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Zu “Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez


Unsichtbare Frauen

Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Beginnend mit der Theorie vom Mann als Jäger räumten die Chronisten der Vergangenheit der Frau in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht viel Platz ein. Stattdessen galten männliche Lebensläufe als repräsentativ für alle Menschen. […] Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. […] Die von Männern nicht berücksichtigten frauenspezifischen Faktoren betreffen die verschiedensten Bereiche. Dieses Buch wird jedoch zeigen, dass drei Themen wieder und wieder auftauchen: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen.

Wenn es um die Sicherheit bei Autounfällen geht, werden die dazugehörigen Vorrichtungen abgestimmt auf Körpertypen, die auf männlichen Modellen beruhen; ebenso ist es bei verschiedenen besonderen Kleidungsstücken wie etwa schusssicheren Westen. Regale werden so konstruiert, dass ein durchschnittlicher männlicher Körper das oberste Brett erreichen kann. Räumdienste in Städten räumen priorisiert die Straßen frei, statt die Fußgänger- und Fahrradwege, die sehr viel öfter von Frauen frequentiert werden.

Dies sind nur einige anschauliche Beispiele, fast noch harmlos. Zu ihnen gesellen sich die großen Ungleichheiten bei der Bezahlung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf männliche und weibliche Körper in der Öffentlichkeit und, auf einer abstrakten Ebene, das generelle Fehlen eines weiblichen Faktors in den Erhebungen von Daten zu jeglichem Thema. Dabei wird nicht nur die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen systematisch unterschlagen, sondern elementare und nachweislich feststellbare Bedürfnisse von Frauen bleiben unberücksichtigt. So kommt es zu der Welt in der wir leben – einer Welt, die für Frauen ein wesentlich problematischerer und unzureichend eingerichteter Ort ist als für Männer. Und auch das allgemeine Narrative dieser Welt, mit allen darin zusammengeführten Geschichten von Erfolg, Glück, etc. ist meist männlich.

Die Folge dieser zutiefst männlich dominierten Kultur ist, dass männliche Erfahrungen und Perspektiven als universell angesehen werden, während weibliche Erfahrungen – also die Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als, nun ja, Randerscheinung wahrgenommen werden. […] Deshalb auch ergab 2015 eine Studie über Wikipedia-Einträge in mehreren Sprachen, dass Artikel über Frauen Wörter wie »Frau«, »weiblich« oder »Dame« enthalten, während Artikel über Männer nicht »Mann«, »männlich« oder »Herr« umfassen (weil das männliche Geschlecht stets unausgesprochen unterstellt wird).

Gerade was die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrifft, haben wir meist die männliche Geschichte und die Errungenschaften für die Männer vor Augen – Frauen haben von der Athener Demokratie ebenso wenig profitiert wie von Renaissance und Aufklärung, trotzdem werden sie als übergreifende Errungenschaften gefeiert (die emanzipatorischen Bewegungen gelten dagegen dezidiert als Errungenschaften nur für Frauen). Diese aufs Männliche fixierte Weltsicht wird, wie Criado-Perez sehr umfassend darlegt, für universell gehalten, während eine weibliche Perspektive meist als ideologisch (!) aufgeladen gilt und mit diesem Argumente auch oft beiseitegeschoben wird.

»Unsichtbare Frauen« erzählt, was geschieht, wenn wir die Hälfte der Menschheit einfach vergessen. Es zeigt, wie die geschlechtsbezogene Datenlücke Frauen im Lauf eines mehr oder weniger normalen Lebens schadet – hinsichtlich der Stadtplanung, der Politik oder der Arbeitsplätze.

Es ist in der Tat ein Mammutwerk, das die Autorin hier vorgelegt hat, und das mit jeder vorgebrachten Statistik, mit jedem neuen Themengebiet, auf das Criado-Perez zu sprechen kommt, fundamentaler wird. Man kann es, so behaupte ich, nicht ohne teilweises Entsetzen und Erschrecken lesen. Dass die Macht- und Bezahlstrukturen in unseren Gesellschaften ungerecht sind, ist bereits in einer breiteren Öffentlichkeit angekommen. Dieses Buch aber zeigt, wie tief die Wurzeln, Vorstellungen und Mechaniken, die diese Strukturen stützen und von ihnen hervorgebracht wurden, in alle Winkel des Alltags reichen. Von den einfachsten Wahrheiten bis zu den komplexesten Diskriminierungen ist dabei alles enthalten – viele Geschichten über die repräsentative Abwesenheit von Frauen in allen (für sie) wichtigen Bereichen.

Jede/r sollte zumindest einen Blick in dieses Buch werfen. Vor allem Männer und besonders die, die glauben, sie lebten nicht in einer sexistischen Welt und hätten einen objektiven Blick auf die Dinge (oder ein objektiver Blick würde ihnen täglich präsentiert).

Studien haben gezeigt, dass die Überzeugung, man selbst sei objektiv oder nicht sexistisch, zu weniger Objektivität und mehr sexistischem Verhalten führt.

Zu Margarete Stokowskis “Die letzten Tage des Patriachats”


Die letzten Tage des Patriachats Man muss schon den Hut ziehen vor Margarete Stokowski, wenn man diese gesammelten Kolumnen liest. Wie viele zentrale Themen unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verhältnismäßigkeiten darin aufgegriffen und angeschnitten, wie viele wichtige Anmerkungen zu Umgang, Perspektiven und Scheuklappen gemacht werden, wow. Und dann muss man noch einmal den Hut ziehen, wenn Stokowski hier und da durchblicken lässt, mit welcher Engstirnigkeit sie sich oft konfrontiert sieht, in Kommentaren, Zuschriften, etc., weil sie als Verfasserin dieser Kolumnen in Erscheinung tritt.

Der Band sammelt 75 von Stokowski ausgewählte Kolumnen aus den Jahren 2011-2018, die in zehn Themenkapiteln jeweils chronologisch angeordnet sind; viele von ihnen hat sie ergänzt durch Nachsätze, in denen sie Kommentare und Folgen zu den einzelnen Kolumnen schildert. Übergreifend kann man sagen, dass sie (bei Kolumnen nicht überraschend) oft einen Bezug zum Tagesgeschehen haben – aber Stokowski gelingt es fast immer, jenseits (oder eher diesseits) des Anlasses generelle Feststellungen anzubringen, Schlüsse zu ziehen, Symptome freizulegen und zu isolieren, Strukturen zu zeigen und eingespielte Problematiken zu benennen.

Ein zentrales Thema, das viele Kolumnen durchzieht, ist die Rolle von Frauen (und Minderheiten) in der Gesellschaft und ihre Stigmatisierung, die leider immer noch viele (sehr viele) Facetten und Gesichter hat.

Frauen haben immer noch weniger Geld als Männer, sie arbeiten seltener in Führungspositionen, sie erledigen die meiste Familienarbeit, und nicht wenige erleben sexualisierte Gewalt. Im Deutschen Bundestag sind im Jahr 2018 nicht mal ein Drittel der Abgeordneten Frauen. Frauen müssen in vielen Ländern für grundlegende Rechte kämpfen, und selbst dort, wo sie das nicht müssen, hören sie in den verrücktesten Situationen dämliche Kommentare über ihren Körper.

Es sollte jedoch niemand den Fehler machen, Stokowski deswegen für eine Agitatorin mit begrenzter Motivation und begrenzter Perspektive zu halten. Eins beweist sie in ihren Kolumnen mehr als einmal und ich bewundere sie enorm dafür: dass sie immer wieder gegen vereinfachte und festgesetzte, eingespielte und klischeegesteuerte Vorstellungen anschreibt und dass es ihr gelingt ihren Kolumnen (und hier setzt die Bewunderung ein) fast immer einen widerständigen, schlagfertigen Zug zu geben, eine Argumentation und Intonation aufzubauen, die sich auf knappem Raum wirkungsvoll und klug behaupten kann.
Stokowskis Texte zeigen: die Welt mag komplex sein, unübersichtlich vielleicht, aber es gibt doch sehr viel, das wir klar feststellen können, sowohl bei den Sachen, die im Argen liegen, als auch bei den Sachen, die gute Entwicklungen sind und jeden Unkenrufen trotzen können.

Bei Stokowski kann man außerdem lernen (nicht nur bei ihr, aber auch bei ihr), dass Feminismus eben nicht ein Versuch ist, Männer zu dämonisieren, unterzukriegen oder für ihr Mann-sein zu verdammen, sondern die generelle Emanzipation von Macht- und Diktionsstrukturen, sowie die längst fällige Aufhebung von zu enggezogenen Geschlechterbegriffen und Rollenbildern betreibt, zum letztendlichen Vorteil beider Geschlechter. Wie Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ schrieb:

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ungleichheit und Stigmatisierung haben, wie gesagt, noch immer viele Facetten. Großteils sind es eingefahrene, überholte, falsche Vorstellungen, gegen die sich der Versuch der Veränderung von Verhältnissen und Umgangsformen behaupten muss. Das fängt an bei der von vielen Medien geschürten und überall halbgar servierten „Angst“ (in diesem Kontext wirklich das falsche Wort), dass die Anprangerung von sexuellen Übergriffen und Sexismus, am Arbeitsplatz und anderswo, einem Verbot von Flirten und Begehren gleichkommt. Stokowski bringt die Fadenscheinigkeit dieser (und anderer) Panikmacherei auf den Punkt und schreibt am Ende:

Es gibt eine feministische Flirtregel, die man sich im Übrigen sehr leicht merken kann und die lautet [#wheaton’slaw]: Sei kein Arschloch. Fertig. That’s it. Unisex übrigens.

und an anderer Stelle:

Es ist mir ein Rätsel, wie man denken kann, irgendwas würde der Menschheit fehlen, wenn Sexismus, Belästigung und Missbrauch wegfallen.

Aber Stokowski lässt es nicht bei diesen Themen bewenden, sondern äußert sich ebenso pointiert, gewandt, kritisch und klug zu angrenzenden und anders gearteten Themenbereichen. Großartig ist ihre Kolumne zu „Germany’s next Topmodel“, die mir aus der Seele spricht; am liebsten würde ich das folgende Zitat bei ProSieben einblenden, während die Show läuft:

Die Sendung ist eine perverse, niederträchtige, menschenverachtende Geldmaschine, die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben und sich den Regeln der Jury unterwerfen, weil man als Model halt einfach auch mal machen muss, was der Kunde will.

Und sie spricht mir ebenso aus der Seele, wenn sie über die Verbindung von Sexualität und Werbung schreibt – eine Erscheinung, welche, so glaube ich, das Verhältnis zum eigenen Körper in den letzten Generationen mitunter schwer belastet hat, vom Frauenbild ganz zu schweigen und vom Männerbild, das auf dieses Frauenbild ständig anspringen soll, erst recht.

Wenn wir aber die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen können von Sex oder Erotik, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein tief sitzendes. Wenn wir denken, dass wir nicht frei sind, weil nicht überall Brüste hängen oder Frauen halbnackt über Mietwagen robben, dann ist das ein schlechtes Zeichen für unser Frauenbild.

Auch auf die feinsprachliche Ebene geht Stokowski immer wieder – bspw. in einer Kolumne über die häufige Verwendung der Wörter „Krieg“, „Kamp“, „Frontlinie“ bei der Beschreibung von Diskussionen und Auseinandersetzungen zum Thema Gender und Feminismus. Die Kolumne trägt den rotzigen Titel „Hamse jedient im Genderkrieg?“ Stokowski klagt darin die fast schon brutale, zumindest zynische Gedankenlosigkeit bei der Verwendung dieser Worte an, die für eine gewaltsame und leidvolle, verheerende Erscheinung steht und schreibt u.a.:

Sagt mal: Frontlinie, Barrikaden, Krieg – haben die alle zu viel »Star Wars« geguckt. […] Es ist nur eine Metapher, sagt ihr. Nein, es ist unbedachtes Wörterkotzen. Metaphern haben einen Sinn, sie sollen etwas klarer oder schöner sagen. Wer aber von Krieg spricht, macht es weder klarer noch schöner, der sagt nur: Guck, wie sie sich prügeln. […] Hier meine These dazu: Das ist schlecht. Es klingt nach Eskalation, aber da eskaliert nichts. Da reden Leute. […] Krieg! Und dann bringt ein Mann eine Frau um, und was wird daraus? Ein »Beziehungsdrama«. […] So viel Feinfühligkeit darf man erwarten, nicht von Krieg zu sprechen, wo kein Krieg ist, und von Mord, wo Mord ist.

Und so geht es weiter – dreihundert Seiten Schlagfertigkeit, widerständiges und reflektiertes Denken, manchmal nonchalant serviert, manchmal um die Ohren pfeifend, mal von beißendem Spott, mal von klarer Anteilnahme begleitet. Ich erwische mich beim Lesen oft dabei, dass ich mir wünsche, dass Stokowskis Artikel die durchschlagende Wirkung erzielen, die sie für mich haben; dass Germany’s Next Topmodel dichtgemacht wird und Jens Spahns himmelschreiende Aussage zu Hartz IV als der politische Selbstmord gewertet wird, als der er hätte wahrgenommen werden müssen.

Wenn es wäre, wie Spahn sagt, und man hätte mit Hartz IV wirklich alles zum Leben, dann wären die Leute, denen das Geld nicht reicht, entweder unfähig oder gierig. […] Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Voreinstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Aber daraus ergibt sich Verantwortung.

Und für Verantwortung wirbt und kämpf Margarete Stokowski in diesen Texten. Für Verantwortung und Verständnis, fürs Hinterfragen und Empathisieren, sie wirbt darum und sie verlangt danach. Sie bricht Lanzen für Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, sie zerrt Hass und Rücksichtslosigkeit, Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit hervor und stellt sie bloß. Nach dreihundert Seiten kann ich nur noch sagen: Wir können froh sein, eine Stimme und eine Essayistin wie Margarete Stokowski zu haben. Sie hat zumindest mir dabei geholfen weiter zu denken als bisher, vielschichtiger mitzuempfinden, genauer hinzusehen. Wenn ein Buch das leistet, dann ist es ein verdammt gutes Buch.

Zu der Anthologie “Sagte sie – 17 Erzählungen über Sex und Macht”, erschienen bei Hanser Berlin


Sagte Sie „(auch habe mich bei der Körperpflege, beim Schminken, Sportmachen und Rasieren schon häufiger mit schlechtem Gewissen gefragt, für wen ich das eigentlich tue, wenn nicht für die Männer beziehungsweise in diesem konkreten Fall C., und bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Wille und ihrer nicht mehr trennbar sind, das heißt: Sie würden mir das gleiche Kleid aussuchen wie ich.“
(Antonia Baum)

Eine Frau beginnt zu sprechen, an ein Publikum gerichtet, gleichsam als würde sie in einem Raum, der halb Bühne, halb Gerichtssaal ist, ihren Fall vortragen. Sie spricht von ihren Zweifeln, davon wie sie selbst nicht ganz genau weiß, wie sich abgrenzen soll von der Art, wie sie gesehen wird, wie sie gesehen werden will (und wie sich das beides bedingt), dass sie sich schuldig fühlt und nicht weiß, inwieweit sie das sollte, erzählt wie sie wieder und wieder als Frau in soziale Konventionen verstrickt wird, die sie oft als unangenehm, manchmal aber auch als angenehm empfindet. Das alles breitet sie aus, aber eigentlich will sie von einem Erlebnis mit einem Arbeitskollegen erzählen; einem netten Typen, der aber dann im Taxi übergriffig wird.

Schon in dieser ersten Erzählung von Antonia Baum zeigt sich die Ambivalenz, die dieser Band und seine Thematik aushalten müssen und der in den Erzählungen, wie ich finde, letztlich über weite Strecken vielschichtig und gut Ausdruck verliehen wird. „Setzen sie sich!“ ist als Einstiegstext die perfekte Wahl, denn er erzählt einerseits eine ziemlich klare Geschichte, ist aber andererseits in seiner ganzen Inszenierung facettenreich, inkludiert viele weitere Aspekte.

Baums namenlose Frau muss sich nicht nur Zwischenrufe aus dem Publikum gefallen lassen, der ganze Rahmen, in dem sie ihr Erlebnis schildert, bildet wiederum einen Aspekt der Problematik ab: wenn sie davon sprechen will, muss sie sich ausstellen, sie muss es sich gefallen lassen, beurteilt zu werden (entweder als Opfer oder als Mittäterin, was sie natürlich beides nicht sein will) sie muss sich rechtfertigen, sich erklären. Sie findet keine Position, in der sie wirklich über sich und das Geschehene reden kann, umringt von einem Wust aus Details und Überlegungen, die sich in für und wider aufteilen, als ginge es nur darum, ob das Urteil zu ihren Gunsten ausfällt – und nicht um das Verstehen ihrer schwierigen Position, um ihre Gefühle und deren Verletzung; um sie als menschliches Wesen, nicht als Fall.

Die folgenden Erzählungen von Anna Prizkau und Julia Wolf weiten das Thema „Sex und Macht“ auf ihre Weise aus. In Prizkaus „Boss“ ist der Job der Mutter an die Bedingung geknüpft, dass sie etwas mit ihrem Chef hat. Julia Wolfs Erzählung „Dickicht“ ist einer der eigenwilligsten Texte des Bandes, stark fokussiert auf die Eigenständigkeit des Narrativ. Er arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit den Motiven Angst und Verletzlichkeit, ohne sich klar zu positionieren, bleibt ausdeutbar.

Anett Gröschners „Maria im Schnee“ ist dagegen die knappe, schonungslose Schilderung einer Vergewaltigung. Die namenlose Frau wird von diesem Gewaltakt wie in zwei gerissen – der betrunkene Vergewaltiger glaubt in ihr eine andere Person zu erkennen, eine Maria. So erleidet sie die Vergewaltigung zweifach: in den eigenen Schmerzen und Gefühlen und in der Taten- und Hilflosigkeit der Betrachterin gefangen. Sie ist das Opfer, aber auch Maria ist das Opfer. Maria und alle anderen Frauen, von denen Männer glauben, sie würden gerne oder willig ihrem sexuellen Verlangen Abhilfe schaffen (sie wären dazu da) und man könnte das einfach jederzeit von ihnen erwarten, verlangen, fordern. Gröschner schildert den Vergewaltiger als verstörten Mann, als Individuum, das fast schon Erbarmen weckt; aber sie zeigt im selben Moment: auch hilflose Gesten können Gesten der Gewalt sein. Es gibt in den gesammelten Essays von Magret Atwood eine Stelle, wo es heißt:

»Wieso fühlen sich Männer von Frauen bedroht«, habe ich unlängst einen Freund von mir gefragt […] »Ich meine, Männer sind doch größer«, sagte ich, »meistens jedenfalls, können schneller laufen, besser würgen, und im Schnitt haben sie auch viel mehr Macht und mehr Geld.« »Sie haben Angst, dass die Frauen sie auslachen«, sagte er. »Ihre Weltsicht belächeln.« Und dann fragte ich in einem improvisierten Lyrikseminar ein paar Studentinnen: »Wieso fühlen sich Frauen von Männern bedroht?« »Sie haben Angst, dass sie umgebracht werden«, hieß es lapidar.

Und diese Angst vor männlicher Gewalt ist leider alles andere als unbegründet; alle Zahlen belegen, dass Männer sehr viel gewalttätiger als Frauen sind (nicht nur gegen Frauen) und ihre Motive ändern nichts daran, dass es Gewaltakte sind.

Der folgende Text von Annika Reich, „Der Fleck“, besticht durch seine Bilder, durch seine Art, sich an Dinge heranzutasten. Die Protagonistin ist mit ihrer Mutter in China und erlebt dort eine ungewohnt asexualisierte Atmosphäre. Diese Abwesenheit bringt ihre Protagonistin zum Nachdenken. Vor allem denkt sie darüber nach, was die sexualisierte Atmosphäre zu Hause mit ihr macht/gemacht hat:

Ich hatte keine fremde Hand mehr am Arsch. Keine Hand mehr am Arsch, keine am Busen, keine an der Hüfte, der Taille, dem Nacken. Die fremden Hände waren von mir abgefallen wie Gipsabdrücke, die abgetrocknet keinen Halt mehr fanden, keinen Halt und vielleicht auch keinen Gefallen mehr an mir. […] Mein Körper, hin- und hergerissen zwischen einer hingebungsvollen und einer straffen Beziehung zu sich selbst, meist gleichzeitig weich und verspannt, hatte sich im Hohlraum dieser Griffe geformt.

Außerdem gibt es da noch ein totgeschwiegenes Familiengeheimnis, über das Reichs Protagonistin endlich mit ihrer Mutter reden will. Die ganze Konstellation, zusammen mit den introspektiven Einschüben, breitet eine Palette von Themen aus: das früher vorherrschende (und bis heute angewandte) fast schon chronische Verschweigen oder Kleinreden von sexuellen Übergriffen in der Familie; die in der Gesellschaft immer noch präsente Vorstellung, eine Frau sei nichts ohne einen Mann ganz gleich, ob sie nun glücklich ist oder nicht; das Flirten als Erwartung, als Pflicht geradezu, als Aufmerksamkeitsvoraussetzung, und anderes.

In der Beziehung Mutter und Tochter wird der Generationenkonflikt – die alten Muster auf der einen, die langsam sich durchsetzenden Überzeugungen auf der anderen Seite – verhandelt, aber auch das generationsübergreifende Verständnis füreinander, weil die Erfahrungen trotzdem oft dieselben sind.

Einen spannenden Text hat auch Margarita Iov geschrieben: „Das Wasser des Flusses Lot“, eine Geschichte, irgendwo zwischen Parabel und feingesponnener Erzählung liegend, die ich bereits dreimal gelesen und noch immer nicht ganz durchdrungen habe. Sehr lesenswert, ich wünschte, ich könnte mehr dazu sagen, traue mir aber eine Analyse nicht zu. Anja Kümmel ist in ihrer Besprechung beim Onlinemedium Fixpoetry sehr gut auf diese Erzählung eingegangen.

Ich gebe zu, dass mich die nächsten beiden Texte – Anna Katharina Hahns „Drei Mädchen“ und Helene Hegemanns „The day I fucked her husband at the lake“ – etwas ratlos zurückgelassen haben. Ich kann sie im Kontext verorten, aber ihre Dynamiken verblüffen mich.

Hahn dreht den Spieß quasi um und schildert eine Kinderhortszene, in der die Mädchen als die stärkeren Personen auftreten, die Jungen dominieren und vielleicht auch ein wenig tyrannisieren. Ohne Zweifel ein spannender Beitrag, der auch die unbequeme Frage nach der generellen Problematik von Machtverhältnissen und ihrem natürlichen Zustandekommen aufwirft.

Hegemann wiederum erzählt eine Geschichte von einigen Aussteigern, die – halb Hippies, halb Millennials – am Meer in Kanada leben, ohne Strom, fließend Wasser – und ohne Sorgen. Hegemann verhandelt zwar gut die Themen Anziehung und Begehren (deren Individualität), und wie Rollenbilder, Besitzverhältnisse, etc. Einfluss darauf haben, trotzdem kommt ihr Text ein bisschen aus dem Nichts und verschwindet dort auch wieder, hat irgendwie keinen wirklichen Dreh- und Angelpunkt. Möglicherweise ist das aber auch ein Feature und kein Fehler.

Anke Stellings Text „Raus“ schildert die langsame Entfremdung der Ich-Erzählerin von einer befreundeten Dichterin, die von ihrem Mann tyrannisiert und nach allen Regeln der Kunst untergekriegt und abgeschottet wird, ohne, dass sie sich dazu in der Lage sieht, etwas dagegen zu unternehmen. Einer der geradlinigsten Texte, einer der psychologischsten.

Nora Gomringer entfaltet in ihren Monologen „aus dem dazwischen“ ein Kaleidoskop von Ansichten und Erlebnissen, angefangen beim noch nicht in die Pubertät eingetretenen Mädchen, das einen Übergriff durch einen Typen im Schwimmbad erlebt und beschließt, möglichst unauffällig, möglichst unattraktiv zu werden, um nicht mehr in Gefahr zu sein (denn nur als solche nimmt sie Begehren nun wahr: als Gefahr) bis zu einem Mann, der darüber klagt, dass er nicht mit allen Arschlöchern in einen Topf geworfen werden will, nur weil er einen Penis hat, den er schön findet, ebenso wie er Frauen schön findet und begehrt, während er damit hadert, dass sein Begehren auch als etwas Unerwünschtes wahrgenommen werden kann, als eine Zumutung.

Jackie Thomaes Beitrag „Unsexyland“, in einer nahen Zukunft spielend, überzeugt vor allem als klassische Narration, enthält eine der besten szenischen Schilderungen und zeichnet, ähnlich wie der Text von Hegemann, sehr gut Begehrensstrukturen nach, ihr Durchhaltevermögen, gleichsam ihre Irrationalität und ihre Fragilität.

Ein bisschen enttäuscht war ich von Margarete Stokowskis „Zurück“. Als großer Fan von „untenrum frei“ und der dort vorherrschenden, gelungenen Verquickung von Erlebnisbericht und essayistischer Ausformung, erscheint mir dieses Prosastück etwas blass, die Figurenkonstellation etwas zu gewollt. Vielleicht ist es eine wahre Geschichte – wenn sie fiktiv ist, wirkt das Nebeneinander zweier Thematiken (Obdachlosigkeit und sexueller Missbrauch – wohlgemerkt: nebeneinander, nicht in einer Figur zusammengelegt), etwas überinstrumentiert. Möglicherweise tue ich der Erzählung Unrecht – und mir ist klar, dass es problematisch ist, zu einem Text mit dieser Thematik einfach Geschmacksurteile abzugeben. Möglicherweise habe ich die Idee hinter dieser Zusammenführung nicht ganz verstanden.

Kristine Bilkaus „Die kurze Zeit der magischen Logik“ fängt einen weiteren Aspekt der Thematik Geschlecht und Macht ein. In ihrer Geschichte erlebt eine Mutter, wie ihre Tochter beim Spielen von zwei Jungen geärgert wird, ohne, dass die Jungen dafür von dem befreundeten Elternpaar wirklich gemaßregelt werden – am Ende ist es ihre Tochter, die sich bei den Jungen entschuldigt, weil sie wieder mitspielen will.

Am Ende noch zwei Highlights. Zum einen Mercedes Lauensteins Dialogtext „Die Wahrheit“, der die Lesenden auf ambivalente, mitunter durchaus amüsante, dann wieder ernste Weise mit Erwartungsstrukturen konfrontiert, wie vor allem Frauen sie ständig durchlaufen müssen, durch sie hindurchgeschleust werden. Und ständig in der Lage sind, reagieren zu müssen.

Fatma Aydemirs Text „Ein Zimmer am Flughafen“, mit dem der Band schließt, berichtet wiederum von einem Übergriff und wie eine Frau diesen Übergriff jemand anderem anvertraut. Die andere Person kennt den Übeltäter: es ist sein Schwager. Er will sie zu einer Aussage überreden, damit seine Schwester den Mann verlassen kann. Sie leugnet alles, zieht sich zurück. Im Licht dieser Erzählung wird noch einmal deutlich, was ein Übergriff mit einer Person macht, wie Machtausübung auch abseits des tatsächlichen Aktes geschieht, wie toxisch sie ist und wie viele Spuren von ihr zurückbleiben.

„Sagte Sie“ ist nicht nur ein Buch über sexuelle Gewalt, aber in jedem Text werden Gefälle sichtbar, zeigt sich die Schmalheit der Schwellen, an denen sich Begehren in Übergriffigkeit, Reiz in Gewalt, Interesse in Machtausübung verwandelt. Es erzählt, anschaulich und vielschichtig, und in seinen Erzählungen wird deutlich und ersichtlich, wie sehr menschliches Zusammenleben von den Auswüchsen der Problematik „Sex und Macht“ überzogen, umrankt, teilweise überwuchert wird; nicht in jedem Fall, aber oft genug.

Deswegen ist der Band lesenswert, sollte gelesen werden: als Auseinandersetzung, die viele Dimensionen abdeckt, die schildert, die den wichtigen Klartext mit wichtigen Zwischentönen versieht (ohne den Klartext damit zu untergraben). Das Buch sucht den Dialog und stellt gleichzeitig die Dinge dar, schlicht und direkt. Ich habe viel Eindrückliches mitgenommen und gleichsam viele Denkanstöße.

Zu Rebecca Solnits “Wenn Männer mir die Welt erklären”.


Wenn Männer mir die Welt erklären „das Syndrom, von dem ich spreche, ist ein Krieg, dem sich fast jede Frau Tag für Tag ausgesetzt sieht, ein Krieg, der auch in ihrem Innern stattfindet, die Überzeugung, überflüssig zu sein, die Verlockung zu schweigen, und selbst eine Karriere als Schriftstellerin (die ausgiebig recherchiert und korrekte Fakten liefert) hat mich von all dem nicht gänzlich befreien können.“

Es beginnt mit einer Geschichte, die mittlerweile vermutlich hinlänglich bekannt ist, zumal sie auch anekdotischen Charakter hat: auf einer relativ unspektakulären Dinner-Party fragt ein älterer Herr Rebecca Solnit nach ihren Büchern. Sie will gerade anfangen von ihrem neusten Buch über Eadweard Muybridge zu erzählen, da fällt er ihr auch schon, kaum dass sie den Namen erwähnt, ins Wort und beginnt, selbst von einem Buch über Muybridge zu erzählen, das im selben Jahr erschienen ist.

Schnell wird Rebecca Solnit klar, dass es ihr Buch ist – eine Möglichkeit, die dem Gastgeber nicht in den Sinn zu kommen scheint und auch Hinweise bringen ihn zunächst nicht aus dem Konzept, er doziert frohgemut weiter. Als die Information dann doch zu ihm durchdringt, kommt heraus: er hat das Buch gar nicht gelesen, sondern nur eine Besprechung im New York Review.
Eine hübsche Gegebenheit mit einer guten Pointe, wäre da nicht der symptomatische Kern – ein Kern, der sogar noch ein bisschen über das hinausgeht, was in den letzten Jahren, anhand von Begriffen wie „mansplaining“, kritisch verhandelt wurde.

„Falls ich es in meinem Essay nicht klar genug zum Ausdruck gebracht habe: Ich finde es wunderbar, wenn mir jemand etwas erklärt, was mich interessiert und womit er oder sie sich auskennt, ich mich hingegen nicht; die Unterhaltung gerät erst dann in eine Schieflage, wenn man mir etwas erklärt, womit ich mich auskenne, der oder die Erklärende jedoch nicht.“
(Aus dem Nachsatz, vier Jahre nach dem Essay entstanden)

Mansplaining klingt nämlich zunächst einmal nervig, unnötig, arrogant, ignorant und paternalistisch, aber nicht unbedingt schwerwiegend. Das Problem reicht aber noch tiefer, wie Solnit im Verlauf des Essays und im Verlauf des ganzen Buches, in verschiedenen Texten, ausführt; es ist im Prinzip dasselbe Problem, das Ingeborg Bachmann in der Erzählung „Simultan“, Karen Blixen in ihren Briefen oder Virigina Woolf in ihrem Essay „A room of one‘s one“ beschreiben: die Schwierigkeit, als Frau ernstgenommen, und, noch grundsätzlicher, als selbstbestimmt wahrgenommen zu werden.

„es muss auf diesem Planeten mit seinen sieben Milliarden Bewohnern Milliarden von Frauen geben, denen immer wieder erzählt wird, dass sie keine verlässlichen Zeuginnen ihres eigenen Lebens seien, dass ihnen die Wahrheit nicht gehöre, weder jetzt noch jemals sonst.“

Die Anekdote verdeutlicht also nicht nur das Problem des bevormundenden Mannes, es verdeutlicht einen Teil, wenn nicht sogar die ganze Struktur des Patriachats. Und das besteht nicht nur aus erklärungswütigen Männern. Es besteht aus Männern, die meinen, sie könnten entscheiden, was Frauen mit ihrem Körper tun sollten und was nicht; es besteht aus Männern, die meinen, sie hätten das Recht, an Frauen sexuelle Handlungen zu vollziehen oder mit ihnen in eine sexuelle Beziehung zu treten, ohne vorher ihr Einverständnis eingeholt zu haben; es besteht aus Männern, die Frauen zum Schweigen bringen, wenn sie gegen sie aufbegehren, mit Mitteln wie Verleumdung, Banalisierung, Hysterie-Vorwürfen etc., aber auch mit Mitteln der Gewalt bis hin zu Demütigung und Mord.

„gibt es ein weitverbreitetes, tiefgreifendes, schreckliches Muster der Gewalt gegen Frauen, das permanent übersehen wird. Hin und wieder erfahren Fälle, an denen prominente Persönlichkeiten beteiligt sind, oder die schauerlichen Einzelheiten eines Geschehens ein großes Medienecho, doch diese Fälle werden als Anomalien behandelt, während die Flut beiläufiger Pressemeldungen über Gewalt gegen Frauen hier bei uns wie in jedem anderen Land der Erde […] eine Art Hintergrundtapete für die Nachrichten darstellt.“

Und darum geht es in diesem Buch. Es wäre schade, würde man dieses Buch mit einem Nicken und dem Gedanken abtun: ja, kenne die Anekdote, kenne das Problem. Denn Solnit fächert hier in mehreren Essays eine ganze Palette von Problemen auf, die mit patriarchalen Strukturen und dem Rollenbild der Frau in unseren Gesellschaften zu tun haben.

Der zweite Text beispielsweise beschäftigt sich mit dem Themenkomplex Gewalt und Männlichkeit.

„Gewalt hat keine Rasse und keine Klasse, keine Religion und keine Nationalität, aber sie hat ein Geschlecht.
An dieser Stelle möchte ich eines betonen: Auch wenn so gut wie alle diese Verbrechen von Männern begangen werden, bedeutet das nicht, dass alle Männer gewalttätig wären. Die meisten sind es nicht. Zudem erfahren offenkundig auch Männer Gewalt, zum großen Teil durch andere Männer, und jeder gewaltsame Tod, jeder Angriff ist schrecklich.“

Natürlich ist es den meisten Menschen irgendwie klar. Man muss ja nur in die Geschichtsbücher schauen: die meisten Kriege wurden von männlichen Anführern mithilfe der männlichen Bevölkerung ausgefochten (wobei natürlich nicht nur die männlichen Bevölkerungsmitglieder unter Kriegen zu leiden hatten!). Die meisten Mörder, die die Geschichtsbücher nennen, sind Männer.
Aber auch ein Blick in die Zeitung von heute reicht aus: die Anzahl der Verbrechen gegen Frauen ist gewaltig. Nur wird jedes Verbrechen als Einzelfall behandelt und mit allem möglichen in Verbindung gebracht, nur nicht mit dem generellen Problem, dass es auch in unseren Gesellschaften nicht selten vorkommt, dass ein Geschlecht dem anderen in vielen Situationen ausgeliefert ist – und das nicht, weil Frauen hilflose Wesen sind, sondern weil Männer öfter gewalttätig sind und ihre Gewaltbereitschaft sie zu einer ständigen Gefahr macht.

Auch Frauen begehen Verbrechen. Auch Frauen üben Gewalt in Beziehungen aus – aber das endet erstens selten tödlich und zweitens sind diese Taten in einem hohen Prozentsatz der Fälle Akte der Notwehr oder der Angst oder der Verzweiflung.

„Die Verfügbarkeit von Waffen ist in den Vereinigten Staaten offenkundig ein Problem. Dennoch werden neunzig Prozent der Morde an Männer begangen, obwohl Waffen für alle verfügbar sind. […] Alle neun Sekunden wird in unserem Land eine Frau geschlagen. […] Die Haupttodesursache von schwangeren Frauen sind in den USA die Ehemänner. […] Unter den amerikanischen Ureinwohnerinnen wird jede dritte Frau vergewaltigt, wobei achtundachtzig Prozent der Täter in den Reservaten nicht-indianischer Herkunft sind […] Nach Informationen des Theaterprojekts Ferite a morte der Schauspielerin Serena Dandini und ihrer Kolleginnen werden weltweit jedes Jahr rund sechsundsechzigtausend Frauen von Männern unter bestimmten Umständen getötet, für die die Gruppe den Begriff femminicidio, Feminizid, geprägt hat. Meist werden diese Frauen von Liebhabern, Ehemännern, ehemaligen Partnern umgebracht, die damit die extremste Form von Beherrschung ausüben, die endgültige Form der Auslöschens, des Zum-Schweigen-Bringens, des Verschwindenlassens. […] Die üblichen Ratschläge [für die Verhinderung von Vergewaltigungen beispielsweise] bürden die gesamte Last der Prävention den potenziellen Opfern auf, während sie die Gewalt als gegeben voraussetzen.“

Nicht nur die Gewalt, was schlimm genug ist, sondern auch die damit verbundene Idee von Männlichkeit wird als gegeben hingenommen. Unterbewusst scheint unser System andauernd zu verkünden: Männer sind halt so, Frauen sind halt so. Die Phrase schwingt mit: wenn der Präsident im Fernsehen eine selbstgefällige Rede hält; wenn sich ein Freund aus Frustration in eine misogyne Bemerkung versteigt; wenn der eigene Vater beim Weihnachtsessen eine witzig gemeinte sexistische Bemerkung macht und die eigene Mutter nur müde lächelt; oder wenn man mal wieder auf fadenscheinige Art ein sexueller Übergriff kleingeredet wird.

„Wenn wir über Verbrechen wie diese reden würden und darüber, warum sie so häufig geschehen, müssten wir auch darüber reden, welche tiefgreifenden Veränderungen unsere Gesellschaft, dieses Land und so gut wie alle anderen Länder brauchen. Täten wir es, müssten wir über Männlichkeit oder männliche Rollenbilder reden und vielleicht auch über das Patriachat, und darüber reden wir nicht gerade oft.“

Das Problem ist: wenn sich dieses Denken nicht ändert, sehe ich nicht nur ein Problem für unsere Gesellschaften, sondern überhaupt für unsere Welt. Denn sehen wir uns doch mal um: wenn es stimmt, dass diese Welt lange Zeit eine „man’s world“ war, dann (bei allen großartigen Erfindungen und Errungenschaften, Erfolgen und Ideen, die auch nicht ohne die unsichtbare Mitarbeit, Hilfe und Unterstützung des weiblichen Teils der Bevölkerung möglich gewesen wären) sollte sie es in Zukunft nicht mehr sein, denn dann hat sie keine Zukunft. Vielleicht bin ich da pessimistisch, sogar hysterisch, aber ich glaube, dass es schon einen (wenn auch nicht alleinigen) Zusammenhang gibt zwischen überholten Männlichkeitsbildern und den Kriegen und sonstigen Konflikten, mit denen die Welt von jeher überzogen wird. Und da hilft es nicht zu sagen: Männer sind halt so. Es existiert in unseren Gesellschaften die Idee eines Menschen, der sich aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten zu seinen eigenen tierischen Instinkten und auch zu seinen eigenen bisherigen geistigen Erzeugnissen und Wahrheiten verhalten und sie reflektieren kann. Ohne diese Idee keine Zivilisation. Und diese Idee sollte nicht vor veralteten Geschlechterrollen halt machen.

Als ich mich anhand dieses Buches (und anderer Bücher) und natürlich auch in Gesprächen mit Freund*innen mit der Problematik des Patriachats auseinanderzusetzen begann, war ich anfangs oft erschüttert, verunsichert, wie ich mich nun positionieren sollte; diese Verunsicherung hat sich bisher nicht geklärt und mittlerweile glaube ich, dass diese Verunsicherung eine Form von Achtsamkeit/Aufmerksamkeit/Bewusstsein ist, die ich nicht überwinden, sondern erstmal beibehalten sollte.
Natürlich werde ich die ganze Wucht der Problematik nie nachvollziehen können, denn mir fehlt das Gefühl unmittelbar betroffen zu sein; ich habe nie die Konsequenz erfahren, mit der eine so geartete Wirklichkeit mein Handeln bedingt, bedrängt und einschränkt; ich kann nicht wissen, was das mit einem macht, körperlich, psychisch. Ich kann es nur erahnen, aber diese Ahnung reicht mir, um zu wissen, dass etwas grundlegend falsch läuft.

„Oder wie eine gewisse Jenny Chiu twitterte: »Klar, #NichtAlleMänner sind Vergewaltiger und Frauenfeinde. Aber darum geht es nicht. Der springende Punkt ist: #JaAlleFrauen leben in der Angst vor denjenigen, die es sind.«“

Ich muss zugeben, seitdem ich Rebecca Solnits Buch gelesen habe, habe auch ich Angst. Nicht vor anderen Menschen, aber vor mir selbst. Ich denke nicht, dass ich dazu in der Lage wäre jemandem Gewalt anzutun, jemanden sexuell zu nötigen. Ich will es nicht und ich bin außerdem überzeugt davon (auch wenn das abgeschmackt pathetisch klingt), dass ich damit einen unermesslichen Schaden in meiner eigenen Seele anrichten würde. Aber ich habe Angst davor, jemandem Angst zu machen.

Ich lief einmal mit einem Freund spätnachts durch die Wien. An einer Ampel fragte er eine junge Frau, die uns allein entgegenkam, nach einer Zigarette und Feuer. Wir gingen weiter und nach einer Weile sagte er (in etwa): „Dieser Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht, als sie merkte, dass ich nur nach einer Zigarette fragen wollte.“ Auch ich hatte den Ausdruck gesehen. Erst den kurzen Schreck, als er sie ansprach, und dann die Veränderung in ihrem Gesicht, das erleichterte Lächeln, als er etwas ungelenk und entschuldigend seine Bitte vorbrachte: Er wisse, Schnorren sei irgendwie uncool, aber wir hätten noch einen langen Heimweg, etc.

Ich kenne meinen Freund und weiß, er ist nett und keineswegs gefährlich. Aber allein die Tatsache, dass er ein Mann ist und sie nachts auf offener Straße anspricht, während nur ein anderer Mann anwesend ist, bringt diese Frau kurz aus dem Gleichgewicht. Nicht, weil wir über die Maßen bedrohlich wirkten und vermutlich auch nicht, weil sie eine schreckhafte Person ist. Sondern weil wir in einer Welt leben, in der Frauen ständig Angst vor sexuellen Übergriffen und Gewalt haben müssen – sie wachsen in dieser Gewissheit auf, sie erleben es immer wieder, die permanente Möglichkeit wird ihnen eingetrichtert.

„Die Vorstellung, Frauen schuldeten Männern Sex, existiert praktisch überall. Genau wie mir damals, wird vielen Frauen schon im Mädchenalter eingeredet, dass wir mit Dingen, die wir getan, gesagt oder getragen hätten, oder einfach nur durch unser Aussehen beziehungsweise durch die Tatsache, dass wir Frauen sind, Begierden ausgelöst hätten, daher seien wir vertraglich verpflichtet, diese zu befriedigen. Wir seien es ihnen schuldig. Sie hätten ein Recht darauf. Auf uns.“

Ich glaube nicht, dass irgendein vernünftiger, emotional ausgeglichener Mensch laut sagen würde, dass sexuelle Gewalt eine prima Sache sei, die in unseren modernen Gesellschaften noch einen Platz haben sollte (dieser Glaube ist zugegebenermaßen schon oft erschüttert worden, wenn mir Freund*innen von ihren Erlebnissen berichtet haben oder auch durch dieses Buch von Solnit; im Moment halte ich noch an diesem Glauben, an dieser Hoffnung fest, zumindest, was unsere Generation betrifft.).

Dass sexuelle Gewalt schon bei einfachsten Übergriffen, physischer und psychischer Natur, beginnt, ist leider ein Aspekt, der noch nicht bei allen Leuten, die diese Aussage treffen würden, angekommen ist. Und selbst wenn doch: es ist leider immer noch gang und gäbe, dass zu wenig getan wird, um den Mechanismen und Rollenbildern, die dieses Verhalten bestärken, entgegenzuwirken. Wenn wir eine Gesellschaft ohne diese Form der Gewalt, der Unterdrückung haben wollen, müssen wir dieser Gewalt jeden Zentimeter Boden nehmen, den wir ihr nehmen können! Denn, wie Solnit scheibt, es ist klar,

„dass Gewalt in erster Linie autoritär ist. Ihre Ausgangsprämisse lautet: Ich habe das Recht, über dich zu bestimmen. […] Jeder sexuelle Übergriff ist ein Akt der Gewalt – die Weigerung, jemanden als Menschen zu behandeln, die Verletzung eines der grundlegendsten Menschenrechte, nämlich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.“

Auch mit dem Themenkomplex Männlichkeit/sexuelle Gewalt ist die Bandbreite dieser Essaysammlung noch nicht ausgereizt. Es gibt z.B. noch Kapitel über das Kassandra-Syndrom (das systematische Untergraben weiblicher Glaubwürdigkeit) und auch einen sehr gelungenen Text über das Denken und Schreiben von Virginia Woolf. Darin zitiert sie unter anderem aus Woolfs Essay „Die Berufe der Frauen“, in welchem Woolf sinnbildlich den „Engel im Haus“ (und mit ihm die Vorstellung, die jahrhundertelange mit der Rolle der Frau verbunden war) umbringt und schreibt:

„Mit anderen Worten, nun, da sie sich von der Verlogenheit befreit hatte, brauchte sie nur noch sie selbst zu sein. Ah, aber was ist »sie selbst«? Ich meine, was ist eine Frau? Ich versichere ihnen, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass Sie es wissen.“

Die meisten Männer begreifen glaube ich immer noch nicht, dass ihre Geschlechtsgenossen diese Frage nach der weiblichen Identität, dem weiblichen Selbst und dessen Entfaltung, über Jahrhunderte, bis nah an unsere Gegenwart heran, bestimmt, unterdrückt, übervorteilt, verdrängt, enggezogen, kleingeredet etc. haben. Geradezu systematisch.

Man kann die Augen davor wirklich nicht mehr verschließen, unsere eigenen (vor allem männlich geprägten) Geschichtsbücher erzählen davon, wie auch unsere literarischen Kanons, in jeder Faser. In „a room of one’s own“ schreibt Virginia Woolf über all die Professoren, die ich im viktorianischen England zum Wesen der Frau geäußert haben, in zig Publikationen – eine Obsession, die furchtbare Stilblüten und noch furchtbarere Vorstellungen und Klischees des Weiblichen zur Folge hatten. Es sind Werke, die Frauen nahezu alles absprachen (und teilweise immer noch absprechen, es gibt diese Bücher ja immer noch): Integrität, Verstand, Talent, Eignung, Objektivität, Vorstellungskraft und, ja, sogar schlicht Bewusstsein in Bezug auf das eigene Wesen.

„Ich habe eine Freundin, deren Familienstammbaum über tausend Jahre zurückreicht, doch er umfasst keine Frauen. Sie musste feststellen, dass sie, im Gegensatz zu ihren Brüdern, nicht existiert. Auch ihre Mutter existiert nicht, genauso wenig wie die Mutter ihres Vaters. Oder auch der Vater ihrer Mutter.“

Rebecca Solnit erzählt in diesen Essays, geschrieben im Zeitraum zwischen 2008 und 2014, alles in allem nicht viel Neues – aber nicht davon ist alt, weil nichts davon vorbei ist, nichts davon erledigt. Und allein die schiere Ansammlung an Problematiken rund um die Themen Patriachat und Geschlechterrollen, systematische Unterdrückung und Benachteiligung, etc. ist schon bemerkenswert. Keiner der Texte ist ein großer theoretischer Wurf, aber sie sind alle ungeheuer bewusstseinsbildend – und genau das braucht es meiner Ansicht nach: dass ein Bewusstsein in die Gesellschaft getragen wird, geschmissen meinetwegen. Ein Bewusstsein bzgl. der Dimensionen, der Ausmaße, der Mechanismen, der schieren Tatsachen. Ein Bewusstsein dahingehend, dass wir es hier mit einem grundsätzlichen und richtungsweisenden Problem zu tun haben, genauso wichtige wie jene, die den Postkolonialismus oder dem Klimawandel betreffen.

Also, bitte, auch wenn es zunächst so klingt, als könnte man dieses Buch auch subsummieren und müsste es nicht lesen: lest es! Leiht es euch aus. Redet mit jemandem, der es gelesen hat. Lest zumindest einen der anderen Essays. Kritisiert sie, überholt sie! Führt die Diskussionen, die sich aus diesen Texten ergeben. Es wäre so, so, so wichtig.

„Wie soll ich diese Geschichte erzählen, die wir schon allzu gut kennen? Ihr Name war Afrika. Sein Name war Frankreich. Er kolonisierte sie, beutete sie aus, brachte sie zum Schweigen, und noch Jahrzehnte nachdem das angeblich vorbei war, griff er willkürlich in ihre Angelegenheiten ein, an Orten wie der Elfenbeinküste, die ihren Namen nicht ihrer Identität, sondern ihren Exportgütern zu verdanken hat.
Ihr Name war Asien. Seiner war Europa. Ihr Name war Schweigen. Seiner war Macht. Ihr Name war Armut. Seiner war Reichtum. Ihr Name war SIE, aber was gehörte ihr? Sein Name war ER, und er ging davon aus, dass alles ihm gehörte und er sie nehmen konnte, ohne zu fragen und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.“