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Zu “Ihr habt keine Plan – darum machen wir einen” vom Jugendrat der Generationen Stiftung


Ihr habt keinen Plan „Wir widmen dieses Buch allen Menschen, die je zu uns gesagt haben: »It’s not gonna happen«“

Jeder kennt den Spruch, der immer wieder den Ureinwohner*innen Nordamerikas zugeschrieben wird: „Wir haben die Welt nicht von unseren Vorfahren geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.“ Eine fast schon Phrase gewordene Wendung, die aber für ein einleuchtendes Konzept steht: es gibt keine Zukunft, wenn sie nicht bereitet, ihre Bedingungen nicht antizipiert werden. Die Vergangenheit ist ausdeut- und belegbar, die Gegenwart gestaltbar, aber Zukunft muss bereitet werden, nur unter bestimmten Bedingungen kann sie überhaupt eintreten.

Wohlgemerkt: die Zukunft der Menschheit. In der Natur setzt sich durch, wer sich anpassen kann – und für die Menschheit hat nun die Stunde geschlagen, in der sie sich anpassen muss oder sie wird verschwinden wie viele andere dominante Spezies. Wer das für eine übertriebene Sicht hält, der hatte (bei aller Liebe) wohl in den letzten Jahren kein vernünftiges Buch in den Händen oder keine(n) vernünftige(n) Studie/Onlineartikel/Fernsehbericht vor Augen. Und hat folglich noch keinen Bericht über den Suizid einer Gattung mit pathologischem Befund gelesen, die wir geworden sind – sollte das aber schleunigst nachholen.

Tatsächlich ist Generationsgerechtigkeit ein revolutionäres Konzept, das uns zwingen würde, unser Leben, unser Wirtschaften und unsere Gesellschaft völlig neu aufzustellen.

Aber lassen wir das Pathologische des Menschen mal beiseite, denn mit „Ihr habt keinen Plan – darum machen wir einen“ hat der Jugendrat der Generationen Stiftung ein Manifest der Hoffnung und nicht (nur) des Zynismus vorgelegt (auch wenn es sich in vielerlei Hinsicht wie ein Manifest zu letzterer Regung liest, zumindest für mich). Zehn Felder arbeitet das Buch ab und identifiziert in diesen Feldern die Fehler aus Gegenwart und Vergangenheit und stellt eine Liste von Bedingungen auf, die das Überleben und Gedeihen der Menschheit als ganzer gewährleisten können, wenn sie zeitnah umgesetzt/jetzt in Angriff genommen werden.

Die Felder sind nach Dringlichkeit sortiert, denn den Anfang bilden die Punkte „Klima retten“ und „Ökozid verhindern“, anders gesagt: Lebengrundlagen bewahren – ohne die alles Kulturelle, Soziale und Gesellschaftliche eh keine Rolle mehr spielt oder sich zumindest verselbständig, der Kontrolle entzieht.

Ab sofort müssen wir die Klimakrise als das Wahrnehmen, was sie ist. Sie versetzt die ganze Welt in einen Notstand. […] Die nächsten Jahre bieten vielleicht die letzte Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern: die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, wie wir sie seit Beginn unserer Zivilisation kennen. […] Die Natur wird ausgebeutet – vermeintlich ohne Folgekosten. Denn sie macht keine Kostenvoranschläge, sie taucht nicht in Finanzbilanzen auf, sie schreibt keine Rechnungen. Irgendwann wird damit Schluss sein. Dann wird sie die Schulden eintreiben […] Wenn einmal das große Sterben um sich greift und riesige Löcher in Ökosysteme und Nahrungsketten reißt, ist nichts mehr unter Kontrolle. Jede Einsicht, dass auch wir Menschen ein Teil des großen Ganzen sind, das wir bereitwillig und rücksichtslos zerstören, kommt dann zu spät. […] Wirtschafts- und Finanzsysteme lassen sich wieder aufbauen. Ökosysteme nicht. […] Die Maßnahmen, die wir einfordern, sind radikal. Aber der drohende Ökozid lässt sich nicht durch harmlosere Maßnahmen, die niemandem wehtun, und kleine Einschnitte abwenden.

Schon in diesen ersten beiden Kapiteln schreitet das Buch mit einem enormen Tempo und großer Kompromisslosigkeit voran. Die Autor*innen machen klar: die Fakten haben wir gecheckt, unsere Vorschläge daran angepasst, folglich gilt: „Ein »Das geht nicht« verstehen wir als ein »Wir wollen nicht«.“ Dieses enorme Tempos und der kompromisslos-klare Ton wirken sich natürlich auch auf die Wucht der Darstellung aus. Wobei, die Inhalte reichen eh: Hier wird schließlich (leider nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Mal, man denke nur an Philipp Bloms „Was auf dem Spiel steht“) nicht viel weniger als die ganze Hybris unseres derzeitigen Handelns offen gelegt, sicherlich hier und da vereinfacht dargestellt, aber im Kern zutreffend und voller erschreckender bis ernüchternder Beispiele.

Bis 2050 wird fast jeder Meeresvogel Plastik im Magen haben – schon heute sind es über 90 Prozent. Auf diesem Wege steigt das Plastik die Nahrungskette hinauf und landet schließlich auch in unserer Nahrung.

Kapitel drei nimmt sich dann des freien Marktes und der Finanzvorstellungen der Gegenwart an. Und hält fest:

Wer weiterhin behauptet, harte Arbeit zahle sich aus, macht aus der Existenz der meisten Menschen einen schlechten Witz.

Das habe ich selten so klar und prägnant gelesen. Und wenn es auch in Zentraleuropa vielleicht noch nicht so weit ist, dass der Satz mit vollem Recht an allen Häuserwänden prangen könnte, so gibt es doch viele Orte auf der Welt, an denen dies ohne Probleme der Fall sein könnte. Längst haben sich Paradigmenwechsel vollzogen, die hartnäckig geleugnet und retuschiert werden und weiterhin werden Konzepte auf Hochglanz poliert, die ihren Bezug zur Realität längst eingebüßt haben. Schere zwischen arm und reich, etc., die meisten werden das kennen, die wenigsten nehmen es leider ernst.

Im Grundgesetz heißt es, Eigentum verpflichtet. Wenn dieses Prinzip nicht bald wirklich wieder gilt, höhlt das unser Miteinander immer weiter aus.

Es muss wieder normal werden, dass Unternehmen, die häufig die Gesetze brechen, die Lizenz entzogen wird.

Und das Buch macht weiter große Schritte: von der sozialen Gerechtigkeit über Digitalisierung, Bildung, Demokratie, Menschenrechte and more and more. Zu jedem Punkt wird ein Katalog von Änderungen vorgelegt, die alle in Kurzform noch einmal hinten im Buch versammelt sind. Das Buch ist durchgehend gegendert, leider auch keine Selbstverständlichkeit.

Seit vielen Jahren wissen die meisten Menschen (oder könnten es wissen), dass unser derzeitiger Umgang mit den Ökosystemen, der Gesellschaft, den Kapitalflüssen etc. nicht funktioniert/keine Zukunft hat, eines Neuentwurfs bedarf. Hier, in diesem Buch, hat eine Gruppe junger Menschen einen solchen Neuentwurf gewagt. Sicher bedürfte er einiger Optimierungen, zusätzliche Ideen könnten eingeflochten werden, aber grundsätzlich ist es ein beeindruckender Plan für eine möglichzumachende Zukunft. Immer wieder pochen sie besonders darauf, dass Deutschland in der internationalen Gemeinschaft von Bedeutung ist (politischer und wirtschaftlicher) und sich dieser Bedeutung bewusst werden, sie nutzen muss, im Sinne einer für alle gesicherten Zukunft.

Ich muss zugeben, dass ich nicht viele Gründe kenne, an eine solche Zukunft noch zu glauben, leider erst Recht nicht nach diesem Buch, das die Probleme so gut und offen darlegt. Aber ich habe große Hochachtung vor diesem Versuch und hoffe natürlich, wider allen Pessimismus, dass dieser Plan adaptiert, in die Tat umgesetzt wird. Nicht nur hoffe ich das, ich wünsche es ihm. Vermutlich wird wieder nur endlos darüber diskutiert, wenn überhaupt.

Zu Margarete Stokowskis “Die letzten Tage des Patriachats”


Die letzten Tage des Patriachats Man muss schon den Hut ziehen vor Margarete Stokowski, wenn man diese gesammelten Kolumnen liest. Wie viele zentrale Themen unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verhältnismäßigkeiten darin aufgegriffen und angeschnitten, wie viele wichtige Anmerkungen zu Umgang, Perspektiven und Scheuklappen gemacht werden, wow. Und dann muss man noch einmal den Hut ziehen, wenn Stokowski hier und da durchblicken lässt, mit welcher Engstirnigkeit sie sich oft konfrontiert sieht, in Kommentaren, Zuschriften, etc., weil sie als Verfasserin dieser Kolumnen in Erscheinung tritt.

Der Band sammelt 75 von Stokowski ausgewählte Kolumnen aus den Jahren 2011-2018, die in zehn Themenkapiteln jeweils chronologisch angeordnet sind; viele von ihnen hat sie ergänzt durch Nachsätze, in denen sie Kommentare und Folgen zu den einzelnen Kolumnen schildert. Übergreifend kann man sagen, dass sie (bei Kolumnen nicht überraschend) oft einen Bezug zum Tagesgeschehen haben – aber Stokowski gelingt es fast immer, jenseits (oder eher diesseits) des Anlasses generelle Feststellungen anzubringen, Schlüsse zu ziehen, Symptome freizulegen und zu isolieren, Strukturen zu zeigen und eingespielte Problematiken zu benennen.

Ein zentrales Thema, das viele Kolumnen durchzieht, ist die Rolle von Frauen (und Minderheiten) in der Gesellschaft und ihre Stigmatisierung, die leider immer noch viele (sehr viele) Facetten und Gesichter hat.

Frauen haben immer noch weniger Geld als Männer, sie arbeiten seltener in Führungspositionen, sie erledigen die meiste Familienarbeit, und nicht wenige erleben sexualisierte Gewalt. Im Deutschen Bundestag sind im Jahr 2018 nicht mal ein Drittel der Abgeordneten Frauen. Frauen müssen in vielen Ländern für grundlegende Rechte kämpfen, und selbst dort, wo sie das nicht müssen, hören sie in den verrücktesten Situationen dämliche Kommentare über ihren Körper.

Es sollte jedoch niemand den Fehler machen, Stokowski deswegen für eine Agitatorin mit begrenzter Motivation und begrenzter Perspektive zu halten. Eins beweist sie in ihren Kolumnen mehr als einmal und ich bewundere sie enorm dafür: dass sie immer wieder gegen vereinfachte und festgesetzte, eingespielte und klischeegesteuerte Vorstellungen anschreibt und dass es ihr gelingt ihren Kolumnen (und hier setzt die Bewunderung ein) fast immer einen widerständigen, schlagfertigen Zug zu geben, eine Argumentation und Intonation aufzubauen, die sich auf knappem Raum wirkungsvoll und klug behaupten kann.
Stokowskis Texte zeigen: die Welt mag komplex sein, unübersichtlich vielleicht, aber es gibt doch sehr viel, das wir klar feststellen können, sowohl bei den Sachen, die im Argen liegen, als auch bei den Sachen, die gute Entwicklungen sind und jeden Unkenrufen trotzen können.

Bei Stokowski kann man außerdem lernen (nicht nur bei ihr, aber auch bei ihr), dass Feminismus eben nicht ein Versuch ist, Männer zu dämonisieren, unterzukriegen oder für ihr Mann-sein zu verdammen, sondern die generelle Emanzipation von Macht- und Diktionsstrukturen, sowie die längst fällige Aufhebung von zu enggezogenen Geschlechterbegriffen und Rollenbildern betreibt, zum letztendlichen Vorteil beider Geschlechter. Wie Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ schrieb:

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ungleichheit und Stigmatisierung haben, wie gesagt, noch immer viele Facetten. Großteils sind es eingefahrene, überholte, falsche Vorstellungen, gegen die sich der Versuch der Veränderung von Verhältnissen und Umgangsformen behaupten muss. Das fängt an bei der von vielen Medien geschürten und überall halbgar servierten „Angst“ (in diesem Kontext wirklich das falsche Wort), dass die Anprangerung von sexuellen Übergriffen und Sexismus, am Arbeitsplatz und anderswo, einem Verbot von Flirten und Begehren gleichkommt. Stokowski bringt die Fadenscheinigkeit dieser (und anderer) Panikmacherei auf den Punkt und schreibt am Ende:

Es gibt eine feministische Flirtregel, die man sich im Übrigen sehr leicht merken kann und die lautet [#wheaton’slaw]: Sei kein Arschloch. Fertig. That’s it. Unisex übrigens.

und an anderer Stelle:

Es ist mir ein Rätsel, wie man denken kann, irgendwas würde der Menschheit fehlen, wenn Sexismus, Belästigung und Missbrauch wegfallen.

Aber Stokowski lässt es nicht bei diesen Themen bewenden, sondern äußert sich ebenso pointiert, gewandt, kritisch und klug zu angrenzenden und anders gearteten Themenbereichen. Großartig ist ihre Kolumne zu „Germany’s next Topmodel“, die mir aus der Seele spricht; am liebsten würde ich das folgende Zitat bei ProSieben einblenden, während die Show läuft:

Die Sendung ist eine perverse, niederträchtige, menschenverachtende Geldmaschine, die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben und sich den Regeln der Jury unterwerfen, weil man als Model halt einfach auch mal machen muss, was der Kunde will.

Und sie spricht mir ebenso aus der Seele, wenn sie über die Verbindung von Sexualität und Werbung schreibt – eine Erscheinung, welche, so glaube ich, das Verhältnis zum eigenen Körper in den letzten Generationen mitunter schwer belastet hat, vom Frauenbild ganz zu schweigen und vom Männerbild, das auf dieses Frauenbild ständig anspringen soll, erst recht.

Wenn wir aber die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen können von Sex oder Erotik, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein tief sitzendes. Wenn wir denken, dass wir nicht frei sind, weil nicht überall Brüste hängen oder Frauen halbnackt über Mietwagen robben, dann ist das ein schlechtes Zeichen für unser Frauenbild.

Auch auf die feinsprachliche Ebene geht Stokowski immer wieder – bspw. in einer Kolumne über die häufige Verwendung der Wörter „Krieg“, „Kamp“, „Frontlinie“ bei der Beschreibung von Diskussionen und Auseinandersetzungen zum Thema Gender und Feminismus. Die Kolumne trägt den rotzigen Titel „Hamse jedient im Genderkrieg?“ Stokowski klagt darin die fast schon brutale, zumindest zynische Gedankenlosigkeit bei der Verwendung dieser Worte an, die für eine gewaltsame und leidvolle, verheerende Erscheinung steht und schreibt u.a.:

Sagt mal: Frontlinie, Barrikaden, Krieg – haben die alle zu viel »Star Wars« geguckt. […] Es ist nur eine Metapher, sagt ihr. Nein, es ist unbedachtes Wörterkotzen. Metaphern haben einen Sinn, sie sollen etwas klarer oder schöner sagen. Wer aber von Krieg spricht, macht es weder klarer noch schöner, der sagt nur: Guck, wie sie sich prügeln. […] Hier meine These dazu: Das ist schlecht. Es klingt nach Eskalation, aber da eskaliert nichts. Da reden Leute. […] Krieg! Und dann bringt ein Mann eine Frau um, und was wird daraus? Ein »Beziehungsdrama«. […] So viel Feinfühligkeit darf man erwarten, nicht von Krieg zu sprechen, wo kein Krieg ist, und von Mord, wo Mord ist.

Und so geht es weiter – dreihundert Seiten Schlagfertigkeit, widerständiges und reflektiertes Denken, manchmal nonchalant serviert, manchmal um die Ohren pfeifend, mal von beißendem Spott, mal von klarer Anteilnahme begleitet. Ich erwische mich beim Lesen oft dabei, dass ich mir wünsche, dass Stokowskis Artikel die durchschlagende Wirkung erzielen, die sie für mich haben; dass Germany’s Next Topmodel dichtgemacht wird und Jens Spahns himmelschreiende Aussage zu Hartz IV als der politische Selbstmord gewertet wird, als der er hätte wahrgenommen werden müssen.

Wenn es wäre, wie Spahn sagt, und man hätte mit Hartz IV wirklich alles zum Leben, dann wären die Leute, denen das Geld nicht reicht, entweder unfähig oder gierig. […] Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Voreinstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Aber daraus ergibt sich Verantwortung.

Und für Verantwortung wirbt und kämpf Margarete Stokowski in diesen Texten. Für Verantwortung und Verständnis, fürs Hinterfragen und Empathisieren, sie wirbt darum und sie verlangt danach. Sie bricht Lanzen für Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, sie zerrt Hass und Rücksichtslosigkeit, Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit hervor und stellt sie bloß. Nach dreihundert Seiten kann ich nur noch sagen: Wir können froh sein, eine Stimme und eine Essayistin wie Margarete Stokowski zu haben. Sie hat zumindest mir dabei geholfen weiter zu denken als bisher, vielschichtiger mitzuempfinden, genauer hinzusehen. Wenn ein Buch das leistet, dann ist es ein verdammt gutes Buch.

Zu “Die verborgene Bibliothek” von Alberto Manguel


Die verborgene Bibliothek

Als Diodorus Siculus im 1. Jahrhundert Ägypten besuchte, las er über dem in Ruinen liegenden Eingang der alten Bibliothek den eingravierten Schriftzug »Klinik der Seele.« Vielleicht ist das das höchste Ziel einer jeden Bibliothek.

Nicht viele Lektüren gibt es, die Geborgenheit verheißen. Jede begeisterte Leserin/jeder begeisterte Leser kennt und besitzt wohl solche Bücher, die ihn nicht nur unterhalten oder inspirieren, sondern ihr oder ihm das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein in der Welt, nicht allein zu sein mit seinen Gefühlen, Vorlieben, Hoffnungen und Wünschen.

Alberto Manguel – ein Autor, dessen ganzes essayistisches Werk ums Lesen, um die Bandbreite der Erkenntnisse und Freuden die in Begegnungen mit Büchern liegen, kreist – hat einige Bücher geschrieben, die mir ein Gefühl von Geborgenheit geben, die die Zuneigung, die ich Büchern entgegenbringe, beflügeln und meine Überzeugungen zu Themen wie Humanität und den Glauben an die wichtige Funktion, die das Geschichtenerzählen in unserer Kultur einnimmt, widerspiegeln. Manguel schreibt:

Schon immer haben Bücher für mich gesprochen.

und das ist eine Erfahrung, die ich nur allzu gut kenne. Und die er meisterhaft heraufbeschwören kann.

Sein neustes Buch ist im Prinzip ein Mix aus den Motiven seiner früheren Bücher (gruppiert um einen biographischen roten Faden). Ausgangspunkt ist das Verpacken seiner Bibliothek, die über Jahre, wie er selbst, in Frankreich zu Hause war und jetzt in dutzenden Kartons zwischengelagert wird. Wie es dazu kam und wie dieser scheinbare Abschied dann doch einen neuen Anfang markierte, schildert er in dem Hauptstrang des Textes; der ist sowohl Lebensbilanz als auch, wie immer, ein Bekenntnis zur Schönheit und Kraft der Literatur.

In zehn Abschweifungen greift er außerdem verschiedene Themenkomplexe auf, die immer wieder die Idee der Bibliothek streifen, aber auch andere kulturelle, ethische oder historische Abzweigungen nehmen. Manguel besitzt die erstaunliche Fähigkeit, in derselben Passage ein Thema zu erörtern und eine Geschichte zu erzählen, eine Eigenschaft, die seinen Texten eine ganz bestimmte Art von Faszination verleiht, wie ich sie sonst nur aus den Texten von Jorge Luis Borges oder Joseph Brodsky kenne.

Literatur, Lesen und Schreiben, sind eine einsame und zugleich universelle Angelegenheit. Literatur ist etwas, dass sehr viel mit uns als Individuum zu tun hat und uns doch die Möglichkeit gibt, mit anderen Menschen viel zu teilen. Auch dieser Widerspruch, der die tiefsten Gründe unserer Existenz mitbedingt, ist immer wieder Thema in Manguels Erörterungen.

Wir suchen zeitlebens voller Sehnsucht nach unserer anderen Hälfte. Und doch sind all das Händeschütteln und Umarmen, alle akademischen Debatten und Kontaktsportarten nicht genug, um die Individualität, zu der wir verurteilt worden sind, aufzubrechen. […] Wir sind verdammt zur Singularität.
Jede neue Technologie birgt in sich auch die Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Auch unsere neuen digitalen Technologien konnten dieses Versprechen (das sie noch deutlicher als alle Technologien vor ihnen zu proklamieren schienen) nicht halten. Auch die Literatur kann nicht für immer die Grenzen zwischen uns und anderen einreißen. Aber sie kann kurze Übergänge, störungsfreie Übertragungen, Austausch und Einbezug ermöglichen, anregen.

„Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt“ schrieb Ilse Aichinger und die Literatur, die Kunst, hat sich dieser Aufgabe von jeher angenommen.

Und die Kunst, speziell die Literatur, hat in Manguel längst einen ihrer wundervollsten Fürsprecher, Verteidiger und Idealisten gefunden. Das neue Werk ist wieder voller wunderbarer Zitate, Anekdoten, Erläuterungen und Anregungen; es erschafft und öffnet wieder Türen und Fenster.

Ich bekenne ganz ohne Scheu: ich habe mich auch in dieses neuste Buch wieder vernarrt, in seine Verbindung aus Menschlichkeit und Gelehrtheit, aus Melancholie und Begeisterung. Lesen Sie Manguel! Es gibt nur wenige Schriftsteller*innen, die einen so gastfreundlich aufnehmen und kaum welche, die man mit so viel Hoffnung und neuen Ideen wieder verlässt.

Ein Jahr vor seinem Tod traf Kafka während einer Kur in Müritz seine Schwester Elli und ihre drei kleinen Kinder. Eines der Kinder stolperte und fiel. Die anderen beiden wollten schon laut loslachen, doch um zu vermeiden, dass sich das Kind für seine Tollpatschigkeit schämte, rief Kafka ihm in bewunderndem Ton zu: »Wie toll du fallen kannst! Und wie gut du wieder aufgestanden bist!« Vielleicht können wir (wenn auch wohl vergeblich) darauf hoffen, dass eines Tages jemand kommen und auch diese erlösenden Worte sagen wird.

Eine Polemik im Umfeld des Buches “mit Rechten reden” von den Autoren Leo, Steinbeis und Zorn


Mit Rechten reden „bestünde die Rechte mehrheitlich aus Holocaustleugnern, Hitlerfans, Brandstiftern und Terroristen, handelte es sich bei Ihnen, mit einem Wort, vor allem um gewaltbereite Neonazis, dann hätten wir kein Problem mit ihnen. Wir hätten einen Job zu erledigen. Die Umtriebe einer staatsfeindlichen und latent kriminellen Subkultur könnten wir getrost den Wächtern überlassen: der Polizei, der Bundeszentrale für politische Bildung, Ursula von der Leyen und der Antifa. Unsere Perspektive schließt Rechtsterroristen und Neonazis nicht aus, aber wir halten es mit einer Maxime der angelsächsischen Rechtspraxis: Hard cases make bad law. Wir werden, heißt das, die Extremfälle der Rechten von ihren moderaten Varianten her verstehen, nicht umgekehrt.“

Das Böse wird nur siegen, wenn die Guten es zulassen. Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen. Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.

Jeder hat sicherlich schon einmal eine Abwandlung des Zitats “The only thing necessary for the triumph of evil is for good men to do nothing” von Edmund Burke gehört. Damit lässt sich das Herz kampfeslustig und gleichsam rührig anheizen und man kann es allen entgegenhalten, die noch unschlüssig am Rande des Schlachtfelds stehen und sich fragen, worum hier genau gekämpft wird und was passiert wenn die eine oder die andere Seite gewinnt.

Ich mag diesen Spruch, nicht ob seines Pathos, aber wegen dem Wunsch, der Hoffnung, die darin enthalten sind. Die Hoffnung, dass die Entwicklung des Menschen doch einen guten Weg einschlagen kann, der wegführt von den vielen zersetzenden Elementen in unserer Natur, und es uns ermöglichen wird, die bestmöglichen Gesellschaften einzurichten, auf diesem einzigen Planeten, auf dem wir derzeit leben können.

Natürlich ist dieser Spruch auch problematisch und das nicht nur, weil er das biblisch-abstrakte Schema von Gut und Böse mit sich führt. Er kann nämlich auch als eine Anstiftung zum unveräußerlichen Konflikt verstanden werden, der nur dadurch enden kann, dass eine der beiden Seiten endgültig obsiegt. Dass das nicht nur global, sondern auch zwischenmenschlich ein Holzweg ist, hat die Historie gezeigt, die persönliche wie auch die globale. Wenn das Gute triumphiert, ist es längst nicht mehr das Gute. Dialektik steckt überall drin – wenn man eine Hälfte wegschneidet, spaltet sich die übriggebliebene.

Auch bei den Kategorien Links und Rechts hat sich das gezeigt: den Triumph linker Politik und linker Gesellschaftsmodelle schien in der Zeit zwischen 2. Weltkrieg und Jahrtausendwende nicht aufzuhalten. Freie Liebe, freie Gesellschaften, freie Meinung, freies Denken, Selbstbestimmung Sozialpolitik, etc. Die Linke, so schien es, hatte „gesiegt“. Und ignorierte in Folge alles, was nicht in ihr Weltbild passte. Leider gab es aber viele Leute, die diese Dinge weiterhin glaubten, welche die Linke ausführlichst ignorierte. Zu viele. Und dass die Linke mit ihren Meinungen ein Problem hatte, hörte mit der Zeit auf, ihr Problem zu sein.

„Wenn ich jemandem nicht helfen will, kann ich sagen: das ist dein Problem. Und genau das könnte mir auch derjenige antworten, dem ich mitteile, ich hätte ein Problem mit ihm. Er könnte nämlich zurecht feststellen, dass dieser Satz mehr über mich sagt als über ihn. Wenn du ein Problem mit mir hast, könnte er entgegnen, dann ist das dein Problem. Ich bin, wie ich bin. […] Dies ist nämlich kein Buch über Rechte und auch kein Buch gegen Rechte. Zumindest nicht nur. Was immer wir an ihnen kritisieren mögen, allein dadurch, dass wir die Rechten als Teil eines gemeinsamen Problems auffassen, nehmen wir eine andere Perspektive ein als all jene, die meinen, es sei damit getan, sie identifizieren, zu beobachten, zu beschreiben und dann Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung zu ergreifen.“

Womit wir endlich in diesem Buch angekommen sind, das sich ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt hat: Rechte und Linke an einen Tisch zu bringen. Nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten – und mit dem Verweis darauf, dass sie ohne einander nicht auskommen. Denn ob sie wollen oder nicht: sie leben in einer Gesellschaft, die nicht einer allein bestimmen wird; auch eine links ausgerichtete autoritäre Regierung wäre immer noch autoritär. Solange beide den anderen besiegen/zerstörten oder seine Meinungen verbieten/unter Strafe stellen wollen, ist diese Auseinandersetzung kein Gewinn für die Gesellschaft, sondern ein Scheingefecht, in dem nichts entschieden, dafür aber alles aufgefahren wird – was letztendlich den Blick auf die wichtigen Themen, die es anzugehen gilt, eher verstellt und wodurch die Auseinandersetzung zu einem Spiel wird, das nicht nur unproduktiv, sondern auch verdammt lästig ist, weil beide Seiten Regeln aufstellen, die der andere nicht befolgen will, was beide Seiten nur frustriert – oder im Fall der Neuen Rechten: freut.
Denn dann können sie sich als Opfer unfairer Mitspieler präsentieren, die sich nicht mal mit ihnen auf offensichtliche Regeln einigen können und unrealistische Parameter vorschlagen. Und so müssen sie nicht über ihre Inhalte reden, sondern reden über das Wie oder Wann oder Wo oder Warum oder Wer.

„Nein, allein über die Inhalte kriegt man die Rechten nicht. Entweder man verharmlost sie als Sekte schrulliger Modernitätsverweigerer, oder man dämonisiert sie als Untote aus dunkler Vergangenheit. Beides verfehlt den Kern der Rechten. Aber beides gefällt ihnen. Sie spielen nämlich ein Spiel mit uns. […] Nun heißt unser Buch aus guten Gründen nicht: wie man mit Rechten redet. Denn das würde ja voraussetzen, eine »man« und eine »Rechte« genannte Gruppe ließen sich ebenso deutlich voneinander unterscheiden wie Untergebene und Chefs […] Wir begreifen, so viel sei verraten, als »rechts« keine eingrenzbare Menge von Überzeugungen oder Personen, sondern eine bestimmte Art des Redens. […] Wir wollen eingreifen, aber nicht in bestehenden Debatten, sondern in eine Republik, die dabei ist, in den Arenen des Spektakels und den Stuben Verwaltung eines ihrer kostbarsten Güter zu verspielen: die Lust am offenen Streit.“

Gerade dieser letzte Satz ist immanent wichtig. Die Debatten werden geführt und sollen geführt werden. Aber die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft mit diesen Debatten umgehen, ist oft, gelinde gesagt, furchtbar. Auf beiden Seiten. Ich selbst erlebe es jeden Tag auf Facebook. Einen Tag Facebook-Kommentare lesen und schon glaubt man nicht mehr, dass die Menschheit wirklich mit der Fähigkeit zur Reflexion, zum wertfreien Denken, zur Dialektik oder mit Vernunft ausgestattet ist. Oder muss feststellen, dass diese Fähigkeiten anscheinend von dem Wunsch, sich zu profilieren, schnell übervorteilt werden können. Das ist zugegebenermaßen eine heftige Wertung, die nicht umhinkommt, so auszusehen, als würde sie von einem hohen Ross gesprochen werden. Mir ist klar, dass sie etwas zu allgemein formuliert ist und stelle hiermit klar, dass diese Polemik auf Probleme hinweist und sie nicht detailiert schildert. Dieser Text soll ein Anstoß sein. Ein Anstoß über einige Punkte nachzudenken – ein Anstoß, das Buch zu lesen.

„Die Frage, wer die Rechten für uns sind, ist nämlich nicht zu beantworten ohne die Frage, was die Rechten aus uns machen.“

Wer sind die Rechten denn für mich? Sind sie die, deren Meinung ich nicht teile? Deren MeinungEN ich nicht teile? Deren Meinungen ich auf einem bestimmten Gebiet nicht teile? Die ihre andersgeartete Meinung sagen (statt sie zu denken und dementsprechend zu wählen, zu handeln, zu glauben)? Die sich asozial verhalten? Die sich inhuman verhalten? Die nicht progressiv sind, sondern konservativ? Die nicht liberal sind, sondern elitär? Die nicht idealistisch sind, sondern materialistisch? Die nicht vegan sind, sondern überzeugte Benzinfahrer und Fleischesser und auch gerne Klamotten einkaufen?

Ich weiß, wer die Rechten in jedem Fall nicht sind: der Feind. Es sind Menschen wie ich einer bin. Ich bin dafür, dass ihnen geholfen wird, wenn sie Not leiden und dass sie verhaftet werden, wenn sie ein Verbrechen begangen haben. Ich bin dafür, dass sie ihre Steuern zahlen und dass sie das Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben (ganz abgesehen davon, dass Konzepte wie Straffvollzug, Steuern, Not und freie Meinungsäußerung natürlich individuell diskutiert werden können und ich an dieser Stelle auch nicht mit einer abschließenden Definition dieser Konzepte dienen kann).

Worum es mir und auch den Autoren des Buches geht, wenn ich/sie dermaßen polemisieren: Um ein Auflösen des ewigen: gegen-gegen-gegen! Zugunsten eines: wie können wir denn wirklich an einer besseren Welt arbeiten? Ist es dazu hilfreich, einfach nur die Rechte zu bekämpfen? Tritt das Gute allein dadurch ein, dass man das Böse bezwingt, verbietet, brandmarkt? Offensichtlich nicht, ganz im Gegenteil.

„Wer die Moral im Schilde führt, so die Rechten mit Nietzsche, will herrschen. Und wer die Menschheit sagt, so die Rechte mit Carl Schmitt, will betrügen.“

Wer davon spricht, dass das Rechte wieder „salonfähig“ geworden ist, der sollte sich das nächste Mal, wenn er andere Leute ob ihrer Sprachwahl kritisiert, auf die Zunge beißen. Salons sind nicht gerade gesellschafsnahe Orte – sondern bestimmten Gesellschaften vorbehaltene Orte. Es sind genau die Orte, in denen sich große Teile der intellektuellen Linken in den letzten Jahrzehnten eingerichtet haben. Nun sind sie fassungslos, dass die Rechten eintreten: was machen die denn in unserem schönen Salon. Das ist unser Salon, unserer! Hier können wir uns in Ruhe dort kratzen, wo es andere juckt!

„Als ob die Demokratie ein Salon wäre! Als ob Sätze allein dadurch gälten, dass irgendjemand sie äußert! Als ob da Sagbare eine Erlaubnis bräuchte. […] Wenn die Rechten und die Moralisten nur diese wenigen Unterschiede kapieren würden, den Unterschied zwischen Faktizität und Geltung, den Unterschied zwischen dem Stoff und dem Werk und den Unterschied zwischen dem Hass und dem Schönheit, dann hätten wir kein Problem mehr. Dann könnten wir streiten, in dem die einen die Existenz der Ungleichheit gegen die nivellierende Tendenz der Moral verteidigen, und die anderen das Recht auf Gleichheit gegen die Anmaßung der Stärke. Denn Menschen sind einander ja nie nur gleich oder ungleich. Sie sind immer beides.“

Seien wir ehrlich: Es gibt Unterschiede. Zwischen allen Menschen. Nur sollten diese Unterschiede, die ja alles in allem etwas Wunderbares sind (es wäre ja schlimm, würden alle dieselben Texte schreiben, dieselben Kaffeetassen designen, sich dieselben Witze ausdenken, etc.), eben keine Rolle spielen, wenn es um die Eignung und die Privilegien von Menschen geht, in jeder Hinsicht.

Es ist diese Form der Einteilung, die die Unterschiede erst problematisch macht – sie sind es nicht aus sich heraus. Sie zu leugnen ist daher problematisch; die Einteilung muss geleugnet werden, die Unterschiede zu leugnen kann schwer nach hinten losgehen. Die Grenzen verschwimmen, die Dinge werden hohl. Identität, diese komplexe Idee, wird von den Rechten stark vereinfacht. Sie wird aber auch von den Linken vereinfacht, wenn die behaupten, dass sie völlig willkürlich ist. Sie ist sehr ambivalent, vielschichtig und sollte letztlich abseits des Persönlichen auch keine Rolle spielen. Aber sie ist nicht willkürlich und gegenstandslos (was auch nicht alle Linken behaupten, aber ich habe es schon linkausgerichtete Person behaupten hören).

Die Linke. Leo, Steinbeis und Zorn richten einen deutlichen Appell an sie:

„Aus einer Bewegung zur Emanzipation der Arbeiterklasse war eine Partei von Anti-Faschisten, Anti-Imperialisten und Anti-Kapitalisten geworden. Und genau das machte sie ideologisch verwundbar. Denn der geistige Preis für den Sieg war hoch. Um sich in der Welt zu behaupten, hatte die Linke ihre beiden größten Schätze, die Dialektik und den Humanismus, geopfert. […] Die Linke dachte im Freund-Feind-Schema. Wie die Rechte. […] Ein kaum erträglicher Zustand, aus dem nur Selbsterkenntnis, eine Rückkehr zu Marx, und Erneuerung, herausgeführt hätte. Aber die Linke entschied sich für den Selbstbetrug. Statt das Denkschema eines nicht besonders denkstarken Feindes zu kritisieren, fügte sie sich ihm. Und schminkte es mit Moral. Freunde und Feinde verwischte sie zu Opfern und Tätern, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Geschlechter unterschied sie nach unterdrückten Schwachen und abzuwehrenden Starken.“

Natürlich blieb die Linke eine Bewegung der Emanzipation. Und diese Emanzipation ist eine mehr als großartige Errungenschaft, sie weist Wege zu einem Miteinander, das dem menschlichen Bedürfnis nach Entfaltung und nach Harmonie gleichermaßen entspricht. Und viele „Rechte“ verstehen seltsamerweise nicht, dass „Sicherheit“ eben gerade aus der Selbstbestimmung abseits der Norm entstehen kann und nicht an Traditionen oder etwas Übergreifendes geknüpft sein muss.

Dennoch: die Linke ist mit ihrer moralisierenden (nicht moralistischen) Tendenz teilweise ins Abseits geraten, in die eigenen Echoräume. Dort werden Debatten geführt, die auf den ersten Blick entscheidend, auf den zweiten Blick künstlich wirken; wie ein Meinungsboard, an dem sich alle einmal austoben und Ferien vom Über-Ich nehmen können. Nicht immer, nicht zwangsläufig. Aber stetig. Manchmal werden dabei die menschlichen Faktoren gut in den Mittelpunkt gerückt – und manchmal im theoretischen Höhenflug außer Acht gelassen, über Bord geworfen. Was bedauerlich ist, denn das kreative, intellektuelle und dialektische Potential, das sich dabei zeigt, ist eigentlich grandios. Nur bewegt es sich oft im Kreis. Oder wird einfach per Katapult zu den Rechten rübergeschossen.

„Die Rechte ist Wille zur Macht ohne Kraft zur Gestalt. […] Die Ziele der Linken waren immer schon richtig, so wie ihr Hang zur Selbstgerechtigkeit schon immer fatal war. […] Und darum macht es uns fassungslos, dass sie ihr einst so überlegendes Denken durch moralischen Eifer ersetzt hat – von dem wir uns haben einlullen lassen. Wir haben eine rote Schleife um das Weiße Haus gebunden und es Donald Trump geschenkt.“

Wir müssen wieder ins Gespräch, wir Menschen von rechts und links und dazwischen. Denn nur am Tisch, im Gespräch, sind die Argumente der linken Seite besser, stärker – im Kampf auf offener Straße, emotionsgeladen, schmierig, in den Medien, mit Gewalt und Fake, können die Linken keinen Blumentopf gewinnen. Gott sei Dank! Es wäre bedenklich, wenn es nicht so wäre. Vor allem zeigen sich die Rechten am Tisch, im Gespräch, dann oft als das, was sie wirklich sind: quängelnde Phrasendrescher, kleine Kinder, die zürnen und heulen, die prahlen und Luftschlösser bauen, die Fakten verdrehen. Die nicht mehr der Erfahrung klarkommen, in einer Welt zu leben, in der nicht alles nach ihren Vorstellungen eingerichtet ist (im Gegensatz zu den Linken, die das fast schon überproportional verinnerlicht haben).

„Die Erfahrung, dass man selbst, so wie man ist, und die Welt, so wie sie ist, nicht zusammenpassen wie Mutter und Schraube, kennt auf die eine oder andere Weise doch jeder.“

Ich weiß nicht wie und ob es möglich ist. Aber es wäre wichtig, wieder Kommunikationskanäle einzurichten und die Politik, die Gesellschaft wieder daran zu orientieren, was sich in klaren Debatten als die bessere Lösung erweist. Es wird oft die linke Lösung sein. Aber solange man den Dialog mit Rechten meidet, wird die rechte Lösung öfter gewählt, weil sie lauter und (in Ermangelung der Reflexion) selbstbewusster schreit und zu den komplexesten Problemen die einfachsten Lösungen präsentiert und sich auch als exquisite Alternative verkaufen kann.

Also, im Sinne dieses Buch, das eine kritische Lektüre lohnt und viel Stoff zum Nachdenken gibt (noch mehr als ich hier auffächern, ansprechen kann): mit Rechten reden. Nicht ihnen eine Bühne bieten, nicht ihnen auf den Leim gehen – das würde voraussetzen, dass man die Diskussionen verliert oder zu schnell zu einem Ende führen will, weil man eh glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben. Wie die Geschichte gezeigt hat, kann sich der Mensch längerfristig vernünftigen und logischen Argumenten nicht widersetzen. Darauf ist wieder zu bauen, zu hoffen.

„Wir machen euch ein Angebot: Wir hören auf euch mit Moral zu traktieren. Ihr wollt die Syrer hier nicht haben? Gut, das können wir euch nicht verbieten. Ihr habt das Recht, diese Position einzunehmen. Aber lasst uns eure Argumente hören, eure Wertungen, eure Kosten-Nutzen-Rechnungen, eure Gefahrenprognosen, eure Lesart des Rechts. Versucht uns zu überzeugen, dass die Bundesregierung das Recht eklatant gebrochen hat. Wir sehen das nämlich anders.“

Zu Rebecca Solnits “Wenn Männer mir die Welt erklären”.


Wenn Männer mir die Welt erklären „das Syndrom, von dem ich spreche, ist ein Krieg, dem sich fast jede Frau Tag für Tag ausgesetzt sieht, ein Krieg, der auch in ihrem Innern stattfindet, die Überzeugung, überflüssig zu sein, die Verlockung zu schweigen, und selbst eine Karriere als Schriftstellerin (die ausgiebig recherchiert und korrekte Fakten liefert) hat mich von all dem nicht gänzlich befreien können.“

Es beginnt mit einer Geschichte, die mittlerweile vermutlich hinlänglich bekannt ist, zumal sie auch anekdotischen Charakter hat: auf einer relativ unspektakulären Dinner-Party fragt ein älterer Herr Rebecca Solnit nach ihren Büchern. Sie will gerade anfangen von ihrem neusten Buch über Eadweard Muybridge zu erzählen, da fällt er ihr auch schon, kaum dass sie den Namen erwähnt, ins Wort und beginnt, selbst von einem Buch über Muybridge zu erzählen, das im selben Jahr erschienen ist.

Schnell wird Rebecca Solnit klar, dass es ihr Buch ist – eine Möglichkeit, die dem Gastgeber nicht in den Sinn zu kommen scheint und auch Hinweise bringen ihn zunächst nicht aus dem Konzept, er doziert frohgemut weiter. Als die Information dann doch zu ihm durchdringt, kommt heraus: er hat das Buch gar nicht gelesen, sondern nur eine Besprechung im New York Review.
Eine hübsche Gegebenheit mit einer guten Pointe, wäre da nicht der symptomatische Kern – ein Kern, der sogar noch ein bisschen über das hinausgeht, was in den letzten Jahren, anhand von Begriffen wie „mansplaining“, kritisch verhandelt wurde.

„Falls ich es in meinem Essay nicht klar genug zum Ausdruck gebracht habe: Ich finde es wunderbar, wenn mir jemand etwas erklärt, was mich interessiert und womit er oder sie sich auskennt, ich mich hingegen nicht; die Unterhaltung gerät erst dann in eine Schieflage, wenn man mir etwas erklärt, womit ich mich auskenne, der oder die Erklärende jedoch nicht.“
(Aus dem Nachsatz, vier Jahre nach dem Essay entstanden)

Mansplaining klingt nämlich zunächst einmal nervig, unnötig, arrogant, ignorant und paternalistisch, aber nicht unbedingt schwerwiegend. Das Problem reicht aber noch tiefer, wie Solnit im Verlauf des Essays und im Verlauf des ganzen Buches, in verschiedenen Texten, ausführt; es ist im Prinzip dasselbe Problem, das Ingeborg Bachmann in der Erzählung „Simultan“, Karen Blixen in ihren Briefen oder Virigina Woolf in ihrem Essay „A room of one‘s one“ beschreiben: die Schwierigkeit, als Frau ernstgenommen, und, noch grundsätzlicher, als selbstbestimmt wahrgenommen zu werden.

„es muss auf diesem Planeten mit seinen sieben Milliarden Bewohnern Milliarden von Frauen geben, denen immer wieder erzählt wird, dass sie keine verlässlichen Zeuginnen ihres eigenen Lebens seien, dass ihnen die Wahrheit nicht gehöre, weder jetzt noch jemals sonst.“

Die Anekdote verdeutlicht also nicht nur das Problem des bevormundenden Mannes, es verdeutlicht einen Teil, wenn nicht sogar die ganze Struktur des Patriachats. Und das besteht nicht nur aus erklärungswütigen Männern. Es besteht aus Männern, die meinen, sie könnten entscheiden, was Frauen mit ihrem Körper tun sollten und was nicht; es besteht aus Männern, die meinen, sie hätten das Recht, an Frauen sexuelle Handlungen zu vollziehen oder mit ihnen in eine sexuelle Beziehung zu treten, ohne vorher ihr Einverständnis eingeholt zu haben; es besteht aus Männern, die Frauen zum Schweigen bringen, wenn sie gegen sie aufbegehren, mit Mitteln wie Verleumdung, Banalisierung, Hysterie-Vorwürfen etc., aber auch mit Mitteln der Gewalt bis hin zu Demütigung und Mord.

„gibt es ein weitverbreitetes, tiefgreifendes, schreckliches Muster der Gewalt gegen Frauen, das permanent übersehen wird. Hin und wieder erfahren Fälle, an denen prominente Persönlichkeiten beteiligt sind, oder die schauerlichen Einzelheiten eines Geschehens ein großes Medienecho, doch diese Fälle werden als Anomalien behandelt, während die Flut beiläufiger Pressemeldungen über Gewalt gegen Frauen hier bei uns wie in jedem anderen Land der Erde […] eine Art Hintergrundtapete für die Nachrichten darstellt.“

Und darum geht es in diesem Buch. Es wäre schade, würde man dieses Buch mit einem Nicken und dem Gedanken abtun: ja, kenne die Anekdote, kenne das Problem. Denn Solnit fächert hier in mehreren Essays eine ganze Palette von Problemen auf, die mit patriarchalen Strukturen und dem Rollenbild der Frau in unseren Gesellschaften zu tun haben.

Der zweite Text beispielsweise beschäftigt sich mit dem Themenkomplex Gewalt und Männlichkeit.

„Gewalt hat keine Rasse und keine Klasse, keine Religion und keine Nationalität, aber sie hat ein Geschlecht.
An dieser Stelle möchte ich eines betonen: Auch wenn so gut wie alle diese Verbrechen von Männern begangen werden, bedeutet das nicht, dass alle Männer gewalttätig wären. Die meisten sind es nicht. Zudem erfahren offenkundig auch Männer Gewalt, zum großen Teil durch andere Männer, und jeder gewaltsame Tod, jeder Angriff ist schrecklich.“

Natürlich ist es den meisten Menschen irgendwie klar. Man muss ja nur in die Geschichtsbücher schauen: die meisten Kriege wurden von männlichen Anführern mithilfe der männlichen Bevölkerung ausgefochten (wobei natürlich nicht nur die männlichen Bevölkerungsmitglieder unter Kriegen zu leiden hatten!). Die meisten Mörder, die die Geschichtsbücher nennen, sind Männer.
Aber auch ein Blick in die Zeitung von heute reicht aus: die Anzahl der Verbrechen gegen Frauen ist gewaltig. Nur wird jedes Verbrechen als Einzelfall behandelt und mit allem möglichen in Verbindung gebracht, nur nicht mit dem generellen Problem, dass es auch in unseren Gesellschaften nicht selten vorkommt, dass ein Geschlecht dem anderen in vielen Situationen ausgeliefert ist – und das nicht, weil Frauen hilflose Wesen sind, sondern weil Männer öfter gewalttätig sind und ihre Gewaltbereitschaft sie zu einer ständigen Gefahr macht.

Auch Frauen begehen Verbrechen. Auch Frauen üben Gewalt in Beziehungen aus – aber das endet erstens selten tödlich und zweitens sind diese Taten in einem hohen Prozentsatz der Fälle Akte der Notwehr oder der Angst oder der Verzweiflung.

„Die Verfügbarkeit von Waffen ist in den Vereinigten Staaten offenkundig ein Problem. Dennoch werden neunzig Prozent der Morde an Männer begangen, obwohl Waffen für alle verfügbar sind. […] Alle neun Sekunden wird in unserem Land eine Frau geschlagen. […] Die Haupttodesursache von schwangeren Frauen sind in den USA die Ehemänner. […] Unter den amerikanischen Ureinwohnerinnen wird jede dritte Frau vergewaltigt, wobei achtundachtzig Prozent der Täter in den Reservaten nicht-indianischer Herkunft sind […] Nach Informationen des Theaterprojekts Ferite a morte der Schauspielerin Serena Dandini und ihrer Kolleginnen werden weltweit jedes Jahr rund sechsundsechzigtausend Frauen von Männern unter bestimmten Umständen getötet, für die die Gruppe den Begriff femminicidio, Feminizid, geprägt hat. Meist werden diese Frauen von Liebhabern, Ehemännern, ehemaligen Partnern umgebracht, die damit die extremste Form von Beherrschung ausüben, die endgültige Form der Auslöschens, des Zum-Schweigen-Bringens, des Verschwindenlassens. […] Die üblichen Ratschläge [für die Verhinderung von Vergewaltigungen beispielsweise] bürden die gesamte Last der Prävention den potenziellen Opfern auf, während sie die Gewalt als gegeben voraussetzen.“

Nicht nur die Gewalt, was schlimm genug ist, sondern auch die damit verbundene Idee von Männlichkeit wird als gegeben hingenommen. Unterbewusst scheint unser System andauernd zu verkünden: Männer sind halt so, Frauen sind halt so. Die Phrase schwingt mit: wenn der Präsident im Fernsehen eine selbstgefällige Rede hält; wenn sich ein Freund aus Frustration in eine misogyne Bemerkung versteigt; wenn der eigene Vater beim Weihnachtsessen eine witzig gemeinte sexistische Bemerkung macht und die eigene Mutter nur müde lächelt; oder wenn man mal wieder auf fadenscheinige Art ein sexueller Übergriff kleingeredet wird.

„Wenn wir über Verbrechen wie diese reden würden und darüber, warum sie so häufig geschehen, müssten wir auch darüber reden, welche tiefgreifenden Veränderungen unsere Gesellschaft, dieses Land und so gut wie alle anderen Länder brauchen. Täten wir es, müssten wir über Männlichkeit oder männliche Rollenbilder reden und vielleicht auch über das Patriachat, und darüber reden wir nicht gerade oft.“

Das Problem ist: wenn sich dieses Denken nicht ändert, sehe ich nicht nur ein Problem für unsere Gesellschaften, sondern überhaupt für unsere Welt. Denn sehen wir uns doch mal um: wenn es stimmt, dass diese Welt lange Zeit eine „man’s world“ war, dann (bei allen großartigen Erfindungen und Errungenschaften, Erfolgen und Ideen, die auch nicht ohne die unsichtbare Mitarbeit, Hilfe und Unterstützung des weiblichen Teils der Bevölkerung möglich gewesen wären) sollte sie es in Zukunft nicht mehr sein, denn dann hat sie keine Zukunft. Vielleicht bin ich da pessimistisch, sogar hysterisch, aber ich glaube, dass es schon einen (wenn auch nicht alleinigen) Zusammenhang gibt zwischen überholten Männlichkeitsbildern und den Kriegen und sonstigen Konflikten, mit denen die Welt von jeher überzogen wird. Und da hilft es nicht zu sagen: Männer sind halt so. Es existiert in unseren Gesellschaften die Idee eines Menschen, der sich aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten zu seinen eigenen tierischen Instinkten und auch zu seinen eigenen bisherigen geistigen Erzeugnissen und Wahrheiten verhalten und sie reflektieren kann. Ohne diese Idee keine Zivilisation. Und diese Idee sollte nicht vor veralteten Geschlechterrollen halt machen.

Als ich mich anhand dieses Buches (und anderer Bücher) und natürlich auch in Gesprächen mit Freund*innen mit der Problematik des Patriachats auseinanderzusetzen begann, war ich anfangs oft erschüttert, verunsichert, wie ich mich nun positionieren sollte; diese Verunsicherung hat sich bisher nicht geklärt und mittlerweile glaube ich, dass diese Verunsicherung eine Form von Achtsamkeit/Aufmerksamkeit/Bewusstsein ist, die ich nicht überwinden, sondern erstmal beibehalten sollte.
Natürlich werde ich die ganze Wucht der Problematik nie nachvollziehen können, denn mir fehlt das Gefühl unmittelbar betroffen zu sein; ich habe nie die Konsequenz erfahren, mit der eine so geartete Wirklichkeit mein Handeln bedingt, bedrängt und einschränkt; ich kann nicht wissen, was das mit einem macht, körperlich, psychisch. Ich kann es nur erahnen, aber diese Ahnung reicht mir, um zu wissen, dass etwas grundlegend falsch läuft.

„Oder wie eine gewisse Jenny Chiu twitterte: »Klar, #NichtAlleMänner sind Vergewaltiger und Frauenfeinde. Aber darum geht es nicht. Der springende Punkt ist: #JaAlleFrauen leben in der Angst vor denjenigen, die es sind.«“

Ich muss zugeben, seitdem ich Rebecca Solnits Buch gelesen habe, habe auch ich Angst. Nicht vor anderen Menschen, aber vor mir selbst. Ich denke nicht, dass ich dazu in der Lage wäre jemandem Gewalt anzutun, jemanden sexuell zu nötigen. Ich will es nicht und ich bin außerdem überzeugt davon (auch wenn das abgeschmackt pathetisch klingt), dass ich damit einen unermesslichen Schaden in meiner eigenen Seele anrichten würde. Aber ich habe Angst davor, jemandem Angst zu machen.

Ich lief einmal mit einem Freund spätnachts durch die Wien. An einer Ampel fragte er eine junge Frau, die uns allein entgegenkam, nach einer Zigarette und Feuer. Wir gingen weiter und nach einer Weile sagte er (in etwa): „Dieser Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht, als sie merkte, dass ich nur nach einer Zigarette fragen wollte.“ Auch ich hatte den Ausdruck gesehen. Erst den kurzen Schreck, als er sie ansprach, und dann die Veränderung in ihrem Gesicht, das erleichterte Lächeln, als er etwas ungelenk und entschuldigend seine Bitte vorbrachte: Er wisse, Schnorren sei irgendwie uncool, aber wir hätten noch einen langen Heimweg, etc.

Ich kenne meinen Freund und weiß, er ist nett und keineswegs gefährlich. Aber allein die Tatsache, dass er ein Mann ist und sie nachts auf offener Straße anspricht, während nur ein anderer Mann anwesend ist, bringt diese Frau kurz aus dem Gleichgewicht. Nicht, weil wir über die Maßen bedrohlich wirkten und vermutlich auch nicht, weil sie eine schreckhafte Person ist. Sondern weil wir in einer Welt leben, in der Frauen ständig Angst vor sexuellen Übergriffen und Gewalt haben müssen – sie wachsen in dieser Gewissheit auf, sie erleben es immer wieder, die permanente Möglichkeit wird ihnen eingetrichtert.

„Die Vorstellung, Frauen schuldeten Männern Sex, existiert praktisch überall. Genau wie mir damals, wird vielen Frauen schon im Mädchenalter eingeredet, dass wir mit Dingen, die wir getan, gesagt oder getragen hätten, oder einfach nur durch unser Aussehen beziehungsweise durch die Tatsache, dass wir Frauen sind, Begierden ausgelöst hätten, daher seien wir vertraglich verpflichtet, diese zu befriedigen. Wir seien es ihnen schuldig. Sie hätten ein Recht darauf. Auf uns.“

Ich glaube nicht, dass irgendein vernünftiger, emotional ausgeglichener Mensch laut sagen würde, dass sexuelle Gewalt eine prima Sache sei, die in unseren modernen Gesellschaften noch einen Platz haben sollte (dieser Glaube ist zugegebenermaßen schon oft erschüttert worden, wenn mir Freund*innen von ihren Erlebnissen berichtet haben oder auch durch dieses Buch von Solnit; im Moment halte ich noch an diesem Glauben, an dieser Hoffnung fest, zumindest, was unsere Generation betrifft.).

Dass sexuelle Gewalt schon bei einfachsten Übergriffen, physischer und psychischer Natur, beginnt, ist leider ein Aspekt, der noch nicht bei allen Leuten, die diese Aussage treffen würden, angekommen ist. Und selbst wenn doch: es ist leider immer noch gang und gäbe, dass zu wenig getan wird, um den Mechanismen und Rollenbildern, die dieses Verhalten bestärken, entgegenzuwirken. Wenn wir eine Gesellschaft ohne diese Form der Gewalt, der Unterdrückung haben wollen, müssen wir dieser Gewalt jeden Zentimeter Boden nehmen, den wir ihr nehmen können! Denn, wie Solnit scheibt, es ist klar,

„dass Gewalt in erster Linie autoritär ist. Ihre Ausgangsprämisse lautet: Ich habe das Recht, über dich zu bestimmen. […] Jeder sexuelle Übergriff ist ein Akt der Gewalt – die Weigerung, jemanden als Menschen zu behandeln, die Verletzung eines der grundlegendsten Menschenrechte, nämlich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.“

Auch mit dem Themenkomplex Männlichkeit/sexuelle Gewalt ist die Bandbreite dieser Essaysammlung noch nicht ausgereizt. Es gibt z.B. noch Kapitel über das Kassandra-Syndrom (das systematische Untergraben weiblicher Glaubwürdigkeit) und auch einen sehr gelungenen Text über das Denken und Schreiben von Virginia Woolf. Darin zitiert sie unter anderem aus Woolfs Essay „Die Berufe der Frauen“, in welchem Woolf sinnbildlich den „Engel im Haus“ (und mit ihm die Vorstellung, die jahrhundertelange mit der Rolle der Frau verbunden war) umbringt und schreibt:

„Mit anderen Worten, nun, da sie sich von der Verlogenheit befreit hatte, brauchte sie nur noch sie selbst zu sein. Ah, aber was ist »sie selbst«? Ich meine, was ist eine Frau? Ich versichere ihnen, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass Sie es wissen.“

Die meisten Männer begreifen glaube ich immer noch nicht, dass ihre Geschlechtsgenossen diese Frage nach der weiblichen Identität, dem weiblichen Selbst und dessen Entfaltung, über Jahrhunderte, bis nah an unsere Gegenwart heran, bestimmt, unterdrückt, übervorteilt, verdrängt, enggezogen, kleingeredet etc. haben. Geradezu systematisch.

Man kann die Augen davor wirklich nicht mehr verschließen, unsere eigenen (vor allem männlich geprägten) Geschichtsbücher erzählen davon, wie auch unsere literarischen Kanons, in jeder Faser. In „a room of one’s own“ schreibt Virginia Woolf über all die Professoren, die ich im viktorianischen England zum Wesen der Frau geäußert haben, in zig Publikationen – eine Obsession, die furchtbare Stilblüten und noch furchtbarere Vorstellungen und Klischees des Weiblichen zur Folge hatten. Es sind Werke, die Frauen nahezu alles absprachen (und teilweise immer noch absprechen, es gibt diese Bücher ja immer noch): Integrität, Verstand, Talent, Eignung, Objektivität, Vorstellungskraft und, ja, sogar schlicht Bewusstsein in Bezug auf das eigene Wesen.

„Ich habe eine Freundin, deren Familienstammbaum über tausend Jahre zurückreicht, doch er umfasst keine Frauen. Sie musste feststellen, dass sie, im Gegensatz zu ihren Brüdern, nicht existiert. Auch ihre Mutter existiert nicht, genauso wenig wie die Mutter ihres Vaters. Oder auch der Vater ihrer Mutter.“

Rebecca Solnit erzählt in diesen Essays, geschrieben im Zeitraum zwischen 2008 und 2014, alles in allem nicht viel Neues – aber nicht davon ist alt, weil nichts davon vorbei ist, nichts davon erledigt. Und allein die schiere Ansammlung an Problematiken rund um die Themen Patriachat und Geschlechterrollen, systematische Unterdrückung und Benachteiligung, etc. ist schon bemerkenswert. Keiner der Texte ist ein großer theoretischer Wurf, aber sie sind alle ungeheuer bewusstseinsbildend – und genau das braucht es meiner Ansicht nach: dass ein Bewusstsein in die Gesellschaft getragen wird, geschmissen meinetwegen. Ein Bewusstsein bzgl. der Dimensionen, der Ausmaße, der Mechanismen, der schieren Tatsachen. Ein Bewusstsein dahingehend, dass wir es hier mit einem grundsätzlichen und richtungsweisenden Problem zu tun haben, genauso wichtige wie jene, die den Postkolonialismus oder dem Klimawandel betreffen.

Also, bitte, auch wenn es zunächst so klingt, als könnte man dieses Buch auch subsummieren und müsste es nicht lesen: lest es! Leiht es euch aus. Redet mit jemandem, der es gelesen hat. Lest zumindest einen der anderen Essays. Kritisiert sie, überholt sie! Führt die Diskussionen, die sich aus diesen Texten ergeben. Es wäre so, so, so wichtig.

„Wie soll ich diese Geschichte erzählen, die wir schon allzu gut kennen? Ihr Name war Afrika. Sein Name war Frankreich. Er kolonisierte sie, beutete sie aus, brachte sie zum Schweigen, und noch Jahrzehnte nachdem das angeblich vorbei war, griff er willkürlich in ihre Angelegenheiten ein, an Orten wie der Elfenbeinküste, die ihren Namen nicht ihrer Identität, sondern ihren Exportgütern zu verdanken hat.
Ihr Name war Asien. Seiner war Europa. Ihr Name war Schweigen. Seiner war Macht. Ihr Name war Armut. Seiner war Reichtum. Ihr Name war SIE, aber was gehörte ihr? Sein Name war ER, und er ging davon aus, dass alles ihm gehörte und er sie nehmen konnte, ohne zu fragen und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.“

 

Warum wir am Abgrund stehen – eine weitere Erwähnung zu Philipp Bloms Buch “Was auf dem Spiel steht”


Jeder sollte dieses Buch lesen! Mir ist bewusst, dass das ein sehr utopischer Satz ist, aber bei diesem Buch wird er nicht aufgrund von Begeisterung intoniert, sondern aus purer Verzweiflung. Hier steht geschrieben, knapp und doch prägnant, warum die westlichen Gesellschaften dabei sind, alles zu veräußern, was man ohne falschen Pathos als Errungenschaften der Menschheit bezeichnen kann: Toleranz, soziale Systeme, individuelle Freiheiten und nicht zuletzt unsere Lebensumgebung, unser Habitat, die Erde. Und das nur, um eine Machtbalance und ein marktwirtschaftliches System, einen Status Quo aufrechterhalten, der längst nicht mehr den realen Ressourcen unseres Planeten entspricht und der Nebenwirkungen und Folgen hat und haben wird, die so klar und unausweichlich vor uns stehen, dass es einem Akt der Psychose gleicht, sie noch zu leugnen.

Wir, die Bürger*innen der westlichen Gesellschaften, müssen anfangen uns unbequeme Fragen zu stellen und wir müssen die derzeitigen Ereignisse, die Finanz-, Flüchtlings- und Umweltkrisen, als eine einheitliche Entwicklung begreifen, die sich nicht auf ihre einzelnen Konfliktherde reduzieren lässt. Denn diese Konflikte sind ohne Ausnahme Symptome einer Krise des Systems, in dem wir seit Jahren leben, und das in nahezu jeder Faser ein System der Ausbeutung und der Zerstörung ist.

Das klingt hochgestochen und ich weiß selbst, aus eigener Erfahrung, wie leicht sich das alles derzeit noch ausblenden lässt; der Schein wird subtil gewahrt und wir werden durch Facetten vom Ganzen abgelenkt. Aber wir müssen anfangen uns zu fragen, wie wir leben wollen: für heute oder für morgen? An einem durch Werbung und andere Fassaden aufgezogenen Phantasma oder den realen Gegebenheiten orientiert? Sind die westlichen Gesellschaften bereit etwas abzugeben von dem Reichtum, den sie seit Generationen angehäuft haben? Sind wir bereit zu akzeptieren, dass die Taten der westlichen Kolonialmächte und der westlichen Konzerne in den Ländern Afrika und Südamerikas und Asiens eine derartig hohes Maß an Verbrechen begangen haben, dass wir ihre nur am Profit orientierten, hegemonialen Strukturen nicht mehr dulden können, ganz gleich wie bequem der Lebensstil ist, den sie ermöglichen? Oder entscheiden wir uns für das radikale Gegenteil, schotten uns ab – was eigentlich keine Option ist, denn unser Reichtum basiert auf der Ausbeutung der Regionen, von denen wir uns abschotten wollen.

Philipp Bloms Buch zeigt, wie nah wir am Abgrund stehen. Und es wird uns allesamt hinunterreißen; kein noch hoher Betrag auf dem Konto (imaginierte Werte zerbrechen stets an realen Gegebenheiten) und keine hohe Funktionärsstelle werden die Kollision abfedern, wenn unser System vor die Wand fährt.

Wir könnten eine Welt errichten, in der geteilt wird, was da ist. Sie wäre vielleicht nicht so reichhaltig wie unsere Supermarktregale uns jetzt weismachen wollen, nicht so globalisiert, nicht mit Produkt- und Konsumfülle gesegnet. Aber ist das nicht ein Preis, den wir bereit sein müssen zu zahlen, wenn dafür eine faire Behandlung aller möglich wird (wenn dergleichen auch nie ganz gelingen wird – es geht um die Schaffung von Möglichkeiten, das Beenden von offensichtlichen und strukturellen Diskrepanzen und nicht um Friede, Freude, Eierkuchen). Wer sich mit all dem auseinandersetzen will, der lese Philipp Bloms Buch „Was auf dem Spiel steht“. Eine längere, differenzierte Besprechung, die genau auf die einzelnen Abschnitte und Thesen eingeht, habe ich auch beim Onlinemagazin fixpoetry veröffentlicht.

Zu dem bemerkenswerten Buch “Der Sinn des Lesens”, das Vermächtnis des Autors Pieter Steinz


(© des Bildes by Marina Büttner)

„Antiklimaxe, das Leben ist voll davon. Die Weltliteratur übrigens auch, und die schönsten sind im Werk von Franz Kafka zu finden. Große und faszinierende Romane wie Das Schloss blieben ohne Schluss […] doch auch viele seiner vollendeten Erzählungen enden mit einer Antiklimax. In manchen Fällen erhöhen diese den absurden Gehalt, in anderen die philosophische Wirkung – man gerät ins Nachdenken.“

Das Leben hat in der Tat viele Antiklimaxe, den größten hebt es sich bis zum Schluss auf, trägt ihn aber schon immer mit sich: den Tod, der dann auch folgerichtig am Ende von Kafkas einzigem mit einem Ende versehenen Roman steht, in dem das Leben ein Prozess ist, den der Mensch nicht gewinnen kann (ein Verfallsprozess). Die meisten Menschen können dieser finalen Antiklimax lange aus dem Weg gehen, weil der genaue Zeitpunkt unbekannt ist und man sich so mit jedem Akt des Lebendigen fernab der Aussichtslosigkeit bewegt – es gilt hier jene paradoxe Weisheit Senecas: man ist so lange unsterblich bis man stirbt.

Doch was ist, wenn man, noch am Leben, ein recht genaues Todesurteil in Händen hält? Es gehört nicht zu den zweiundfünfzig Büchern, die der niederländische Schriftsteller, Gelehrte und Direktor der niederländischen Literaturstiftung Pieter Steinz für seine Kolumnenserie (aus der dieses Buch hervorgegangen ist) ausgewählt hat, doch Victor Hugos Die letzten Tage eines Verurteilten wäre sicherlich im späteren Verlauf seiner Krankheit ebenfalls eine Lektüre gewesen, mit der er sich ein Dialog entsponnen hätte – oder vielleicht gerade nicht, denn Steinz geht es eigentlich nie um die seelische Vorbereitung auf den Tod, sondern um das Gewahr werden und Auskosten der Aspekte des Lebens, um den Trost, um die Bewältigung, die weiterhin das Wichtigste ist – nach Rilke: „Wer spricht von Siegen/ Überstehn ist alles.“

„Das Buch, das so entstanden ist, gibt vielleicht keine definitive Antwort auf die Frage, ob Literatur in schwierigen Situationen Trost bieten kann, für mich hat sich auf jeden Fall erwiesen, dass zumindest das Schreiben über Literatur sehr tröstlich ist.“

2013 wird bei Pieter Steinz ALS diagnostiziert, eine unheilbare, degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems; der einzige prominente Überlebende von ALS ist Stephen Hawking, der allerdings an einer speziellen Form der Erkrankung leidet. Nicht ein einziges Mal im ganzen Buch beklagt Steinz dieses Schicksal (auch wenn natürlich Bedauern, Nostalgie und Schwermut manchmal eine Rolle spielen) und schon im ersten Text des Buches, über Platons Phaidon und den Tod des Sokrates durch den selbstzugeführten Schierlingstrank, positioniert er sich gleichsam fatalistisch und lebensbejahend: Fatalistisch, weil er nicht versuchen will, das Unvermeidliche zu leugnen und es stattdessen hinnimmt, lebensbejahend, weil er es nicht als Ende einer erfüllten Existenz ansieht, auch wenn er von nun an seine Tage in großen Teilen eingeschränkt verbringen muss und immer mehr Freuden unmöglich werden. Da in den Niederlanden die aktive Sterbehilfe erlaubt ist, hat Steinz sich früh entschlossen, in dem Moment, in dem es gar keine Möglichkeit mehr gibt, am Leben aktiv teilzunehmen, diese in Anspruch zu nehmen.

„ALS ist eine Krankheit, die die Phantasie beflügelt. Negativ natürlich und in verschiedenerlei Hinsicht. Seitdem die meisten Krebsarten nicht mehr automatisch das Todesurteil bedeuten und AIDS sich gut mit Medikamentencocktails bekämpfen lässt, haben tödlich Nervenkrankheiten die Rolle des ultimativen Angstgegners übernommen. […] Vor allem, dass die eigenen Gliedmaßen eine nach der anderen gelähmt werden, bis man nur noch die Augen bewegen kann, grenzt an puren Horror.“

Wie gegen den „puren Horror“ angehen? Steinz will, neben Aktivitäten mit der Familie und der Fortführung seiner gewohnten Arbeit (so lange wie möglich), noch einmal viele seiner Lieblingswerke und Lebensbücher lesen. Auch wenn sich diese Lektüreliste an seinen Vorlieben orientiert, haben die Bücher öfters einen Bezug zu seinem momentanen Krankheitsverlauf, seinen neusten Erfahrungen mit der Behandlung, den Einschränkungen. So ist das Kapitel über Kafka, das die Erzählung Der Hungerkünstler zum Thema hat, verknüpft mit seinem erzwungenen Hungern (da die Schluckmuskeln ebenfalls abgebaut werden), eine Ausführung zu Rabelais großem Roman Gargantua und Pantagruel beschäftigt sich ebenfalls mit der Üppigkeit und den Ausschweifungen der Genüsse, die nicht mehr möglich sind, in einem anderen Text wirft er Dickens spaßeshalber vor, dass er viele Berufsklassen durch Figuren portraitiert (und persifliert) hat, aber keine Ärzte.

Meist ist eine Figur aus den Texten oder ihre generelle Botschaft, denen sich Steinz verbunden fühlt und die er ins Zentrum stellt. Als er eine Zeit im Krankenhaus verbringt, in dem er zwar nicht sterben wird, aber wo letztlich Eingriffe und Therapien durchgeführt werden, die sein Leben nur unwesentlich verlängern, muss er an Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg denken. Er kam eigentlich nur ins Krankenhaus für einen kurzen Aufenthalt, um eine Magensonde legen zu lassen, musste dann aber wegen zahlreicher Komplikationen drei Wochen bleiben; Castorp will nur einen Freund besuchen und bleibt dann sieben Jahre in der Lungenheilanstalt – Jahre, die ihn prägen. Steinz betont vor allem die Unterschiede zwischen seiner Lage und der von Castorp, aber am Ende weiß er doch, warum er sich an Manns Bildungskind erinnert fühlt:

„Nein, das Krankenhaus ist kein Zauberberg. Dennoch sehe ich eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen meinem Werdegang und der Hauptperson Manns. Nachdem Hans Castorp nach sieben Jahren endlich perfekt gebildet vom Berg hinabsteigt, spaziert er geradewegs in die Schützengräben des ersten Weltkriegs. All die Jahre der Sorge und Bildung sind umsonst gewesen. Wenn ich nach all den sündhaft teuren Operationen, den hundert Arten von Medikamenten und den Wochen liebevoller Pflege und Betreuung die Intensivstation verlasse, habe ich noch immer ALS, und ein langes Leben wird mir nicht vergönnt sein. Es ist ein Stück Ironie, für das sich Thomas Mann nicht geschämt haben würde.“

Also doch die Aussichtslosigkeit? Eben das ist so beeindruckend (und doch tief authentisch) an dem Buch: jeder weitere Text versucht wiederum (was einige Wiederholungen bedingt) mit der Lage umzugehen, kann wiederum nicht leugnen, dass es sich bei den Schilderungen und Erzählungen eben um eine Chronik des Verfalls handelt, egal, was man diesem Verfall noch abtrotzen kann. Steinz bietet alles dagegen auf: Genüsse, Gedanken, Erkenntnisse und Erinnerungen. Und dass diesen Dingen nur ein zeitweiliger Sieg eingeräumt werden kann, ist stets klar.

Dieses Denken, Leben, Erfassen im Angesicht eines nahenden Todes ist ganz klar eine Ausnahmesituation und doch ein Sinnbild für die verwirrende Verquickung von „carpe diem“ und „c’est la vie“, die in jeder Existenz am Werk ist; voller Momente, die schön sind und in ihrer Schönheit schon wieder grausam, schon wieder aufgeladen, schon wieder unerreichbar.

„Eine der schönsten Erfahrungen des zurückliegenden Jahres, seit dem Moment, als bekannt wurde, dass ich an ALS leide, war der Strom an Briefen und E-Mails, die ich von Bekannten und Unbekannten bekam. Jeder versuchte, Trost zu spenden, und sehr oft bestand dieser Trost in einer Erinnerung an etwas Kleines, mit dem ich das Leben des anderen ein wenig verändert hätte: eine helfende Hand, die ich gereicht, ein Seminar, das ich gegeben, ein Praktikum, das ich ernsthaft betreut, einen Artikel, den ich in der Zeitung veröffentlicht, oder einen Scherz, den ich gemacht hatte.“

Gedichte und Romane, Klassiker von Dumas und Orwell, Sagen und Märchen, unbekanntere niederländische Klassiker, aus ihnen allen zieht Steinz Trost und kann in ihnen kleine Bastionen für seine Lebensfrohsinn aufbauen, mit denen er sich gegen seine täglichen Sorgen und Nöte rüstet. Sie begleiten ihn auf einem Weg, den er nicht gehen wollte, aber nun entschieden geht. In einem der besten Kapitel begegnet er einem Leidensverwandten, dem Philosophen Boethius, der, zum Tode verurteilt, sein Schicksal in seinem Werk Trost der Philosophie (geschrieben in der Haft vor der Vollstreckung) zu verstehen suchte. Steinz destilliert die Weisheit dieses Werkes auf seine Weise:

„Alle Menschen stecken in ihrem großen Rad, sind einmal oben und dann wieder unten. Das einzige, worauf Fortuna keinen Einfluss hat, ist der eigene Geist und die eigene Güte – sie müssen ausreichen, um einen durchs Leben zu bringen.“

Solche feinen Hoffnungen inmitten des groben Lebens, von Literatur gewoben, machen neben den Schilderungen des Krankheitsverlaufes – erschütternd und doch schlicht, manchmal fast unverfänglich dargelegt – den Inhalt dieses Werkes aus.
Dass Literatur nicht nur Bewältigung ist, sondern in ihr die tiefe Hoffnung schlummert, dass sich Menschen mit Geschichten und Gedanken auch über Generationen hinweg beistehen können, ist seine Botschaft, seine Idee. Und die Plätze auf der Liste der Dinge, die noch zu tun bleiben, wenn das Leben zu Ende geht, sind an so manches Buch nicht verschwendet.

„Sozusagen als Droste-Effekt sollte auf der Bucketlist eines jeden auf alle Fälle High Fidelty stehen, denn der zwanzig Jahre alte Roman von Nick Hornby ist zweifellos das schönste Buch über Listen, das jemals geschrieben worden ist. […] Listen anzulegen heißt leben – Nick Hornby wird mir aus ganzem Herzen zustimmen.“

Die Offenheit, mit der Steinz in diesem Werk von sich und seinen Leiden, aber eben auch von seinen Empfindungen und Eindrücken, bei der Lektüre und in anderen Moment, berichtet, hat mich tief bewegt. Es ist keine sich zur Schau stellende Offenheit und auch keine rein dokumentarische. Es ist eine Offenheit, die noch vieles vermitteln will und sich deswegen öffnet. Dankbares und Erfreuliches (das man sich als Leser*in, wenn man sich in die Krankheit und ihre Erscheinung hineinversetzt, kaum noch vorstellen kann) wird eben so wenig verschwiegen wie die zahllosen Rückschläge und Einschnitte; auch die seltsamen Heilsversprechen nicht, die Steinz erreichen, der teilweise problematische Umgang der Ärzte und anderer offizieller Stellen mit seiner Krankheit. Als sein Verfall keinen ganz so raschen Fortgang zeigt, wie prognostiziert, schreibt Steinz:

„Unbewusst schämt man sich ein bisschen, dass man nach einem halben Jahr, dann nach einem Jahr, und schließlich nach anderthalb Jahren noch immer nicht tot ist.“

und als er von anderen darauf angesprochen wird, dass es bewundernswert ist, dass er sich nicht beklagt, obwohl er sich der Hoffnungslosigkeit seiner Lage bewusst ist, setzt er sich wiederum durch die Literatur – genauer mit Edgar Allan Poe, der fürchtete lebendig begraben zu werden und oft in dieser Angst schwelgte wie in einer Hoffnungslosigkeit – mit diesen Aussagen auseinander und resümiert:

„Selbstmitleid ist ebenso wie die Todesangst kontraproduktiv und reine Zeitverschwendung – und damit eigentlich ein vorzeitiges Begräbnis.“

Nun habe ich viel über dieses Buch geschrieben und ich weiß, es ist eigentlich noch immer nicht genug. Dieses Buch ist etwas Besonderes, in all seiner Einfachheit, seinen Wiederholungen und seiner Schmerzlichkeit; und nicht nur, weil es das Vermächtnis eines belesenen Geistes ist, der viele Sympathien in einem weckt, durch die Art wie er mit der Welt umgeht.

Steinz starb 2016. Die Hoffnung, das Versprechen, die Kunst, die Stärke, die Macht, die Idee der Literatur werden durch sein Schreiben, seine Auseinandersetzung, an verschiedensten Stellen offengelegt. Zwar ist die Literatur nicht der Protagonist von Der Sinn des Lesens – diesen Platz nimmt die Krankheit ein. Aber die Literatur ist der Sidekick, ist die liebenswerteste Nebenfigur, die im richtigen Moment genau das Richtige sagt, die in all ihrer Bescheidenheit ihren Beitrag leistet. Wie jener Schwertmeister in Game of Thrones, der Aria Stark die Flucht vor der kaiserlichen Garde ermöglicht und sie jenen Spruch lehrt, den sie von da an beherzigen wird und den auch Steinz während seiner Krankheit zu schätzen lernt:

„Mein Bestreben ist es, meine Augen zufrieden zu schließen […] bis dahin hole ich aus dem Leben heraus, was herauszuholen ist, und behalte dabei den knappen Dialog im Hinterkopf, den ich kurz nach meiner Diagnose mit meinem siebenjährigen Neffen geführt habe.
-Du stirbst, nicht wahr?-, fragte er und sah von seinem iPad hoch, auf dem er ein Spiel spielte, in dem es um einen Affen ging, der mehrere Leben hat.
-Ja-, sagte ich.
-Aber nicht heute-, sagte er beschwörend, als hätte er Angst, dass ich auf der Stelle das eine Level gegen das andere eintauschen würde.
-Nein, heute nicht.-“