Tag Archives: Gesellschaft

Das sozialistische Licht in finsteren Zeiten


suhrkamp_jacobin.jpg itok=HQsq9Jl8

Während der Großteil der winzigen amerikanischen Linken im Jargon und Klischees gefangen blieb und sich darauf beschränkte, ein ums andere Mal vergangene Schlachten neu zu inszenieren, die für den Durchschnittsamerikaner keinerlei Relevanz mehr haben, machte sich Jacobin daran, das sozialistische Projekt durch eine unverbrauchte Sprache und Ästhetik zu bereichern, und schreckte nicht davor zurück, sich gelegentlich auch einmal über sich selbst lustig zu machen. (Aus dem Vorwort)

Obwohl (oder gerade weil) Donald Trump derzeit im Weißen Haus regiert und seine Gegenkandidatin bei der letzten Wahl eher die konservative Seite der Demokratischen Partei repräsentierte, ist in den USA in den letzten Jahren wieder eine stärkere linke Bewegung entstanden, die sich nicht scheut Worte wie „Umverteilung“, „Sozialismus“ oder den Namen Karl Marx in den Mund zu nehmen.

Als Flaggschiff dieser Bewegung wird (neben Persönlichkeiten wie Bernie Sanders und gewerkschaftlichen Gruppen) immer wieder das Magazin Jacobin genannt, dass 2010 von dem damals 21jährigen Bhaskar Sunkara gegründet wurde. Mittlerweile hat die Print-Ausgabe eine Auflage von 30.000 Stück und die Website monatlich mehr als eine Millionen Klicks. Noam Chomsky nannte die Zeitschrift „a bright light in dark times“ und mit dem Ada Magazin ist sogar schon eine Schwesterzeitschrift in Deutschland entstanden.

Im Suhrkamp Verlag ist nun eine von Loren Balhorn (Redakteur bei Ada und Jacobin) und Bhaskar Sunkara herausgegebene Anthologie mit Beiträgen aus acht Jahren Jacobin erschienen – Interviews, Essays, Streitschriften, aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer.

In diesem Modell der sozialen Gerechtigkeit lautet das Ziel also nicht, dass die Reichen nicht so viel und die Armen mehr verdienen sollten, sondern dass die Reichen verdienen können, so viel sie wollen, solange ein angemessener Prozentsatz von ihnen Frauen sind oder Minderheiten angehören.“ (Walter Benn Michaels)

Den Anfang macht ein Interview mit Walter Benn Michaels aus dem Januar 2011. In einem sehr ausgewogenen Gespräch, bei dem der Interviewer (Sunkara) oft kritisch nachfragt, vertritt der Literaturtheoretiker und Autor Michaels die Ansicht, dass die Gleichberechtigungsdebatten und -gesetzte in den USA neoliberale Positionen stützen, zumindest aber von ihnen instrumentalisiert werden. Seine These ist, dass die soziale – oder anders gesagt die Klassen- – Frage die vorrangige ist und der Umsturz der neoliberalen und kapitalistischen Hierarchien das wichtigste Ziel, das letztlich allen Emanzipationsbewegungen zugutekommt.

Mike Beggs zeigt in seinem Text „Ein Zombie namens Marx“ wie sich die Philosophien und Ideen des Vordenkers auf den Gebieten “Kapital” und “Arbeit” in die heutigen Zeiten integrieren lassen, wo sie anpassbar sind und wo sie ganz neu gedacht werden müssen.

Sehr gelungen ist auch der nächste Essay, in welchem der Autor Peter Frase vier mögliche Zukunftsversionen für unsere heutigen Gesellschaften entwirft, vor allem anhand von zwei grundsätzlichen Parametern: 1. sind es Gesellschaften die noch egalitärer oder noch hierarchischer geworden sind? Und 2. sind es Gesellschaften, deren technologische Errungenschaften die Ressourcenfrage gelöst haben oder sind es Gesellschaften, die sich in dieser Frage mit einer Knappheit konfrontiert sehen? Die vier möglichen Kombinationen sind nicht nur interessante Gedankenspiele, Dystopien und Utopien, sondern zeigen vor allem, welche Anlagen in unseren Gesellschaften bereits vorhanden sind – und sich ohne ein Umschwenken und Überdenken verselbständigen könnten.

Der Kabarettist Volker Pispers sagte in einem seiner letzten Programme (in etwa): Wer wissen will, auf was für Zustände wir uns in Europa zubewegen, wenn wir Dynamiken wie die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich und die immer größere Abwertung der Arbeit nicht in den Griff kriegen, muss nur über den Ozean blicken: die USA sind uns ein Stück voraus was den radikalisierten Kapitalismus angeht; aber kein riesiges Stück. Frase Text zeigt, was man sich, auf der Grundlage der US-amerikanischen Realität, für Szenarien vorstellen kann, ja: vorstellen muss.

Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur ungleich verteilt. (William Gibson)

In „Rot und Schwarz“ setzt sich Seth Ackermann mit den zeitgenössischen Möglichkeiten und Perspektiven, sowie den historischen Versäumnissen der Planwirtschaft auseinander.

Nach einem kurzen Rundumschlag vom Herausgeber Bhaskar Sunkara, der die Selbstverliebtheiten der zersplitterten, linken Bewegung anprangert und einen knappen Abriss der gemeinsamen Themen, auf die man sich konzentrieren sollte, gibt, folgt ein Text von Alyssa Battistoni mit dem Titel „Zurück in keine Zukunft“.

Dieser Text hat es in sich, denn im Prinzip ist seine Kernaussage: Es ist eigentlich schon zu spät. Die Mühlen mahlen so schnell … selbst wenn man sofort mit aller Kraft versuchen würde sie zu stoppen, könnte das Getriebe immer noch genug Schwung haben, um unsere Zukunft zermalmen. Und wir sind weit davon entfernt, das Getriebe anzuhalten – wir streiten meist darüber, wo das Wasser herkommen soll, das die Mühlen antreibt.

Battistoni weist im Zuge ihrer schonungslosen Klarstellung auf ein Grundproblem des Lebens in kapitalistischen Systemen hin: den Leuten wird gesagt, sie können es schaffen (besser wäre vielleicht, man würde ihnen sagen, dass der Planet, dass die Menschheit es noch schaffen kann, wenn…), wenn sie sich anstrengen, gut genug sind.

Dieser auf die persönliche Zukunft gerichtete (und auf sie verengte, fixierte) Blick, in der man zu reicheren Höhen emporsteigt – die so tun als wären sie durch keine Umstände bedingt, als ständen sie einfach jedem zur Verfügung – verstellt den Menschen den Blick auf die allgemeine Gegenwart und die allgemeine Zukunft. Darüber hinaus: die Zugänge zu dieser ominösen, reicheren Zukunft sind (sofern es sie überhaupt gibt) limitiert und oft längst schon reserviert. (Man fühlt sich an Kafkas Torhüter-Parabel erinnert …)

Fazit: Wir haben immer noch nicht begriffen, was auf dem Spiel steht.

Wenn man die Leute ausbeuten will, gibt es keinen besseren Trick, als sie davon zu überzeugen, dass sie lieben, was sie tun.

Miya Tokumitsus Text widmet sich der innewohnenden Heuchelei von Aphorismen wie „Tu, was du liebst“ oder „Wenn du magst, was du tust, musst du nie arbeiten.“ Sie sieht darin einen Trick, der eine Flut von freiwilliger Selbstausbeutung und letztlich auch eine Abwertung verschiedenster Arbeitsbereiche zur Folge hat. Ist man ein schlechterer Mensch, wenn man seine Arbeit nicht liebt? Drückt sich Liebe in bedingungsloser Hingabe, in Qualität, in Pflichtbewusstsein aus? Wer legt das fest? Fragen wie diese, und andere, verhandelt der Text.

Sam Gindin legt in seinem Text „Den globalen Kapitalismus beseitigen“ eine Liste mit neun Dingen vor, die einem helfen, sich im Bauch der Bestie zu organisieren, von der Mikro- bis zur Makroebene; der Text punktet vor allem durch seine Klarstellungsrhetorik.

Der folgende Beitrag von Adam Stoneman ist eine ebenso klare Stellungnahme, die sich gegen den Geltungskonsum von Rich Kids auf Instagram richtet, dessen Wurzeln er bis in 18. Jahrhundert (zu Ölgemälden, auf denen die bessere Klasse abgebildet ist) zurückverfolgt.

Keeanga-Yamahtta Taylors Beitrag schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Walter Benn Michaels im ersten Interview. Auch er sieht die Emanzipation von Minderheiten, besonders der afroamerikanischen Bevölkerung, als etwas, dass sich nicht von der Suche nach einer allgemeinen Lösung für soziale Fragen trennen lässt. Er zitiert Martin Luther King, der in seinem letzten Gespräch mit Harry Belafonte sagte:

Wir haben lange und hart für die Integration gekämpft, was in meinen Augen richtig ist, und ich weiß, dass wir gewinnen werden. Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass wir uns in ein brennendes Haus integriert haben.

Zwei letzte Highlights: als erstes der Text von Charlie Post, der in „Wie Donald an die Macht kam“ seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass es vor allem eine enthemmte, unter den Folgen der neoliberalen Ordnung leidende Gruppe von Mittelschichtlern war, die Trump an die Macht gebracht hat – aus Furcht vor dem sozialen Abstieg ergriffen sie die Gelegenheit, einen Mann zu wählen, der versprach, für weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und für eine bessere Lage der amerikanischen Wirtschaft allgemein zu kämpfen.

Auch wenn das Argument als alleinige Begründung wohl nicht greift, offenbart es einen wichtigen, immer wieder problematischen Effekt in neokapitalistischen Gesellschaften: Die Menschen, die in ihnen leben, stellen meist nicht die generelle Verteilung des Wohlstands infrage, sondern fürchten nur, dass ihr eigener Anteil an diesem Wohlstand sinken könnte. Sie glauben, sie müssten gegen die sein, die ihren Platz in der Hierarchie einnehmen könnten – statt zu begreifen, dass die Hierarchie das größte, vielleicht sogar einzige Problem ist.

Das zweite Highlight ist ein Interview mit Bernie Sanders, das ebenso wie das erste ausgewogen und kritisch daherkommt und Sanders als einen klugen Denker, eine große Persönlichkeit zeigt, aber eben auch als einen schon auf seine Themen und Positionen eingeschworenen Menschen.

Allen muss die Wirtschaft nutzen, nicht nur den Reichen. (Bernie Sanders)

Diese Anthologie liefert sehr wichtige Beiträge zu aktuellen Debatten, vor allem was Kapitalismus und Neoliberalismus angeht. Jacobin ist zwar ein US-amerikanisches Magazin, aber viele Themen sind in unserer globalisierten Welt auch auf europäische Kontexte anwendbar. Einige Beiträge erschließen sich wohl nicht jeder/m Leser*in – ich zumindest hatte bei einigen Ausführungen zur Wirtschaftstheorie meine Probleme. Dennoch ist es im Kern eine Anthologie, die jede Person lesen kann und man nimmt mit Sicherheit immer etwas mit.

Zu “Die Schule am Meer” von Sandra Lüpkes


Die Schule am Meer Es ist schon ein besonderes Buch, mit dem Sandra Lüpkes uns da beglückt hat. Ich habe schon einige Bücher über die Zeit der Weimarer Republik gelesen und auch einige Romane, die in dieser Zeit spielen (hervorzuheben sind hier u.a. „Die neuen Bekenntnisse“ von William Boyd und „Das Brandmal“ von Emmy Hennings, Lion Feuchtwangers „Erfolg“ und Romane von Irmgard Keun und Vicki Baum).

Die meisten dieser Bücher spielen jedoch in Städten (meist in Berlin) oder haben deren Bevölkerung im Blick und das Gesellschaftspanorama ist dadurch immer etwas zu fixiert, zu wenig fließend, da vor allem Gruppen genannt und gegeneinander ausgespielt/sich gegenübergestellt werden. Dies eben ist die große Qualität von „Die Schule am Meer“, das hier, in dieser Darstellung einer Enklave, eines Mikrokosmos, alle bekannten Konflikte der Zeit vorhanden sind, aber von Individuen ausgetragen werden, die nicht nur eine Zugehörigkeit haben, sondern vielschichtige Figuren sind.

Das verwässert aber die Problematiken und auch die langsame Zuspitzung der Ereignisse und Umstände nicht, sondern intensiviert im Gegenteil die Konflikte und ihre Wirkungen auf die Leser*innen; die individuelle Tragödie geht unter die Haut, weil sie erfahrbar ist und mit einer konkreten Geschichte verknüpft, die ein vielfältiges Identifikationspotenzial bereithält.

Insofern ist dieses Buch, wie gesagt, ein Glücksfall. Es gibt zwar durchaus einige Kritikpunkte, die angebracht werden können (so wurde hier und da einiges an Potenzial verschenkt, was die Beziehungen zwischen den Figuren angeht und überhaupt erscheinen manche Figuren in einer Szene sorgsam entworfen, in einer anderen etwas zu schematisch), aber alles in allem ist dies tatsächlich ein Roman, von dem man sagen kann, dass er einen neuen Aspekt bereithält, ein neues, interessantes Licht auf die Zeit der Weimarer Republik, ihre Gesellschaft, ihre Ideen, ihre Charaktere wirft.

Zu “Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez


Unsichtbare Frauen

Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Beginnend mit der Theorie vom Mann als Jäger räumten die Chronisten der Vergangenheit der Frau in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht viel Platz ein. Stattdessen galten männliche Lebensläufe als repräsentativ für alle Menschen. […] Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. […] Die von Männern nicht berücksichtigten frauenspezifischen Faktoren betreffen die verschiedensten Bereiche. Dieses Buch wird jedoch zeigen, dass drei Themen wieder und wieder auftauchen: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen.

Wenn es um die Sicherheit bei Autounfällen geht, werden die dazugehörigen Vorrichtungen abgestimmt auf Körpertypen, die auf männlichen Modellen beruhen; ebenso ist es bei verschiedenen besonderen Kleidungsstücken wie etwa schusssicheren Westen. Regale werden so konstruiert, dass ein durchschnittlicher männlicher Körper das oberste Brett erreichen kann. Räumdienste in Städten räumen priorisiert die Straßen frei, statt die Fußgänger- und Fahrradwege, die sehr viel öfter von Frauen frequentiert werden.

Dies sind nur einige anschauliche Beispiele, fast noch harmlos. Zu ihnen gesellen sich die großen Ungleichheiten bei der Bezahlung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf männliche und weibliche Körper in der Öffentlichkeit und, auf einer abstrakten Ebene, das generelle Fehlen eines weiblichen Faktors in den Erhebungen von Daten zu jeglichem Thema. Dabei wird nicht nur die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen systematisch unterschlagen, sondern elementare und nachweislich feststellbare Bedürfnisse von Frauen bleiben unberücksichtigt. So kommt es zu der Welt in der wir leben – einer Welt, die für Frauen ein wesentlich problematischerer und unzureichend eingerichteter Ort ist als für Männer. Und auch das allgemeine Narrative dieser Welt, mit allen darin zusammengeführten Geschichten von Erfolg, Glück, etc. ist meist männlich.

Die Folge dieser zutiefst männlich dominierten Kultur ist, dass männliche Erfahrungen und Perspektiven als universell angesehen werden, während weibliche Erfahrungen – also die Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als, nun ja, Randerscheinung wahrgenommen werden. […] Deshalb auch ergab 2015 eine Studie über Wikipedia-Einträge in mehreren Sprachen, dass Artikel über Frauen Wörter wie »Frau«, »weiblich« oder »Dame« enthalten, während Artikel über Männer nicht »Mann«, »männlich« oder »Herr« umfassen (weil das männliche Geschlecht stets unausgesprochen unterstellt wird).

Gerade was die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrifft, haben wir meist die männliche Geschichte und die Errungenschaften für die Männer vor Augen – Frauen haben von der Athener Demokratie ebenso wenig profitiert wie von Renaissance und Aufklärung, trotzdem werden sie als übergreifende Errungenschaften gefeiert (die emanzipatorischen Bewegungen gelten dagegen dezidiert als Errungenschaften nur für Frauen). Diese aufs Männliche fixierte Weltsicht wird, wie Criado-Perez sehr umfassend darlegt, für universell gehalten, während eine weibliche Perspektive meist als ideologisch (!) aufgeladen gilt und mit diesem Argumente auch oft beiseitegeschoben wird.

»Unsichtbare Frauen« erzählt, was geschieht, wenn wir die Hälfte der Menschheit einfach vergessen. Es zeigt, wie die geschlechtsbezogene Datenlücke Frauen im Lauf eines mehr oder weniger normalen Lebens schadet – hinsichtlich der Stadtplanung, der Politik oder der Arbeitsplätze.

Es ist in der Tat ein Mammutwerk, das die Autorin hier vorgelegt hat, und das mit jeder vorgebrachten Statistik, mit jedem neuen Themengebiet, auf das Criado-Perez zu sprechen kommt, fundamentaler wird. Man kann es, so behaupte ich, nicht ohne teilweises Entsetzen und Erschrecken lesen. Dass die Macht- und Bezahlstrukturen in unseren Gesellschaften ungerecht sind, ist bereits in einer breiteren Öffentlichkeit angekommen. Dieses Buch aber zeigt, wie tief die Wurzeln, Vorstellungen und Mechaniken, die diese Strukturen stützen und von ihnen hervorgebracht wurden, in alle Winkel des Alltags reichen. Von den einfachsten Wahrheiten bis zu den komplexesten Diskriminierungen ist dabei alles enthalten – viele Geschichten über die repräsentative Abwesenheit von Frauen in allen (für sie) wichtigen Bereichen.

Jede/r sollte zumindest einen Blick in dieses Buch werfen. Vor allem Männer und besonders die, die glauben, sie lebten nicht in einer sexistischen Welt und hätten einen objektiven Blick auf die Dinge (oder ein objektiver Blick würde ihnen täglich präsentiert).

Studien haben gezeigt, dass die Überzeugung, man selbst sei objektiv oder nicht sexistisch, zu weniger Objektivität und mehr sexistischem Verhalten führt.

Zu Ali Smiths “Von Gleich zu Gleich”


Ich weiß noch, wie ich das erste Mal ein Buch von Ali Smith las, kann mich gut an meine Begeisterung erinnern. Es hieß „Girl meets boy“ und war eine moderne Fassung/Variation des Mythos von Iphis (und Teil einer ganzen Reihe mit modernen Versionen zu einigen antiken/klassischen Mythen und Geschichten – auch sehr lesenswert ist hier Margarete Atwoods Buch zur Odyssee, in dem Penelope die Protagonistin ist). Ein kleines, tapferes Märchen ist „Girl meets boy“ und gleichsam eine kluge Erzählung über die Zuschreibungen Mädchen/Junge.

Wie bei Sarah Waters sind Smiths Hauptfiguren eigentlich immer Frauen, die Frauen lieben. So auch in „Von Gleich zu Gleich“, der Übersetzung ihres Debütromans „Like“, welcher bereits 1997, zwei Jahre nach ihrer ersten, preisgekrönten Sammlung mit Short-Storys, erschien. Die Protagonistinnen heißen hier Amy und Ash, eine Engländerin und eine Schottin. Ihre zerrissene Liebesgeschichte wird in zwei Teilen erzählt, in denen jeweils eine andere Perspektive zur Geltung kommt.

Der erste Teil ist eine eher ruhige Schilderung der Geschichte zwischen den beiden Frauen, vom ersten Kennenlernen über Schwierig- und Abhängigkeiten bis zum Ausgang ihrer Beziehung. Der zweite Teil ist Ashs Tagebuch, in dem ein ganzes Panorama an Kunst-, Literatur- und sonstigen Referenzen, nebst politischen Kommentaren und persönlichen Einträgen, entfaltet wird, in dem aber auch zahlreiche Lücken des ersten Teils (zumindest teilweise) geschlossen werden.

Alles in allem lässt Smith ihren Leser*innen viel Interpretationsraum und findet schnell zu eine geschickten Erzählton, der das Geschehen lebendig hält, aber viel Raum für Andeutungen und Zweideutigkeiten lässt. Was wirklich zwischen beiden Frauen alles vorfällt, wer wie fühlt und bis wohin manche Andeutung führt, lässt sich so nur bis zu einem gewissen Grad wirklich feststellen – vieles bleibt ambivalent.

Und das ist wohl auch der Reiz dieses Buches, das man bestimmt mehrmals zur Hand nehmen kann, ohne es jemals gänzlich auszuschöpfen. Trotzdem ist es kein übertrieben ehrgeiziges Buch, sondern vollbringt dies Wunder der Unausschöpflichkeit auf kleinstem Raum, im Zuge einer verwinkelten, spannenden, aber nicht überaus komplexen Story. Kurzum: der Roman hält gut die Balance zwischen Ambition und Unterhaltung, eine seltene Glanzleistung.

Offener Brief an Michael Kretschmer


Lieber Herr Kretschmer,

mit großem Interesse habe ich gestern die Diskussion in der Fernsehsendung Anne Will zum CO²-Gesetz verfolgt. Ich stimme Ihnen zu, dass es Kräfte braucht, die mit Vernunft und Augenmaß an den Problemen unserer Zeit arbeiten.

Dennoch möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass ich zutiefst verstört bin wegen der Art, mit der Sie Kevin Kühnert vorwarfen, er habe bei seinen Vorschlägen zur neuen Gesellschaft eine neue DDR (oder gleich Nordkorea) im Sinn gehabt. Sozialismus, das können sie überall nachschlagen, meint nicht unbedingt den historischen Kommunismus, der mehr totalitär/faschistisch als wahrhaft sozialistisch war und viel mehr plutokratische als kommunistische Elemente beinhaltete. Statt auf seine Argumente einzugehen, haben Sie einfach den Begriff, wie Sie ihn verstehen, gegen Ihn verwendet. Das nennt man Unterstellten und nicht Argumentieren.

Es ist mir ganz wichtig, dass Sie nicht glauben, ich wolle Ihre Wahrnehmung der DDR in Zweifel ziehen, ich stimme nur Ihrer Definition von Sozialismus nicht zu und glaube, dass Sie (um die Klage gegen Kühnert umzudrehen) mit solch Klitterungen von Begriffen das Klima anheizen und den vernünftigen Diskurs über Gesellschaftsmodelle eklatant schwächen – und tun damit genau das, was Sie ihm vorwerfen.

Zudem fürchte ich, dass viele Menschen den Eindruck bekommen werden, Sie glaubten wirklich, dass wir bereits in dem besten aller Systeme lebten. Sie erwähnten gestern “Die Weber” von Gerhart Hauptmann, ein grandioses Stück. Wie aber ein Bekannter von mir richtig erläuterte (Dank an dieser Stelle an Jan Kuhlbrodt, den ich hier zitiere): Die Weberei in dem Stück war verlagstechnisch organisiert, die Weber waren ähnlich wie selbstständige Paketzusteller heute, gewissermaßen Subunternehmer. Und Subunternehmer*innen werden nach wie vor unterbezahlt (und damit: ausgebeutet), das ist ein Fakt.

Wir leben nach wie vor im Kapitalismus, noch ist so etwas wie eine soziale Markwirtschaft Utopie, auch wenn der Begriff noch so oft für das verwendet wird, was derzeit als Wirtschaftsform in Deutschland etabliert ist. Anders kann ich mir nicht erklären, warum Menschen von ihrem Einkommen allenfalls überleben, nicht aber am Gemeinschaftsleben teilhaben können (#sozial1). Oder warum es Menschen mit sehr viel Geld und Menschen mit sehr wenig Geld gibt, obwohl beide im gleichen Maß zum Erhalt unserer Gesellschaft beitragen, nur an verschiedenen Stellen (#sozial2), etc.

Ein Begriff muss auch einlösen, was er verspricht, sonst ist er unzulässig.

Lieber Herr Kretschmer, ich mag nur ein Wähler sein, aber ich bin einer, der Ihnen sagt: ich halte Sie nicht für einen Populisten, aber gestern, in dieser Sendung, haben Sie sich streckenweise wie ein Populist und nicht wie ein vernünftiger Politiker geäußert. Ich hoffe sehr, dass meine Argumentation Ihnen an einigen Stellen einleuchten wird. Wenn Sie, wie Sie sagen, kleine Kinder haben, die in einer guten Welt leben sollen, dann, bitte, legen Sie doch nicht über jedes Denken Ihr Schema, sondern Denken Sie flexibel – dafür werden Sie als Politiker schließlich u.a. bezahlt.

Mit hochachtungsvollen Grüßen
Timo Brandt

Zu “Das Internet muss weg” von Schlecky Silberstein


Das Internet muss weg „Wer das Internet betritt, der setzt keinen eigenen Kurs, der segelt unausweichlich in einen gottverdammten Sturm (When you enter the Internet, you don‘t choose your own course, you sail directly into a goddamn storm).“

Dieser wenig populäre Satz (den Silberstein in seinem Buch NICHT zitiert) stammt nicht etwa von einem fanatischen Technikfeind, sondern geistert anscheinend über die Flure im Silicon Valley, wo man sich der Gefahren und Tücken des Internets wohlbewusst ist. Kein Wunder: versuchen doch die Leute dort sich immer neue Methoden auszudenken, wie sie alle anderen Menschen dazu bringen können, noch mehr Zeit vor dem Bildschirm und im Web zu verbringen – und machen dadurch das Internet zu einem Suchtmedium sondergleichen (dem sie sich selbst möglichst wenig aussetzen wollen …)

Was wie eine Verschwörungstheorie klingt, ist bei Licht besehen schnödes kapitalistisches Kalkül im Kampf um Märkte und Kund*innen. Die großen Player des Internets (Facebook, Google, Amazon, etc.) haben großes Interesse daran, dass die Leute möglichst viel Zeit auf ihren Plattformen verbringen und dabei möglichst viele Daten hochladen – denn Daten sind eines der lukrativsten Produkte der Neuzeit und so einfach zu erlangen und im großen Stil zu verarbeiten, mit den richtigen Mitteln. Und wer Daten sammelt, der hat nicht nur Geschäftsgrundlagen, der hat auch Macht. Denn sie sind Produkte, aber gleichzeitig auch Schlüssel für die Köpfe der Menschen und die Herzen der Gesellschaft (so werden sie vermehrt zu ersterem).

Aber zurück zum Eingangszitat, das zunächst wie ein hyperbolischer Haudrauf-Aphorismus klingt, der viele Funken schlägt, aber wenig Feuer entfacht. Leider ist er aber durchaus sehr zutreffend, denn längst ist das Internet, bei allen großartigen Möglichkeiten, zu einem gigantischen Problem geworden, in dem alle Konflikte, die sich daraus ergeben, dass der Mensch halb Tier halb Persönlichkeit ist, potenziert und auf bisher ungeahnte Art und Weise beschleunigt werden, sodass es immerfort irgendwo kracht. Längst kann kaum jemand mehr kontrollieren, wie ausgewogen seine Informationslage ist oder was er an Daten preisgibt und was nicht – oder zumindest ist kaum jemandem bewusst, was beim Betreten und Nutzen des Internets alles mit ihm passiert, welche toxischen Dynamiken hier greifen.

Viele der Dynamiken im Detail erläutert Schlecky Silberstein, Blogger und Influencer, in seinem Buch „Das Internet muss weg“ – ein nicht ganz ernstgemeinter Aufruf, der sich aber in seiner Radikalität zu den verheerenden Dimensionen des derzeitigen Social-Media-Webs verhalten will. Denn Silberstein schildert das Internet als Gefahrenzone, in dem viele wichtige soziale Mechanismen nicht mehr greifen und wir oft ohne die gesellschaftlichen oder menschlichen Filter, ohne Reflexion, unseren animalischsten, impulsivsten Neigungen ausgesetzt sind – und dabei schneller festen Boden verlassen, als wir glauben.

Facebook und Google verstärken unsere natürliche Neigung zur Bestätigung unseres Weltbilds in einem Grade, der die Gesellschaft spaltet. Und zwar überall auf der Welt. Es gibt keinen Hebel, über den wir das Problem der digitalen Scheuklappen bewältigen können.

Wer jetzt sagt und glaubt: „Weiß ich ja eh!“, der sollte DENNOCH dieses Buch lesen. Und vielleicht wird er etwas kleinlauter werden. Mich zumindest hat es sehr erschreckt, was Silberstein ausbreitet und in welchem Umfang und wie schnell die digitale „Revolution“ (ein Euphemismus an dieser Stelle) sich bereits etabliert hat, wie ihre Entwicklung jedem Nachvollzug davongaloppiert, in der Öffentlichkeit und im Schatten. Wir sind nah dran willig riesige Gräben zwischen uns und anderen aufzuschütten, ohne Rücksicht darauf, dass wir nebeneinander und miteinander leben müssen.

Der Mensch neigt dazu, sein Halbwissen als empirisch belegtes Fachwissen zu verkaufen, um sich bis zum Schluss als lukrativen Paarungs- und Geschäftspartner zu präsentieren – auf dem Marktplatz der Eitelkeiten wird gezockt wie beim Hütchenspiel.

Ein Weckruf, und kein geringer, ist das Buch. Sehr lesenswert.

 

Zu Virginie Despentes “King-Kong-Theorie”


King Kong Theorie Virginie Despentes war schon 2006, als dieser Essayband zum ersten Mal erschien, kein unbeschriebenes Blatt. Sie hatte mit „Baise-Moi“ einen Bestselleroman (und Film) vorgelegt, in dem es u.a. um sexuelle Gewalt, abnorme Gelüste und brutale Rache ging und galt auch ansonsten als skandalumwobene Figur. „King-Kong Theorie“ schlug noch einmal in diese Kerbe, bevor es still um Despentes wurde, was sich erst nach der Veröffentlichung der großartigen Roman-Trilogie über Vernon Subutex, die ihr Preise und viel Anerkennung einbrachte, wieder änderte.

Schon die ersten Seiten dieser manifestartigen Essayaneinanderreihung haben es in sich. Despenstes nimmt von Anfang an kein Blatt vor den Mund und sagt, dass sie für die Hässlichen, die Ungeliebten, die Uninteressanten, die Durchgeknallten und Hysterischen sprechen wird. Vor allem geht es ihr aber darum, einer an den Rockzipfeln verquerer sexueller Vorstellungen hängenden Gesellschaft mal kräftig die Leviten zu lesen. Die erste Salve richtet sich gegen die Festlegung der Frau als universelles Objekt der Begierde.

es macht mich rasend, wenn man mir ständig zu verstehen gibt, dass ich als Frau, die die Männer kaum interessiert, gar nicht da sein sollte. […] Sogar heute, wo viele Romane von Frauen geschrieben werden, triffst du darin nur selten Frauenfiguren, die unscheinbar oder durchschnittlich aussehen und nicht imstande sind, die Männer zu lieben oder sich von ihnen lieben zu lassen. […] Es ist mir Wurst, ob ich Männer geil mache, die mich nicht zum Träumen bringen. […] Ich bin zufrieden mit mir, wie ich bin, eher begehrlich als begehrenswert.

Um Weiblichkeit geht es dann im Weiteren und warum diese immer noch ein Korsett ist, das (auch „ausgelebt“) so sehr mit Vorstellungen und Erwartungen zugepflastert ist, dass man darin keine echten eigenen Wege gehen kann. Weiblich sein, das wird heute zwar gerühmt, aber noch im Rühmen ist es eine Fessel, mit der nur fröhlicher gerasselt wird. Despentes sieht im Weiblichen das ewige Ausbleiben von echtem Selbstbewusstsein auf Seiten der Frauen, die mit einem falschen, als dynamisch dargestellten, weiblichen Selbstbewusstsein abgespeist werden, das mehr ein Selbstbild denn ein Selbstbewusstsein ist.

Denn um zu kämpfen und in der Politik Erfolg zu haben, müssen wir tatsächlich bereit sein, unsere Weiblichkeit zu opfern, weil wir bereit sein müssen, uns zu schlagen, zu triumphieren, unsere Macht auszuspielen. Wir müssen aufhören sanft, freundlich, diensteifrig zu sein, wir müssen uns erlauben, den anderen öffentlich zu dominieren.

Die anderen, das sind die Männer, die partout selbst die schönsten, besten, progressivsten Diskurse und Ideen an sich reißen, einfach weil sie andere dominieren, wenn es ihnen in den Kram passt, wenn sie es können. Bei Frauen dagegen wird solches Verhalten als hysterisch, hyperbolisch, keifend, kalt, unverhältnismäßig etc. wahrgenommen.

Frauen genießen sozusagen den Vorzug, edle Wesen zu sein, nur, dass dieser Titel keine echten und jede Menge Scheinvorteile bietet. Frauen werden idealisiert (die schönsten, mächtigsten, intelligentesten von ihnen, die Schatten auf alle anderen werfen) und sie werden mit lauter Zuschreibungen versehen und davon abweichendes Streben wird entweder verharmlost oder verurteilt. Die hohen Ansprüche, die an Frauen in der Gesellschaft gelegt werden, lassen jeden Fehltritt oder jede Eigenheit zu einem Fehler, einer „Sünde“ werden. Die „edlen Wesen“ sind nicht ausgezeichnet durch, sondern gefangen, gebannt in den hohen Standards, die ihnen als Identität verkauft werden.

Männer verurteilen die Vergewaltigung. Deswegen ist das, was sie tun, immer etwas anderes. […] Hört endlich auf, uns einzureden, die sexuelle Gewalt gegen Frauen sei ein neues oder irgendeiner bestimmten Gruppe eigenes Phänomen.

Im nächsten Kapitel geht es um noch härteren Tobak. Hier spricht Despentes, teilweise aufbauend auf dem ersten Teil, über Vergewaltigungen: warum man nicht darüber spricht, warum sie ein Tabu sind, warum Frauen bis heute größtenteils damit alleingelassen werden – und schildert dann eine Vergewaltigung, die sie selbst erlebt hat. Schildert, warum sie sich nicht wehrte, und wie sie in diesem Moment Teil eines gesellschaftlichen Konstruktes, einer gesellschaftlichen Gewalt wurde, die sie, zusätzlich zu den Ereignissen, überwältigte.

Von dem Augenblick an, da ich kapierte, was uns geschah, war ich überzeugt, dass sie die Stärkeren waren. Eine mentale Sache. Inzwischen bin ich überzeugt, dass ich anders reagiert hätte, wenn sie uns unsere Jacken hätten klauen wollen. Ich war nicht tollkühn, aber oft leichtsinnig. Doch in dem Moment fühlte ich mich als Frau, widerwärtig als Frau, wie ich mich nie gefühlt hatte, wie ich mich nie mehr gefühlt habe. […] Ich bin wütend auf eine Gesellschaft, die mich erzogen hat, ohne mir je beizubringen, einen Mann zu verletzen, der mir mit Gewalt die Beine spreizt, während die gleiche Gesellschaft mir eingetrichtert hat, dass es sein Verbrechen sei, von dem ich mich nie wieder erholen dürfe.

Despentes beschreibt die Vergewaltigung als beides: als furchtbare Erfahrung, aber auch als eine, über die sie hinwegkommt; die sie zwar immer wieder einholt, die aber nie bestimmt, wie sie mit Sexualität und Macht und Ängsten umgeht. Sie verharmlost das Erlebnis nicht, fädelt es minutiös auf – und gerade dadurch bekommt es etwas gleichsam Gewöhnliches UND Schreckliches. Was genau die Dimension ist, die Vergewaltigungen in den meisten Gesellschaften immer noch haben. Sie geschehen nämlich täglich, in jedem Krieg, in der Ehe, unter Bekanntschaften, unter Liebenden, in Arbeits- und Geschäftsverhältnissen. Und sind doch eine der schlimmsten Gewalttaten, die man sich vorstellen kann. Weswegen sie ja auch verurteilt werden. Nur reden sich Männer halt sehr viel zurecht, wenn es um den Willen oder die Wünsche der Frau zum/beim Sex geht.

Kurz überlegt Despentes, warum es nicht schon längst ein Gerät gibt, das eine Frau sich in die Vagina einsetzen kann und das jeden unerlaubt eindringen Penis zerfetzt.

Aber vielleicht ist es ja gar nicht wünschenswert, das weibliche Geschlecht für gewaltsames Eindringen unerreichbar zu machen. Eine Frau muss offen bleiben und ängstlich. Wie sonst sollte sich Männlichkeit definieren? […] Die Vergewaltigung, diese verdammte Tat, von der niemand sprechen darf, vereint in sich eine ganze Reihe grundlegender Glaubenssätze über die Männlichkeit.

Am schlimmsten, so sagt sie, ist, dass sie manchmal Vergewaltigungsphantasieren hat, für die sie sich schämt, die sie aber verfolgen. Sie sieht darin keinen wirklichen Wunsch nach dem Akt der Vergewaltigung, sondern einen gesteigerten Ausdruck ihres Wunsches nach Dominanz, den ihr die Gesellschaft, die sexuellen Normen, eingetrichtert haben; ihre Lust muss immer in der Ohnmacht, im Genommenwerden, im passiven Aufnehmen liegen.

Auch in den folgenden Kapiteln tut sich Despentes weiter in brisanten und heiklen Themen um. Oft sind ihre Thesen steil, aber nie ohne Biss, voller Ecken und Kanten, an denen man sich stößt. Zur Sex-Arbeit, die sie eine ganze Weile ausgeübt hat, berichtet sie vor allem Positives und spricht über die Faszination, sich selbst und seinen Körper als Objekt zu begreifen – also nicht objektifiziert zu werden, sondern diesem Prozess sozusagen zuvorzukommen, selbstbestimmt.

Ich war die Hüterin eines wild begehrten Schatzes […] der Zugang zu meinem Körper erhielt eine extreme Bedeutung […] Mein Körper war ein riesiges Spielzeug geworden.

Despentes macht klar, dass sie nicht versteht, warum Frauen nach wie vor stigmatisiert werden, wenn sie ihren Körper verkaufen, während Männer, die Körper kaufen, kein bisschen stigmatisiert werden. Sex soll also etwas sein, dass Männer wollen, Frauen aber ungern geben, oder nur aus Liebe, nicht gegen so etwas Niederes wie Geld (das erst wieder zu einem hohen Gut wird, wenn der Mann es nach Hause bringt)?

Keine Frau darf aus sexuellen Diensten außerhalb der Ehe Gewinn ziehen. Sie ist keinesfalls erwachsen genug für die Entscheidung, ihre Reize feilzubieten. […] Sie sind immer Opfer.

Auch auf Pornographie kommt sie zu sprechen und bietet hier ebenfalls einen eigenwilligen Blickwinkel. Pornographie ist für sie einerseits ein wichtiges Ventil für unsere Phantasien, andererseits liegt in ihr dasselbe Problem, wie in allen Fiktionen: wenn man anfängt, sie eins zu eins für voll zu nehmen, auf die Wirklichkeit zu übertragen (vor allem die Fiktionen, die unterhalten wollen), dann werden daraus Illusionen, falsche Vorstellungen, gefährliche und hartnäckige.

Man verlangt zu oft vom Porno, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein. Als wäre er kein Kino mehr. Man wirft zum Beispiel den Schauspielerinnen vor, ihre Lust nur zu spielen. Aber gerade dafür sind sie da, dafür werden sie bezahlt, das haben sie gelernt.

Natürlich ist Pornographie ein sehr heikles Thema und die teilweise horriblen Arbeitsbedingungen hat Despentes etwas zu wenig im Blick. Despentes plädiert für einen aufgeklärten Umgang mit Pornographie wie auch schon vorher mit Sexarbeit und Vergewaltigung. Die Stigmatisierung und das Tabu sind ihrer Ansicht nach dafür verantwortlich, dass es bei diesen Themen zu wenig Bewegung gibt, sich zu wenig ändert, zu wenig debattiert und gefordert wird, zu viel Misstrauen und Vorurteile herrschen.

Sex, Sex, Sex. In Despentes Buch geht es viel darum und doch ist kaum ein Deut davon erfreulich und damit stellt sie sich, sehr erfolgreich und bemerkenswert, wie ich finde, gegen den ewigen Strom der positivistischen Sexualbücher, Filme, und sonstigen sexualisierten Medien. Natürlich ist Sexualität, einvernehmlich und mit entsprechender Rücksichtnahme und Vorsicht gelebt, etwas sehr Schönes. Aber es wird zu wenig gesprochen über die Versäumnisse und Tabus, die es hier immer noch gibt. Und das sind eben nicht Analsex oder Fisting, Gang-Bangs, etc.

Nein, vielmehr wird zu wenig darüber gesprochen, dass Sexualität noch immer und oft viel mit Gewalt zu tun haben kann. Dass Sexualität immer noch ein Machtinstrument ist, nach dem Geld sicher das Einflussreichste. Und dass die Darstellung von Sexualität bei aller Aufgeklärtheit noch immer fadenscheinig und sehr monokulturistisch sein kann.

Despentes, um nur ein Beispiel zu nennen, spricht zum Beispiel über den weiblichen Orgasmus, der als Errungenschaft gepriesen, aber längst nicht so gelebt wird, werden kann. Denn:

Von einer Möglichkeit wurde der [weibliche] Orgasmus in einen Imperativ verkehrt.

Für eine Frau muss der Orgasmus plötzlich ein Ziel sein und sie muss zum Orgasmus kommen können, muss sich auf den Mann soweit einlassen, damit er sie zum Orgasmus bringen kann. Zwang statt Freiheit.

Despentes Buch ist ein Sammelsurium, ein Schwall, eine Tirade voller Traktate; eine vielleicht nicht immer ausgewogene, aber dennoch großartige Auseinandersetzung mit den blinden Flecken des sexualisierten Zeitalters. Wen einige der angedeuteten Themen interessieren, dem kann ich nur empfehlen, sich mit Virginie Despentes Essays auseinanderzusetzen und sich geistig mit ihnen zu messen; sie vermag es, einiges vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie hat sicher nicht immer Recht, aber sie zwingt die Leser*innen unerbittlich, sich mit der Fragilität von Sexualität auseinanderzusetzen. Denn das ist Sexualität auch: nicht nur kraftstrotzend, vital, hedonistisch, glänzend und eruptiv, sondern auch fragil, widersprüchlich, hässlich, schwierig, eigensinnig. Davor die Augen zu verschließen bringt nichts. Wir müssen miteinander darüber reden, egal wie sehr versucht wird, Normen wie Gräben zwischen uns zu ziehen.

Traditionell sollen sich Frauen und Männer nicht verstehen, verständigen und miteinander aufrichtig sein. Diese Möglichkeit ist offenbar beängstigend.

Zu Ta-Nehisi Coates “We were eight years in power – Eine amerikanische Tragödie”


Eine amerikanische Tragödie besprochen bei Fixpoetry

Zu W. G. Sebalds “Luftkrieg und Literatur”


Luftkrieg und Literatur Wie gehen größere Gesellschaften mit Traumata um? Kann eine Gemeinschaft aus einer Vergangenheit lernen, muss sie sich mit ihr beschäftigen oder ist es besser, diese Vergangenheit zu vergessen, damit sie die Zukunft nicht überschattet? (Aber verschwindet Vergessenes wirklich – und wenn es tatsächlich verschwindet, bleibt wohl dennoch eine Lücke, die nicht verschwindet, oder?)

Mit diesen Fragen hat sich u.a. Kazuo Ishiguro in seinem jüngsten Roman „The buried giant“ auseinandergesetzt, allerdings gekleidet in ein von phantastischen und mythischen Metaphern durchzogenes Gewand und vor dem Hintergrund einer Epoche Großbritanniens, die wenig erforscht ist. Dennoch ist es ein starkes Werk, welches Fragen nach der Notwendigkeit des Erinnerns und Vergessens im großen Stil aufwirft.
W. G. Sebalds Buch „Luftkrieg und Literatur“ schlägt da in eine durchaus kleinere, handfestere Kerbe und stellt die Frage auch nicht bedächtig, sondern durchaus bohrend.

„Die Frage, ob und wie der von Gruppierungen innerhalb der Royal Air Force seit 1940 befürwortete und ab Februar 1942 unter Aufbietung eines ungeheuren Volumens personeller und wehrwirtschaftlicher Ressourcen in die Praxis umgesetzte Plan eines uneingeschränkten Bombenkrieges strategisch oder moralisch zu rechtfertigen war, ist in den Jahrzehnten nach 1945 in Deutschland, soviel ich weiß, nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden“

Sebald führt in seiner Schrift aus, dass natürlich auf der Hand liegt, wieso dies nicht geschah: weil eine Bevölkerung, die in großen Teilen ein Regime gestützt hatte, das mörderische Kriege in viele Länder Europas trug und noch mörderischere Lager errichtete, um jüdische Menschen und Mitglieder viele anderer stigmatisierter Menschengruppen zu ermorden, keine Rechenschaft verlangen konnte von den Ländern, die gegen dieses Land gekämpft und dazu u.a. auch großangelegte Bombardements aus der Luft genutzt hatten.

Im Folgenden ist es auch nicht die deutsche Bevölkerung, die Sebald bei diesem Thema in die Mangel nimmt, sondern die deutschen Autor*innen der Nachkriegszeit, in deren Werken zwar Krieg und Entbehrung, Mord und NS-Terror eine Rolle spielen, nicht jedoch der Bombenkrieg gegen deutsche Städte. Was tatsächlich verwunderlich ist, denn immerhin hatte dieser Bombenkrieg in den Jahren 1944 und 1945 gigantische Ausmaße erreicht und manche deutschen Innenstädte wurden zu 80% oder 90% zerstört. Die meisten Autor*innen, die in Deutschland verweilten oder in den Jahren nach dem Krieg zurückkehrten, müssen das Ausmaß der Zerstörung mitbekommen haben, zumindest aus zweiter Hand davon gehört haben. Und doch: in den Schriften findet man meistens nur die Trümmer, nicht die Zerstörung. Sebald geht auf ein paar Ausnahmen ein und wie sich die Darstellung dort auf verschiedene Weise, akkurat oder unpassend, gestaltet.

Der Bombenkrieg war, zumindest in Großbritannien, lange umstritten und gilt heute als ein strategischer Misserfolg, der keines seiner Ziele (Demoralisierung der Zivilbevölkerung, Schwächung der Kriegswirtschaft, Unterbrechung der Versorgungslinien) erreichen konnte und gerade gegen Ende des Krieges jegliche Notwendigkeit verloren hatte und dennoch bis zuletzt betrieben wurde – also zuletzt auch als ethisches Desaster, das sich lediglich im Windschatten der vielen, noch größeren Verbrechen seiner Zeit und auch durch die moralisch höhere Warte der Siegermächte, an größerer Empörung vorbeischmuggeln konnte. Selbstverständlich ging der Bombenkrieg letztlich von Deutschland aus und wenn die Nazis die Mittel gehabt hätten, hätten sie ganz England auf diese Weise in Schutt und Asche gelegt (Pläne dafür gab es zuhauf).

Warum aber in dieser alten Wunde rühren? Und sind Autor*innen verpflichtet, gesellschaftliche Traumata aufzuarbeiten, abzubilden? Letztere ist eine große, sehr weitreichende Frage, die auch Sebald nicht klären kann oder will. Ihm ging es 1999 darum, auf einen irritierenden Fakt aufmerksam zu machen, eine Lücke in der deutschen Literatur und in welchem größeren Kontext er diese Verfehlung sieht und er deutet nur selten an, warum dieser Fakt generell relevant und problematisch ist.

Womit wir wieder bei der ersten Frage sind: Warum aber in dieser alten Wunde rühren? Diese Frage beantwortet Sebald zwar wie gesagt nicht in aller Deutlichkeit, aber sie lässt sich leicht beantworten. Wobei man zunächst einschränkend sagen muss: die Lage ist heute eine andere, wozu wohl am meisten der deutsche Historiker Guido Knopp beigetragen hat (ob zum Guten oder zum Schlechten, ob akkurat oder eher nicht, sei dahingestellt). Sein Buch und die Serie „Der Jahrhundertkrieg“ (2003) umfassten Beiträge zum Bombenkrieg und zu den Feuerstürmen von Hamburg und Dresden, gerade noch rechtzeitig durchaus, um noch lebenden Zeitzeugen miteinzubeziehen. Diese Dokumentationen haben den Bombenkrieg durchaus wieder ins nationale Bewusstsein gerückt (was durchaus auch unschöne Folgen hatte).

Auch diesen Teil der jüngeren deutschen Geschichte zu behandeln (mit dem jeder Mensch, der in deutschen Innenstädten lebt und aufwächst, letztlich indirekt konfrontiert ist, was man oft merkt, wenn man die Innenstädte in anderen Ländern besucht) ist vor allem wichtig, damit das Narrativ dieses Kapitels nicht von rechtsextremen Positionen und Motiven vereinnahmt wird, die diese Episode gerne und erfolgreich als Tabu inszenieren und von der „geplanten Vernichtung“ der deutschen Bevölkerung und dergleichen faseln, einen Opfermythos kreieren, auf dessen Sockel nicht nur von Erinnerung, sondern vor allem von Vergessen und vom Blick nach vorne die Rede ist (eine sehr schizophrene Auseinandersetzung mit Geschichte findet in solchen Inszenierungen statt).

Sebalds Vorlesungen (dies waren die Texte in dem Buch, ergänzt um einen Nachtrag und den Essay zu Alfred Andresch, ursprünglich) trugen zur Wiederentdeckung von Gert Ledigs „Vernichtung“ und Hermann Kasacks „Die Stadt hinter dem Strom“ bei, zwei Büchern, die nicht unbedingt schöner Lesestoff sind, aber das ganze existenzielle Ausmaß der Zerstörung greifbar machen, wozu auch Sebalds Spurensuche einiges beiträgt.

„Luftkrieg und Literatur“ ist sicher heute kein Buch mehr, das anstößt oder offenbarend ist. Aber noch immer ist es ein wichtiges Werk über die Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit und darüber, wie ein Fehlen des literarischen und öffentlichen Aufgreifens von bestimmten Themen ein Verdrängen befördern kann oder überhaupt erst kreiert. Es hat also vor allem einen exemplarischen Wert und eine Lektion in Geschichte und Literatur gleichermaßen. Wie wichtig ist Darstellung und die in ihr bewahrte Erinnnerung? Eine Frage, die sich die Literatur immer wieder stellen MUSS.

 

Zu Kazuo Ishiguros “Never Let Me Go”


Never let me go Der amerikanische Autor Ford Maddox Ford schrieb einst ein Buch mit dem Titel „Die allertraurigste Geschichte“. Kazuo Ishiguros 2005 erschienener Roman „Never let go/Alles, was wir geben mussten“ hätte ebenfalls gute Chancen, diesem Titel gerecht zu werden. Und doch wiederum nicht, denn es ist eines der schönsten, bejahendsten, ehrlichsten Bücher, die ich kenne.

Vermutlich fallen diese Qualitäten aus gutem Grund zusammen und Ishiguros Geschichte ist letztlich eine innovative und fein ausgearbeitete Variation jener uralten Geschichte von der menschlichen Seele, die ein Inbegriff des Tragischen war, ist und wohl auch immer sein wird. Weil, wann und wo immer Menschen etwas wichtig ist, es ihnen entrissen werden kann. Und entrissen wird, denn, wie Emily Dickinson schrieb: „Time stops for no one“. Oder wie eine Freundin von mir einmal sagte: Wir erzählen uns Geschichten, weil wir wissen, dass wir alle eines Tages sterben werden. Das ist natürlich nicht die Absicht, der Antrieb hinter dem Erzählen, da gibt es viele, vielleicht nur individuelle. Aber irgendwo wissen wir, dass wir beim Erzählen die Dinge überwinden, die wir sonst nicht überwinden können: Raum und Zeit.

Diese Vorrede greift vielleicht schon zu viel vorweg und könnte falsche Vorstellungen erzeugen, vielleicht sogar die irrige Idee, bei diesem Buch handle es sich um eine Schmonzette oder etwas übertrieben Rührseliges. Aber eigentlich geht es mir um das genaue Gegenteil: ich will möglichst wenig vorwegnehmen (vor allem will ich den Leuten nicht meine Lesart aufzwingen) und doch will ich mit allem Nachdruck sagen: lest es! Und bin überzeugt: Es wird euch berühren, wenn ihr es zulasst, es nah an euch heranlasst und ihm ein bisschen Zeit gebt.

Philipp Djian schrieb einmal, dass er, wenn Leute ihn fragen, was sie von Faulkner lesen sollen, diese Frage immer als große Herausforderung empfindet. Weil es ihm wichtig sei, so schrieb er, dass sich die Leute, die Faulkner lesen, „nie mehr ganz davon erholen“ und schon beim ersten Buch begreifen, was für ein wichtiger Autor er ist. Ich hoffe immer, dass die Leute sich nie ganz von der Lektüre von Ishiguros Roman „erholen“. Dass sie begreifen, wie sehr dieses Buch in der Lage ist uns etwas über unsere Existenz, unsere Sehnsüchte und die Gewalt in uns zu sagen.

Kommt das Feuilleton auf Ishiguros Schreiben zu sprechen, taucht immer wieder die Wendung „betörend und verstörend“ auf. Das klingt eigentlich zu harsch, zu heischend, aber letztlich trifft diese Bezeichnung zu. Seine Bücher sind auf sehr unterschiedliche Weise betörend und verstörend, nicht hauptsächlich, aber in einem Maß, das sie ausmacht.

„Never let me go“ ist ein Buch der kleinen, aufgeladenen Gesten und Ereignisse. Es ist außerdem ein Buch der Erinnerung, des Rückblicks, hat aber nichts von der üblichen Zwischenbilanz vieler Romannarrative, was an der besonderen Lage liegt, in der sich die Protagonist*innen von Anfang an befinden. Diese besondere Ausgangslage, die nicht versteckte, aber auch nicht offensichtliche, Stück für Stück offenbarte Prämisse des Romans, will ich hier nicht ausführen – Ishiguro versteht es meisterhaft, die Lesenden von Anfang an behutsam und geschickt in die Atmosphäre dieser besondere Lage einzuführen, ohne Hast, aber auch ohne, dass man sich verloren fühlt.

Am Anfang fühlt man sich in dem Buch geradezu geborgen. Diese Geborgenheit wird im weiteren Verlauf auf eine harte Probe gestellt, aber sie verschwindet nie ganz. Das hat mit Ishiguros Sprache zu tun, der Aufmerksamkeit, die stets darin mitschwingt und ein Auge für die Momente hat, in denen Menschen etwas verbindet, ihr Streben danach und ebenso ein Auge für das Sanfte und Unerbittliche, das in jedem Erleben liegt.
Letztlich bildet diese Geborgenheit den Grundzustand der Existenz ab. Wir glauben wohl solange, dass wir unsterblich sind, bis sich erste Anzeichen und erstes Wissen einstellen, die darauf hindeuten, dass dem nicht so ist. Dass Dinge ein Ende haben, Lebensphasen, und letztlich unser eigenes Dasein, was sich ebenso klar abzeichnet wie es unbegreiflich bleibt.

Um das Tatsächliche und zugleich Unbegreifliche kreist auch Ishiguros Schreiben. Er findet es am Grund seiner Figuren, im Zwiespalt, der in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt liegt; ihren aufgewühlten und doch wie ein Spiegel ausgebreiteten Seelen. Er verleiht diesen seinen Figuren nicht unbedingt ein großes, individuelles Angesicht, aber er versteht es, ganz ohne auktoriale Charakterisierung (wie auch „Was vom Tage übrigblieb“ ist „Never let me go“ ein Roman, der nur aus der Ich-Erzähler Perspektive erzählt wird), ihnen eine natürliche Präsenz zu geben, die sie nicht unverwechselbar macht, aber sehr lebendig werden lässt.

Die Figuren wachsen einem ans Herz, aber noch mehr wächst einem eigentlich das Leben ans Herz, die kleinen Momente, die großen Erinnerungen, die wiederholte und neuentdeckte Schönheit und natürlich die nachwirkenden, unsere Vorstellungen für immer beeinflussenden Erlebnisse, die uns mit Menschen verbinden oder nur ganz allein uns gehören. Ishiguro rückt sie ohne großes Aufhebens immer wieder in den Mittelpunkt. Und dringt damit, mühelos, zum Kern vieler zwischenmenschlicher Beziehungen und den tiefsten Hoffnungen vor, in die wir uns versenken.

Ja, ich glaube wirklich, dass dieses Buch sehr viel aussagt, verhandelt. Aber das tut es so unaufdringlich, en passant und ambivalent, dass ich zögere, genauer zu destillieren, was es im Einzelnen vielleicht mitteilt, andeutet, einzurahmen vermag – mitreißend und ungeheuer sanft.
In jedem Fall: es ist eines der wenigen Bücher, von denen ich überzeugt bin, dass man sie lesen sollte, immer wieder. Es ist kein Buch, das einen für ein bestimmtes Thema sensibilisiert, es ist keine epische Geschichte, keine zwingende Gesellschaftsdurchleuchtung.

Es ist eines dieser Bücher, die man nach dem Lesen an die Brust presst. Die an der Seele klopfen und nicht weggehen, bis man ihnen mit Tränen in den Augen öffnet und sie hereinlässt.