch muss man sagen, dass, trotz der Brisanz des Themas, das Buch einen nicht wirklich hineinzieht. Das liegt zum größten Teil daran, dass es einfach nicht gut strukturiert und teilweise auch umständlich verfasst ist; Geschichten und wissenschaftliche Fakten werden bspw. ineinander gemischt, sodass keins von beidem seine volle Faszination/Wucht entfalten kann; es gibt etliche Wiederholungen, von denen man einige noch als Erinnerungsanregung begreifen kann, die meisten aber sind schlicht enervierend.

Hier hat in meinen Augen das Lektorat ein bisschen versagt, das dem Autor hätte raten müssen, bestimmte Dinge nicht andauernd wieder aufzugreifen, sondern lieber ruhen zu lassen und später zu Ende zu führen – und vor allem: sich darauf zu verlassen, dass ein*e interessierte*r Leser*in sich noch erinnert, welche größeren Zusammenhänge bereits 20 Seiten vorher angesprochen wurden.

Natürlich verstehe ich, dass Harper gewissenhaft vorgehen und seine Darstellung nicht missverstanden sehen und keinesfalls andere Thesen in Abrede stellen wollte Aber wie sagte bereits F. C. Delius: „Missverstanden wird man sowieso, meist mit Absicht“. Und das heißt umgekehrt: Man muss sich auch ein bisschen darauf verlassen, dass die Leser*innen nicht alles gleich in den falschen Hals bekommen, sondern mitdenken und keineswegs darauf aus sind, Harpers Thesen infrage zu stellen oder zu vergleichen, zumindest nicht sofort. Eine Betrachtung, vor allem eine historische, braucht einen Fokus und den verliert Harper immer wieder bei dem Versuch, sich der Berechtigung dieses Fokus zu versichern.  

Abgesehen von diesen formellen Schnitzern und auch mit ihnen, bleibt Harpers Buch ein wichtiger Beitrag, nicht nur zur Kulturgeschichte, sondern vor allem zu Themen der Gegenwart. Ähnlich wie Philipp Bloms „Die Welt aus den Angeln“ (das ich wärmstens(!) empfehlen kann), liefert es Aspekte, die zu einer neuen Betrachtung von Geschichte und Gegenwart anregen, ja sogar verleiten sollten. Auf das unser Fatum noch nicht besiegelt sei …

 

 

 

Zu “Der Dreißigjährige Krieg” von Ricarda Huch


Der Dreißigjährige Krieg Egal ob man es einen historischen Roman nennt oder ein anschauliches Geschichtsbuch, beides wird Ricarda Huchs Werk „Der Dreißigjähre Krieg“ nicht ganz gerecht. Es ist das fast schon intime und gleichzeitig monumentale Portrait einer Epoche und ihrer Akteure, ein lebendiges Panorama, ein Glanzstück der historischen Erzählung mit allen dramatischen Kniffen und aller wissenschaftlichen Akkuratesse.

Ursprünglich erschien das Buch in drei Bänden vor dem ersten Weltkrieg unter dem Titel „Der große Krieg in Deutschland“. Grundlage für die Anaconda-Ausgabe ist jedoch die gekürzte zweibände Ausgabe, die nach 1929 einige Auflagen bei Insel erlebte und in dieser einbändig-kompakten Form über 1000 Seiten (mit angenehmer Schriftgröße) fasst.

Zwar sind seit dem Erscheinen des Buches einige andere bedeutende Werke zum Dreißigjährigen Krieg verfasst worden, u.a. gerühmte historische Werke von Georg Schmidt und Peter Wilson (und auch der erste Band von Heinz Dieter Kittsteiners großem Geschichtsprojekt zu Deutschland behandelt diese Zeit und die Folgen), auch in Philip Bloms „Die Welt aus den Angeln“ spielt der Krieg eine Rolle und Daniel Kehlmann hat mit Tyll einen sehr unterhaltsamen, klugen Roman dazu verfasst.

Wer aber beides haben will, die Spannung des Romans und trotzdem die übergreifende historische Perspektive, den lebendigen Einblick in das Wirken und Handeln der Zeit, der sollte nach wie vor zu Huchs Werk greifen. Es ist fesselnd, unterhaltsam und bringt einem die Epoche, ihren Geist und ihren Charakter, wirklich näher.

Zu “Meine Geschichte der deutschen Literatur” von Marcel Reich-Ranicki


Meine Geschichte der deutschen Literatur Unter „Meine Geschichte der deutschen Literatur“ darf man sich keine stringente Rekapitulation vorstellen, es ist auch keine Sammlung von Interviewabschriften oder dergleichen, sondern eine Art Best-of von Reich-Ranickis Artikeln, Rezensionen, Gedichtinterpretationen und Buchbeiträgen, Reden, Vorträgen und Nachrufen aus seiner langen Karriere als Kritiker und Buchautor.

Zur Einführung gibt es direkt zwei sehr spannende Texte über Juden in der deutschen Literatur und Dichtungen von Frauen, die erstaunlich feinfühlig ausfallen, wenn man bedenkt, dass Reich-Ranicki oft und gern auf die Pauke haute. In der Zeit vom Mittelalter bis zur Romantik gibt es viele kurze Portraits, lediglich Lessing, Goethe und Hölderlin bekommen etwas mehr Raum, wobei gerade im Goethe-Teil ein wunderbarer Artikel über seine Positionierung zur Literaturkritik enthalten ist. Auch seine Rühmung von Lessing ist formidable.

Das Kapitel „Vormärz und Realismus“ fällt sehr karg aus, die meisten Seiten bekommt Richard Wagner. Oft liebevoll und klug geht es dagegen bei den Texten zur Literatur von 1900-1933 zu, von Arthur Schnitzler bis Erich Kästner. Deutsche Literatur nach 1945 war dann ja Reich-Ranickis Tagesgeschäft und hier findet sich einfach ein Best of aus dem ebenfalls erschienenen Band „Meine deutsche Literatur seit 1945“ – mit dabei der Blechtrommelverriss (allerdings plus späterem Eingeständnis des Irrtums), Texte zu Böll, Lenz, Bachmann, Walser, allerdings auch einige Überraschungen, wie etwa ein Nachruf auf Ernst Jandl und Texte zu Ulla Hahn und Elfriede Jelinek.

Es ist vermutlich die beste Sammlung von Texten von Reich-Ranicki und wer eine gute Portion Kritikerpapst im Regal stehen haben will, der ist mit dieser Ausgabe gut bedient und hat das Wichtigste beisammen.

Zu Bettina Wilperts “Nichts, was uns passiert”


Nichts was uns passiert „Sie wusste, was passiert war, rational. Aber war es wirklich eine Vergewaltigung? Die hatte sie sich anders vorgestellt: Ein Mann, der einen nachts auf dem Nachhauseweg überfällt, oder der Onkel, der die Nichte als Kleinkind missbraucht. Oder der Nachbar. Aber kein Doktorand, den man kennt, zu dem man Vertrauen aufgebaut hat. Ein Geliebter. Ein Freund.“

Vergewaltigung ist nicht nur deshalb ein brisantes Thema, weil viele von uns mit patriarchalen Denkmustern großgezogen werden, wir alle mehr oder weniger in patriarchalen Strukturen leben und sexuelle Gewalt und sexuelle Nötigung diesem System mit eingeschrieben sind, sondern auch, weil es fast unmöglich ist, sich dem Thema rein rational zu nähern.

Eine Freundin sagte einmal zu mir: „Ich hätte nichts dagegen, wenn man Sexualstraftäter einfach am nächsten Baum aufknüpfen würde. Es gibt solide Rechtfertigungen und mildernde Umstände für viele Arten von Verbrechen, sogar Mord, und deshalb sollten solche Verbrechen akribisch verhandelt werden, aber es gibt schlicht keine Rechtfertigungen und mildernden Umstände für Vergewaltigungen, von mir aus könnte man mit den Tätern kurzen Prozess machen.“ Ich habe damals nichts erwidern können und bis heute fällt mir nichts ein, was ich erwidern könnte – wenn man mal von der Leier über die Wichtigkeit des Rechtsstaats, die Wichtigkeit des menschlichen Umgangs mit dem Unmenschlichen absieht, die ich sonst gern und meist auch mit Überzeugung anstimme.

Aber die Wahrheit ist, dass auch mich diese Verbrechen ungeheuer wütend machen, auch ich kann sie nicht rational betrachten, möchte nicht rational argumentieren, wenn es um Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Nötigung geht. Und gerade weil dieses Thema dermaßen aufgeladen ist, ist es gut, dass es Bücher wie den Debütroman von Bettina Wilpert gibt.

In diesem Roman, der aus der Perspektive einer unbekannten Erzählerin (oder eines unbekanntes Erzählers, ich glaube, selbst das wird nicht spezifiziert) geschrieben ist, die (der) alle anderen Figuren zum zentralen Vorkommnis, der Vergewaltigung, und der Vorgeschichte und den Folgen „interviewt“, bekommt man als Leser*in die ganze Mischung aus Gefühlen, Fakten, Zweifeln, Überlegungen vorgesetzt, die sich für das Opfer und den Täter, sowie das soziale Umfeld, aus dem Tatbestand/Vorwurf der Vergewaltigung ergeben.

Anna und Jonas lernen sich in der Zeit der Fußball-WM 2014 kennen. Nach einem Abend mit viel Alkohol und Debatten über Literatur, den Ukraine-Konflikt und andere Themen, haben sie das erste Mal Sex. Aus diesem One-Night-Stand entwickelt sich nichts Größeres, schließlich begegnen sie sich auf einer Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes wieder, reden und trinken den ganzen Abend. Am Ende ist Anna viel zu betrunken, um nach Hause zu gehen und der Freund und Jonas bringen sie in Jonas Zimmer. Später, so behauptet Anna, vergeht sich Jonas, obwohl sie mehrmals Nein sagt, an ihr. Am Morgen flüchtet sie aus dem Zimmer, ohne ihn zu konfrontieren.

Jonas fällt angeblich aus allen Wolken, als er, erst einige Wochen später, durch eine Anzeige mit den Vorwürfen konfrontiert wird. Schnell sind die Frontverläufe gezogen und viele Stimmen versuchen für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen, Beteiligte, Freund*innen und Familienangehörige schildern ihre Sicht auf die Dinge. Fakten werden gewendet, Widersprüche tun sich auf, klar und deutlich bleibt jedoch die Verletzung, die Anna erlitten hat, die Erschütterung, die man ihr ansieht.

Es ist beeindruckend, wie Wilpert in ihrem Roman die zentralen Problematiken des Themas anhand einer Geschichte zum Ausdruck bringt. Obgleich wohl viele Leser*innen dazu neigen werden, Annas Version zu glauben, kann man dank ihrer umsichtigen und genauen Darstellung auch Verständnis aufbringen für die Menschen, die nicht glauben wollen, dass Jonas etwas dergleichen getan hat, die für eine Unschuldsvermutung plädieren (Dennoch analysiert man natürlich permanent deren Motive).

Das Buch wirft einige Fragen zum derzeitigen Umgang mit Sexualstraftaten auf, ist aber vor allem die gelungene Darstellung eines Falls, wie er wohl tatsächlich vorkommt (leider vielleicht sogar öfter als vermutet), und all der emotionalen Verwicklungen, menschlichen Unsicherheiten, die damit verknüpft sind, und den Positionen, die sich daraus ergeben. Dass das Buch durchgehend bei der Darstellung bleibt, ohne Wertung von höherer Stelle, und dennoch die ganze ungeheuerliche Dimension des Themas enthüllt, das ist wirklich (again) beeindruckend. Und große Literatur.

„Jonas war kein böser Mensch. Er hatte etwas Schlimmes getan, das war ein Unterschied. Er war kein Teufel, und er müsste nicht wie einer behandelt werden. Nein, wahrscheinlich könnte sie ihm nie verzeihen, sagte Anna.“

Zu “Die Macht der Schrift” von Martin Puchner


Die Macht der Schrift Schon immer war die Schrift ein Machtinstrument – man könnte allerdings darüber streiten, wann sie mächtiger war: heute, wo sie in aller Munde (pardon: auf allen Bildschirmen) ist und jede/r sich ihr bedienen kann, um Informationen festzuhalten und Geschehnisse darzustellen, aufzurufen, zu schmähen, zu schmücken, oder einst, ganz am Anfang, als sie noch vom Nimbus des Magischen umgeben war, geradezu einem Zaubertrick glich (ein Zustand, den jede gute Literatur möglicherweise wieder zu erlangen sucht …)

Denn so beginnt die Geschichte der Schrift: der Sage nach soll sich der erste Herrscher, der von einem anderen Herrscher eine in Keilschrift abgefasste Drohung erhielt, sofort diesem unterworfen haben, als er hörte, diese seltsamen Zeichen seien das in Ton gepresste Sprechen seines Widersachers.

Geschichten (und auch Drohungen) begleiten die Menschheit, seit sie komplexere Formen der Kommunikation besitzt, aber der Übergang von der mündlichen Tradition zu schriftlichen Werken markiert einen Wendepunkt und führt eine Entwicklung an, die immer noch andauert und mit dem Internet und der digitalen Verschriftlichung einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Martin Puchner erzählt in seinem Buch die Geschichte dieser Entwicklung und wie die Literatur, also das verschriftliche Erzählen, die Geschicke der Menschheit bedingt und geprägt hat. Er beginnt mit den Grundlagentexten (Ilias, Gilgamesch-Epos und Bibel) und arbeitet sich von dort bis in die Moderne vor, selbst Geschichten erzählend und dabei die realen Kontexte und Folgen offenbarend.

Herausgekommen ist ein prächtiges, gewissenhaftes Werk, das gelehrig und mitunter auch spannend ist, in jedem Fall aber genau das einlöst, was es verspricht: es erzählt von der Macht der Schrift, für uns ein Alltagsphänomen, in Wirklichkeit bis heute aber eine unerhörte Erscheinung, in der sich große Kräfte bündeln, wenn auch diese Kräfte oft verschlungene Wege gehen. Wer bspw. ein Fan der Bücher von Alberto Manguel ist, wird auch hier eine ähnlich anregende, verständlich geschriebene, wenn auch vielleicht nicht ganz so geschickte Darstellung vorfinden.

Zu den Reden von Michael Köhlmeier


erwarten sie nicht

Es war eines der wenigen Ereignisse, die mir in den letzten Jahren wirklich Mut gemacht haben: Michael Köhlmeiers Rede in der Wiener Hofburg am 04. Mai 2018. Da sprach ein Schriftsteller – kein/e politische/r Kabarettist/in im Gewand der Ironie, kein/e NGO-Vertreter/in aus der Opposition, sondern ein Künstler aus der Mitte der Gesellschaft – offen gegen die Verhältnisse, gegen die politische – und indirekt auch gegen deren Verlängerungen in der gesellschaftlichen – Kultur. Und fast noch wichtiger als das Thema seiner Rede (die Geschichtsvergessenheit der aktuellen österreichischen Regierung, ihre fragwürdigen Verlautbarungen und jüngsten Maßnahmen) war ein Satz, der nun dieser Sammlung mit neun Reden als Titel dient.

„Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle“, sagt Köhlmeier in der Rede. Dieser Satz war an die Regierenden gerichtet, aber er ist deswegen so schneidend, weil er sich darüber hinaus auch an die Regierten richten konnte. Dummstellen (auch als Synonym für Wegschauen) hat in unserem Informationszeitalter und in unseren Wohlstandsgesellschaften Hochkonjunktur – oft ist der Grund Ignoranz, manchmal auch Überforderung, Kapitulation. Wer sich dumm gibt, seine Dummheit schützt und pflegt, der kommt mit bestimmten Debatten nicht in Berührung und kann glauben, er hätte mit vielen Dingen nichts zu tun. Kenntnis zieht die Frage des Verhaltens, der Position nach sich, keiner kann sich dieser Konsequenz entziehen (und es wird oft versucht, meist durch Leugnung oder Verdrehung der Kenntnis).

Köhlmeier ergriff die Gelegenheit zu zeigen, wie das ist, wenn man sich in der Öffentlichkeit, bei einem offiziellen Anlass, nicht dumm stellt, sich nicht servil gibt. Es war Stefan Zweig, der einmal gesagt hat: „Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig.“ Ob er damit nun recht hatte oder nicht, Köhlmeiers Rede entsprang eben nicht der Geltungssucht, sondern der Gelegenheit. Er nutzte sie und mahnte.

„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.“

Seine Rede war dennoch keine Kampfansage und auch die übrigen Reden sind es nicht. Es sind Lektionen in Aufmerksamkeit, Menschlichkeit, Lehrstücke gegen das Vergessen, Elegien der Dialektik – und natürlich ein Stück weit das, was gute Literatur immer ist: Mittel gegen die Scheuklappen und die Ausreden der Ignoranz, gegen die Einseitigkeit.

Zum Beispiel jene Rede, die er 2014 bei der Verleihung des Humanismus-Preis hielt. Eine eher kurze Rede, in der er nach der Grundlage für humanistisches Verhalten fragt und auf den letzten Gesang der Ilias von Homer zu sprechen kommt. Dort schleicht sich Priamos, der König von Troja, in das Lager der Griechen, ins Zelt des Achilles, um ihn um den Leichnam seines Sohnes Hector zu bitten, den Achilles vor kurzem erschlagen hat. Der trauert noch um seinen Freund Patroklos, der wiederum von Hector erschlagen wurde. Als sie sich begegnen, erkennen sie, dass gerade sie den Schmerz des jeweils anderen am besten verstehen können.

„Sich des anderen zu erbarmen heißt, das gemeinsame Los aller Sterblichen an sich selbst zu erfahren“

Auch als Redner hält Köhlmeier an den Werten und der Aufgabe des Schriftstellers, des Erzählers fest. Was u.a. heißt: nicht nur den Spiegel vorhalten, sondern auch in ihn hineinschauen; den Spiegel nicht aus Eitelkeit ergreifen, sondern weil er etwas birgt, was wir normalerweise nicht zu Gesicht bekommen, mit dem wir selten konfrontiert werden. In einigen Reden spricht Köhlmeier über das Erbe des 20. Jahrhunderts, darüber wie sich Apathie und Schrecken angenähert haben, verschmolzen sind – so fest mittlerweile, dass sie kaum noch zu trennen sind.

„Wir sind begriffslos, seit wir das Böse nicht mehr von dem unterscheiden können, das uns ansieht, wenn wir in den Spiegel schauen.“

Köhlmeier erzählt von seiner Mutter und von dem Gegensatzpaar Leben und Historie. Er spricht über Toleranz und Individualität, über Empathie und Verdrängung. Er redet über Verbrechen und er redet über die Schönheit. Und alle seine Reden weisen uns, unter der Hand, an, uns nicht nur unserer Feinde zu vergewissern, sondern vor allem dem, was wir bewahren und bewirken wollen. Thomas de Quincey schrieb: „Feinde glauben, einander zu kennen. Es besteht die Gefahr, dass sie diesen Kenntnissen irgendwann mehr Bedeutung beimessen als den eigenen Erfahrungen.“ Sich nicht dummstellen will gelernt sein, aber ebenso, zu erkennen, dass die Wirklichkeit komplexer ist als der eigene Einblick in den Verlauf der Dinge.

Und gegen wen wir kämpfen darf nie verdrängen wofür wir kämpfen. Hier hat Köhlmeier in einer Rede eine schöne Anekdote parat:

„Mitten im Krieg gegen Hitler wurde im britischen Unterhaus der Antrag gestellt, das Kulturbudget zu kürzen. Churchill, Premierminister und Verteidigungsminister, empörte sich dagegen: „Wofür kämpfen wir denn?“, soll er ausgerufen haben. Und der Antrag war vom Tisch.“

Zu Julian Barnes “Der Lärm der Zeit”


lärm der zeit Julian Barnes beste Romane, zu denen auch “Der Lärm der Zeit” zählt, sind oft eigenwillige Kompositionen. Man merkt ihnen aber an, dass es Barnes dabei nicht um Formexperimente geht, sondern darum eine Geschichte genau auf die Art und Weise zu erzählen, die die wesentlichen Motive und Stimmungen, die hervorgehoben werden sollen, am besten trägt und für die Lesenden greifbar macht.

In “Der Lärm der Zeit” ist diese Form ein Gedankenstrom, ein Monolog, der einen sprunghaften, anknüpfenden und wabernden Erinnerungsprozesses simuliert. Der sich da erinnert, war einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Von drei Zeitpunkten ausgehend, werden seine Lebens- und Gedankenwelten vor uns ausgebreitet, immer wieder von wiederkehrenden, variierten Motiven durchzogen, wie bei einem Musikstück.

Das erste Mal: 1936 – gerade ist Schostakowitsch beim Regime um Stalin in Ungnade gefallen und rechnet jeden Moment mit seiner Verhaftung, weshalb er mit gepackten Koffern beim Fahrstuhl auf die Beamten wartet, Nacht für Nacht. Es geht um seine erste Oper, die in der größten russischen Zeitung verhöhnt und als westlich-dekadent gebrandmarkt wurde. Er droht dem Wahn der Denunziation und den großen Säuberungen Stalins zum Opfer zu fallen
Das zweite Mal: 1948 – nach dem großen Krieg und seiner Etablierung in der UdSSR kehrt er gerade aus den USA von einer Friedenskonferenz zurück. Er ist wiederum teilweise in Ungnade gefallen, sein Name ist von der Partei und dem Regime nie gänzlich reingewaschen worden. Er fürchtet, dass alles wieder von vorne beginnt, weiß immer noch nicht, wie er sich gegen das Regime wehren soll.
Das dritte Kapitel erstreckt sich dann nicht wie die vorangegangen hauptsächlich rückwärts, sondern von 1960 bis zu seinem Tod.

In allen Kapiteln sind die gewählten Momente und die räumlichen Festlegungen (das erste Kapitel heißt “Auf der Treppe”, das zweite “Im Flugzeug”, das dritte “Im Auto”) nur Ausgangspunkte für die Rückschau auf die vor den Kapiteln liegenden Jahre und die Schilderungen der Verstrickungen und Auseinandersetzungen zwischen Schostakowitsch und dem jeweiligen sowjetischen Regime. Er will vor allem Musik machen, muss sich aber immer vor den jeweiligen Herrschenden verantworten, wird von ihnen gefordert, bedroht, gehätschelt oder getadelt. Ständig lebt er mit dem Rücken zum Abgrund.

Barnes Roman ist das meisterhafte Porträt eines Künstlers in den schwierigen Wassern des 20. Jahrhunderts. Mit Schostakowitsch hat er sich dabei einen Charakter, einen Menschen ausgesucht, der weder ein großer Dissident, noch Anhänger einer Ideologie oder Politik war. Er war auch kein klassischer Mitläufer und kein unbequemer Geist im eigenen Haus. Das Buch zeigt auf, wie die jeweilige politische Macht sein Leben bestimmt und wie er versucht, zumindest seine Liebsten, zumindest seine Integrität und am Ende zumindest seine Musik zu retten. Er wird nicht ermordet, nicht eingesperrt, nie wirklich angegangen. Aber Stück für Stück zermürbt das System auch ihn, begleitet ihn zumindest immer, egal wo er hingeht. Er, der als Mensch gern der Musik gehören würde, seinen eigenen Gefühlen, den Menschen, denen er sich anvertrauen, mit denen er zusammen sein will, gehört doch letztlich immer dem Staat, in dem er lebt.

Das Großartige an diesem Buch ist, dass es den Menschen Schostakowitsch nicht nur darstellt, nicht nur seine Biographie einfühlsam wiedergibt. Sondern dass es eines dieser Bücher ist, denen es gelingt, den Lärm der Zeit, die profanen Kräfte der Politik und des Weltgeschehens spürbar zu machen, aber währenddessen vor allem über das menschliche Wesen, das menschliche Glück, die menschliche Würde zu sprechen, davon Zeugnis abzulegen. Barnes Schostakowitsch ist keine historische Figur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut und bleibt es von der ersten bis zur letzten Seite; er wird nicht als tragisches Beispiel inszeniert – Barnes verleiht seinem Leben wirklich eine Stimme, eine unverwechselbare. Diese große Leistung, die man leicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen könnte, macht das Buch zu etwas Besonderem.

Zu Amélie Nothombs neuem Roman “Happy End”


Happy End Es ist kein Kitsch, aber es ist verdammt nah dran! Diese Bemerkung träfe wohl auf einige Bücher von Amélie Nothomb zu und beschreibt außerdem recht gut den unverblümten Sinn für Schönheit und Sinnlichkeit, der ihnen entspringt und den Hauch von frecher Genialität, der sie umgibt.

Amélie Nothomb ist nämlich eine Meisterin der Direktheit, der ungekünstelten Intensität und auch der Brechstangenpsychologie, letztere wendet sie jedoch mit so viel Feingefühl, Witz und einem Gespür für letzte Ambivalenzen an, dass man sie ihr nicht übel nimmt, ebenso wenig wie die Schlichtheit ihrer Plots, sondern vielmehr staunt, wie sie mit diesen einfachen Aufzügen den Sehnsüchten und Dilemmas des Menschlichen so nah kommt.

Nothomb hat nur wenige Themen, aber Schönheit und Hässlichkeit (und ihre Gegenüberstellung) sind eines davon (sie hat diesen Topos schon in Büchern wie “Quecksilber” aufgegriffen). In “Happy End” hüllt sie das Thema in ein paar leicht märchenhafte Faktoren und erzählt, unabhängig voneinander, die Geschichten zweier Einzelgänger*innen, einer strahlenden Schönheit und einem von Geburt an hässlichen Jungen, die beide durch ihr Äußeres auf sich selbst zurückgeworfen sind und sich schließlich mehr in sich selbst als in der Welt einrichten. Während die Schönheit Trémière später Juwelen für sich entdeckt, besser: die Kunst sie zu tragen, verbringt Déodat sein Leben mit dem Beobachten und Studieren der Vögel. Beide sehnen sich, irgendwann einmal mehr verstanden zu werden als bisher. Aber wie soll das möglich sein, schwebt ihr Aussehen doch über ihnen – aber nicht einmal das scheint ein Garant für ein ungeplagtes Herz zu sein.

Eine Kunst, die Nothomb neben Leichtigkeit, Witz und Esprit beherrscht, ist die Kunst der Faszination. Ich werde wohl nie zum Vogelversessenen werden, aber für ein paar Seiten hat mich Nothomb zu einem gemacht (wie sie mich für kurze Zeit schon zu so vielem gemacht hat: zum Champagnersäufer, Briefeschreiber, zum Süßigkeitenanhimmler, zum Japantouristen, ja, zum Monster). Sonderlinge bevölkern ihre Romane, aber sie streift sie uns ohne Schwierigkeiten über und ihre Eigenwilligkeit wird zur Selbstverständigkeit, zum Herz-hochschlagen-lassenden Existenzinhalt.

“Happy End” ist ein weiteres Glanzstück, das kein Nothomb-Fan sich entgehen lassen sollte und jeder Neueinsteiger bedenkenlos zur Hand nehmen kann. Ein Hoch auf Amélie Nothomb!

Zu “Aleppo literarisch”, herausgegeben von Mamoun Fansa


Aleppo literarisch “Aleppo blickt auf 5000 Jahre Kulturgeschichte zurück. Die Stadt zählt zu den ältesten durchgehend besiedelten Städten der Welt. […] Was davon in den vergangenen Jahren des Krieges zerstört wurde, wird uns immer wieder vor Augen geführt.
Die nicht minder tiefgreifende Zerstörung immaterieller Kultur bleibt dabei häufig ‘unsichtbar’. Diese möchte das kleine, aber umso liebevoller gemachte Buch in den Blickwinkel des Lesers rücken.”

Und dabei ist der Titelzusatz “literarisch” noch zu kurz gegriffen. Es geht nicht nur um Geschichten und Gedichte aus und über Aleppo, sondern auch um Musik, Sprichworte, Kinderspiele – um nur einige Beispiel zu nennen.

Von James Joyce ‚Ulysses‘ sagt man, dass die ganze Stadt Dublin, würde sie zerstört, mit seiner Hilfe wieder aufgebaut werden könnte. Nun schwebte Dublin die letzten Jahrhunderte nie in die Gefahr, zerstört zu werden (ironischer Weise tragen allerdings die EU-Übereinkommen für Migration den Namen dieser Stadt).

Ganz anders ist es klarerweise bei Aleppo. Und obgleich dieses Büchlein sicher nicht einen Großteil der immateriellen Seele von Aleppos Kultur fasst, ist doch allein schon der Versuch ein beeindruckendes Zeichen und das Buch eine gelungene Umsetzung dieses Zeichens.

Es kommen hauptsächlich Exilanten und Außenstehende zu Wort, allerdings sind sie alle vertraut mit der Geschichte und oft auch mit dem Angesicht Aleppos; die Texte sind in jeder Hinsicht Liebeserklärungen, Spezialitäten, keine wissenschaftlich-neutralen Beiträge, die nach Auftragsarbeit klingen. Der Band ist wunderbar bebildert, ein echter Schatz. Neben Gedichten, Streifzügen, gibt es auch Beiträge zur Geschichte Aleppos, die spannend sind.

Fazit: ein wunderbares Buch, um Aleppo ein klein wenig kennenzulernen.

Zu “Wie Demokratien sterben”


Wie Demokratien sterben “Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die eben jenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne. […] Wenn die Zusammenbrüche von Demokratien in der Geschichte uns eines lehren, dann, dass extreme Polarisierung für Demokratien tödlich ist.”
Aus dem Vorwort des Buches

“So geht also die Freiheit zugrunde – mit donnerndem Applaus.”
Padmé Amidala, Star Wars Episode III

Wenn man popkulturelle Referenzen nicht scheut, dann könnte man die letzten 20 Jahre als palpatinische Periode bezeichnen. Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, Hugo Chávez und nicht zuletzt Donald Trump – dies nur die populärsten Beispiele für Staatschefs, die demokratisch gewählt wurden und danach begangen, die demokratischen Strukturen so zu schwächen oder zu verbiegen, dass sie ihren Machterhalt sichern und keine offene, pluralistische Demokratie mehr gewährleisten. Auch in Ländern, in denen noch keine Autokraten regieren, gibt es verstärkt autokratische Bewegungen. Noch ist die Welt nicht so düster wie das Titelblatt, aber wer wirklich in einer offenen Gesellschaft leben will, der hat es dieser Tage in vielen Ländern der Welt immer schwerer.

Von einer Krise der Demokratie zu reden ist also angebracht, aber letztlich steckte die Demokratie schon immer in der Krise – nur weil sie das fairste und vernünftigste, ja sogar beste politische System ist, heißt das nicht, dass sie auch das einfachste ist oder das am wenigsten anfällige. Ganz im Gegenteil. Demokratien sind komplex und stets bedroht. Schon kleinste Ungleichgewichte oder kurzfristige Veränderungen können sie aus der Bahn werfen. Und die Demokratie ist zwar oft gegen Angriffe von außen, aber meist sehr schlecht gegen Angriffe von innen gewappnet. Was einmal demokratisch legitimiert ist, kann die Demokratie an empfindlichen Stellen erreichen und ihr dort schaden.

“Wer nicht aus der Geschichte lernt, der ist gezwungen, sie zu wiederholen” – dieser Aphorismus könnte in fetten Lettern als Credo auf der ersten Seite dieses Buches stehen. Denn die Autoren unternehmen nicht nur eine Analyse der Gegenwart, die sich vor allem auf Trump und seine Gefahr für die amerikanische Rechtsstaatlichkeit konzentriert, sondern greifen viele anschauliche Beispiele aus der Historie auf, um zu zeigen, wie Demokratien in den letzten 100 Jahren “gestorben” sind, wie es dazu kommen konnte.

Dabei werden im Akkord Nägel auf dem Kopf getroffen. Zu sagen, dieses Buch sei schlicht gut, wäre eine Untertreibung und doch könnte man es eigentlich dabei belassen: es ist schlicht ein gutes Buch, im Schreibstil, in der Argumentation, in der Anschaulichkeit. Die Autoren argumentieren keinen Moment lang ideologisch, sondern stellen lediglich fest, führen an, belegen. Sie weisen undemokratisches Verhalten nicht nur in den faschistischen Regimen der 20er, 30er und 40er Jahre oder den heute von Autokraten regierten Staaten nach, sondern auch in den US-amerikanischen Südstaaten der 1880er und 1890er Jahre und an anderen, teilweise überraschenden Orten.

Das ganze Buch erarbeitet ein klares Spektrum antidemokratischer Instrumentarien und ermittelt viele alarmierende Beispiele für ihre Anwendung in unserer Zeit. Dabei ergeben sich (zumindest für mich) wie von selbst Parallelen zu anderen Erscheinungen, auch in der eigenen Demokratie.
So martialisch der Titel auch klingen mag – er ist gerechtfertigt. Demokratien können sterben und wer ihre drohende Anfälligkeit nicht bemerkt oder sich nicht dagegen wehrt, sie als krank oder als angeschlagen zu betrachten, der hilft durchaus dabei sie zu töten. Donald Trump kam an die Macht, obgleich er in vielerlei Hinsicht als problematische Figur bekannt war – viel zu selten wurde er als antidemokratisch wahrgenommen und von diesem Aspekt geht die eigentliche Gefahr bei ihm aus.

Wieder mal so ein Buch, das eigentlich jeder lesen sollte. Es werden wohl wieder nur die lesen, die eh schon ahnen, was auf uns zurollt. Vielleicht ist dies hier nur ein weiteres Testament. Ich hoffe, dem ist nicht so.