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Zu Sebastian Barrys “Tage ohne Ende”


Tage ohne Ende “Noch während wir den Pfad entlangreiten, können wir sehen, wie übel Lige dran ist. Ein wunderschöner Bach, der wie ein endlos bereifter Bart verläuft. Feld um Feld besorgt aussehnenden Landes. Hohes geschwärztes Unkraut, und halb geerntete, verfaulende Nutzpflanzen. Dieses vergilbte Land und dann der erschrocken wirkende Himmel, der sich bis zum Himmelreich erstreckt, und überall am Horizont die Stümpfe und Stacheln unbekannter Bäume.”

Mit diesem Roman stand der Ire Sebastian Barry 2017 auf der Longlist für den Man Booker Prize, dem wichtigsten Literaturpreis für britische Prosa. Schon vorher hat er sich mit einem Roman über den ersten Weltkrieg und anderen über die Auseinandersetzungen im Irland des frühen 20. Jahrhunderts hervorgetan. In “Tage ohne Ende” hat er sich einer neuen Region zugewandt: dem nordamerikanischen Kontinent zur Zeit des Wilden Westens und des US-amerikanischen Bürgerkrieges.

Protagonist und Ich-Erzähler ist ein Ire, Thomas McNulty, der als Jugendlicher vor den großen Hungersnöten in die neue Welt geflüchtet ist und dort auf seinen Freund und seine große Liebe John Cole trifft. Mit ihm tanzt er zunächst, als Frauen verkleidet, im Saloon einer Bergarbeiterstadt, bevor sich beide zur Armee verpflichten und nach Westen ziehen, gegen die Indianer und bald in den Krieg…

“Wie ein irischer Simplicissimus stolpert er durch das Grauen der Feldzüge gegen die Indianer und des amerikanischen Bürgerkriegs – davon und von seiner großen Liebe erzählt er mit unerhörter Selbstverständlichkeit und berührender Offenheit.” So heißt es im Klappentext. In der Tat ist der Vergleich mit Grimmelshausens bitterbösbrachialem Roman über den 30jährigen Krieg nicht unangebracht: hier wie dort beherrscht eine rücksichtslose, unabwendbare Rohheit alle Lande, es findet sich kaum ein Schrei nach irgendeiner Form von Zivilisiertem, Überleben und Ertragen sind das tägliche Handwerk, das nicht stilisiert, sondern schlicht vorgeführt wird; die Offenheit ist zwar nicht direkt berührend, aber besticht durchaus.

Das Genre des Wild-West-Romans ist, würde ich behaupten, eng mit Groschenheften verknüpft; Barrys literarischer Ansatz leistet hier Pionierarbeit und sein Buch ist ein bemerkenswerter Versuch, in einem von Klischees und Heroismus, Mythen und Stilisierung beherrschten Themenfeld eine eigene Geschichte zu entwickeln, die realistische Maßstäbe an den Tag legt. Ihm gelingen beeindruckende Darstellungen, sein Timing für kleine Momente abseits der düsteren Grunderzählung ist tadellos.

Ich glaube dennoch nicht, dass dies ein Buch ist, das viele Leser*innen überzeugen wird. Ähnlich wie Kazuo Ishiguros großartiger Sagenroman “Der begrabene Riese” (Ishiguro hat sich sehr anerkennt zu diesem Roman von Barry geäußert), ist „Tage ohne Ende“ in seiner Komposition zu eigenwillig, um ein breites Lesepublikum für sich zu gewinnen. Er hat keine epischen Tendenzen, keine epische Grundstimmung, ist rustikal und direkt, mitunter poetisch – und viele Leser*innen werden diesen Mix für einen Mangel halten, obgleich gerade darin die Kraft seiner Darstellung liegt.

Vielleicht irre ich ja, ich hoffe es. Denn obgleich mich der Roman nicht begeistert hat (über Geschmack lässt sich nicht streiten), ist er große Literatur, eine bestechende Erzählung und ein wichtiges Dokument.

Zu “Ich ist ein anderer” von Bernhard Albers


Ich ist ein andererWegen der Ähnlichkeiten (z.B. in der Arbeit mit exemplarischen Beispielen), bietet sich bei diesem Buch ein Vergleich mit Joachim Campes 2001 erschienenem „Die Liebe, der Zufall und das Paar“ an. Zwar ist Bernhard Albers Buch mehr eine Sammlung von kurzen, manchmal fast schon streiflichthaften Betrachtungen, während Campes Buch aus längeren, essayistischen Arbeiten besteht, aber beide haben einen sehr ähnlichen Fokus: das männliche Paar, die Schwierigkeiten des Bekennens zum Begehren und zueinander, die Flucht davor.

Campe geht es allerdings um eine detaillierte Analyse der von ihm gewählten Beziehungen, während Albers in drei Kapiteln und fünf Exkursen (nebst Prolog und Epilog) ein Panorama entwirft, in dem die verschiedensten Lebensläufe und Beziehungsmodelle kurz und präzise nachskizziert werden.

Rimbaud und Verlaine, dem Prototyp der leidenschaftlichen Literatenbeziehung, ist das erste Kapitel gewidmet (Nach dem Prolog über Ludwig II und Wagner). Diese Geschichte ist ja in vielerlei Hinsicht exemplarisch, beinhaltet sie doch nicht nur das Motiv der gegenseitigen Inspiration, sondern auch den Topos vom älteren Mann der den genialen und/oder bildschönen Jüngling begehrt, liebt und ihm auch Vaterfigur ist; ein Motiv, das in dem Band immer wieder aufkommt und seit den Zeiten der alten Griechen geradezu ein Archetypus homosexueller Beziehungen ist (und damals sogar institutionalisiert war). Wobei in er modernen Version der exzentrische Jüngling oft den älteren Geliebten in den Ruin treibt oder zumindest in Verhängnisse führt – siehe Oscar Wilde, siehe Verlaine.

In den weiteren Exkursen und Kapiteln, in den u.a. Thomas Mann, Hans Henny Jahnn und Hubert Fichte im Mittelpunkt stehen, erzählt Albers von verschiedenen Beispielen homosexueller Begegnung und Zuneigung, Entwürfen von Partnerschaft und Liebe, Geschichten von Sehnsucht und Erfüllung. Natürlich spielt der Aspekt der Verheimlichung, des Nichtsagbaren eine große Rolle – viele der vorgestellten Personen konnten sich nie oder nur verdeckt zu ihrem Begehren bekennen. Anhand ihres Werkes dokumentiert Albers oft das Ringen und die Obsession mit dem eigenen Begehren.

Nicht dazu stehen zu können, machte es natürlich umso schwieriger, eine stabile Beziehungsform mit jemandem zu leben und führte zur Flucht in alternative Ausdrucksweisen der Zuneigung und des Begehrens (Verherrlichung und Transzendierung, Umdeutung und Ästhetisierung). Doch Albers erzählt auch davon, wie sich homosexuelle (Zu)neigung und künstlerischer Ausdruck dieser (Zu)neigung – und auch Lebensmodelle, die das Leben dieser Neigung inkludierten – letztlich immer wieder manifestierten und auch immer wieder zu geglückten Lebensentwürfen führten. Obgleich es auch in den letzten Beispielen, bei aller Verbesserung der Umstände und Möglichkeiten, schwierig bleibt.

„Ich ist ein anderer“ ist eine schmale Studie, aber eine gelungene. Wärmstens zu empfehlen an alle, die sich mit dem Topos des homosexuellen Begehrens und der Liebe unter Männern, unter Berücksichtigung vieler exemplarischer Aspekte, auseinandersetzen wollen.

 

Weisheit, Eros und Hellenismus – “Das schöne Leben war nur kurz bemessen”. Zum lyrischen Werk des griech. Dichters Konstantin Kavafis.


I

“Das Werk der Götter stören wir,
des Augenblickes ungestüme, unerfahrene Geschöpfe.”

In einem Essay von Joseph Brodsky über das Werk von Kavafis, beschreibt er Kavafis verlorenes Alexandria. Kavafis lebte in dieser Stadt, allerdings hunderte von Jahren nach dessen Blüte, als es Kulturzentrum und Symbol des Hellenismus war, dieses goldenen Zeitalters griechischer Kunst und griechischen Einflusses, in Splittern noch weitergeführt im Byzantinischen, dann irgendwann verschwunden, verraucht, verglommen. Noch ganz leicht im modernen Griechisch an den Rändern präsent, ein Phantom in Kultur und Geschichte. Brodsky vermutet in diesem ehemaligen Alexandria so etwas wie eine Metapher auf die Jugend, die Kavafis ebenfalls in seinen Gedichten nur aus der Ferne, rückwirkend, schildert; Alexandria und die Jugend, zwei ferne Orte, mythisch fast und in ihrer Lebendigkeit, ihrem Überreichtum und ihrer Größe, Weite, für den heutigen Betrachter ein nie mehr zu erreichender Zenit.

Die Betrachtung von Brodsky hat viele Aspekte und wer genaueres wissen will, kann hierzu den Essayband Flucht aus Byzanz konsultieren – im Wesentlichen ist sie hilfreich, um eine wesentliche Einteilung von Kavafis Werk vorzunehmen, die beinahe ohne Ausnahmen funktioniert und nur zwei Kategorien hat.

Auf der einen Seite sind da die persönlichen Gedichte, die vom Verrinnen der Zeit (das bekanntest Gedicht von ihm ist hierbei “Kerzen”, das überall im Netz zu finden ist) und von Homosexualität, der Begegnung junger Männer oder ihren Liebschaften handeln. Viele von diesen Liebesgedichten sind szenisch gehalten, versetzen den Leser z.B. in einen jungen Mann, der in einem Cafe wartet, stundenlang, und hofft, dass der eine bestimme Gast hereinkommt, den er einmal hier gesehen hat (das Geschlecht der Person war bei den ursprünglichen Veröffentlichungen unbestimmt, da zu Kavafis Zeiten Homosexualität noch strafbar war). Viele dieser unaufgeregten, zögerlichen Liebesgedichte gehören zu den Höhepunkten in Kavafis Werk – so wie jenes Gedicht “Er fragte nach der Qualität der Tücher”, in dem ein Mann in ein Tuch-Geschäft geht, nur weil er das schöne Gesicht eines dort arbeitenden Verkäufers gesehen hat:

“Sie sprachen ohne Unterlass über den Handel – doch
nur mit einem Ziel: dass sich ihre Hände
über den Tüchern berühren; dass ihre Gesichter,
die Lippen sich wie zufällig nähern;
die Begegnung ihrer Glieder für einen Augenblick.

Schnell und heimlich, dass es der Geschäftsinhaber
nicht bemerkte, der im Hintergrunde saß.”

Dieses Spiel, die Anziehung, auf die es in diesen Momenten ankommt, hat Kavafis fein und unverstellt in solchen kurzen Passagen eingefangen – es ist ein übergreifendes Bildnis von dem Wagnis und dem verwirrend schönen Zug der Liebe selbst.

In seiner Homosexualität war Kavafis ein unbeflissener und doch natürlichste Dichter, ohne über die Strenge zu schlagen, oder provozieren zu wollen; es ist vielmehr die scheue und zugleich die animalisch-berauschte Intonation der Liebe und des Eros, die er immer wieder anstimmt, vom Ursprung her und nicht in ihren Ausprägungen und Praktiken, die er wohlweislich in sanften Andeutungen dem jeweils möglichen Bedeutungs- und Phantasiespielraum überlässt. Viele Jünglinge gehen über seine Seiten, vor allem im zweiten Teil seines Werk, zu dem ich weiter unten kommen werde; früher Tod und Verfall ist diesen Jünglingen nicht selten beschieden, ein Sinnbild für das, was mit jeder Jugend geschieht, ob abrupt oder schleichend. … und doch: In der letzten Sehnsucht seiner Gesten betont Kavafis auch die Ewigkeit der Schönheit, die diese Jünglinge, der spontane Eros, letztlich beweisen und die ihnen innewohnt, auch, weil die Sehnsucht und die Erinnerung sie immer wieder gemeinsam hervorarbeiten …

“Die Schönheit habe ich so unverwandt betrachtet,
dass sie ganz mein Sehen füllt.”

In manchen seiner persönlichen Gedichte begegnen wir dem Dichter Kavafis selbst, dem alternden, der nun Gedichte schreibt. Vergangenheit ist hier die einzige Richtung des Denkens, das Heiligtum – reiches und trübes Schwelgen darin, sind seine Beschäftigungen. Das Vergangene und doch nie ganz Vergehende zieht immer wieder ein in seinen Texte – das Phänomen der Zeit, gegen das der Mensch die Erinnerung stellt und doch oft Erkennen muss, dass erstere Recht behält und die Zeit den Erinnerungen das entzieht, was sie einst erinnerungswürdig machte; dass alles Morgen irgendwann einem Gestern unterliegt, alles Dasein irgendwann dem Vergehen; dass das Werden uns alle zu einem Ende führt.

“Ein Monat zieht vorbei, wird anderen Monat leiten.
Was kommt dringt unschwer in dein Ahnen ein;
es sind die gestrigen, die nämlichen Beschwerlichkeiten.
Und das Morgen endet dahin, gleich Morgen nicht zu sein.”

Doch nicht immer … manchmal langt noch etwas hinüber aus alten Zeiten – das sind Momente, die Kavafis in ihrer Gänze festzuhalten versucht, Momente, zwischen Trost und Trauer verkeilt, plötzlich wieder frohlockend und ganz nah am Auge, an der Haut, dann nur mehr wieder ein Gegenstand entzogener Erfahrung. Das Nachtrauern des Altgewordenen wird hier subtil vermittelt in einem Anklingen von früherer, unbeschwerter Gedankenlosigkeit, von einer Zeit als man noch im Geschehen stand und nicht jetzt, in Gedanken, darüber – von wo man sehr viel mehr sehen kann, aber dafür weniger fühlen. Man ist dieser Haut entwachsen und nur sehr selten, als Ahnung, flüchtig, kommt sie wieder.

“Immer wieder kehr zurück und nimm mich auf,
geliebte Empfindung, kehr zurück und nimm mich auf –
wenn meines Körpers Gedächtnis erwacht
und alte Begierde von Neuem ins Blut dringt,
wenn die Lippen sich erinnern und die Haut
und wenn die Hände fühlten, als berührten sie noch einmal”

Viele Dichter haben über Vergänglichkeit geschrieben. Bei Kavafis ist diese Vergänglichkeit unmittelbar an das Erleben gebunden; sie ist nicht übergreifend, nein, sie ist an das Eigene gebunden, an die menschliche Existenz, die man besitzt und die einem doch entrinnt und weniger wird, egal wie sehr man sie zu füllen zu versucht und vermag. Seine Art ist indirekt und unepisch, sie hat etwas Leises, wie ein Gebrechen, eine Sorge, die diese Dinge mit sich selbst ausmacht. Sichtbar wird dies noch einmal in der Figur des Greise, den er in einigen seiner Gedichte auftreten lässt, ein junger Versäumer, nun betagter Bereuer.

“Er erinnert sich der Stürme, die er unterdrückt. Und wie viel
Freuden er geopfert hat. Seinen törichten Bedenken
spottet nunmehr eine jede der verpassten Chancen.”

Kaum ein anderer Dichter hat mir wie Kavafis klargemacht, wie viel (vergebliche) Hoffnung wir eigentlich in die Erinnerung stecken, wie sehr wir uns daran klammern, wieviel Sehnsucht wir noch auf diese Dinge anwenden, die längst vergangen sind.

“Es ist halb eins. Schnell verstrichen die Stunden
seit neun, als ich das Licht entzündete
und mich niedersetzt. Ich saß da und las nicht,
sprach auch nicht. Mit wem denn sollt’ ich sprechen,
ganz allein in diesem Haus.
[…]
Das Trugbild meines jugendlichen Körpers
kam und brachte auch die Kümmernisse mit;
Totentrauern der Familie, Trennungen,
die Gefühle derer, die mir nahe standen, der Gestorbenen
Gefühle, die so wenig Achtung fanden.

Es ist halb eins. Wie verstrichen die Stunden.
Es ist halb eins. Wie verstrichen die Jahre.”

II

Der zweite Teil von Kavafis Werk hat seine Ursprünge in einigen Tatsachen: der, das Kavafis Zeit seines Lebens (bis auf ein paar Jahre in England und eine Zeit in Athen) in Alexandria lebte; dann dass er viele griechisch-antike und byzantinische Autoren und Chroniken las und außerdem seine große Affinität zu dem Sagenumwobenen, Lebendigen und Idealen in der antiken Welt. Der zweite Teil seines Werk setzt sich daher aus Werken zusammen, die (fiktive oder echte) antike Personen und Ereignisse darstellen, nachvollziehen, betrachten. Durch all diese Gedichte entsteht ein kleines Panorama von Kavafis Bildung und Interessen; die Darstellung der jeweiligen Szene, ihrer kleinsten Komponenten und Erwähnungen, gedachte er große Sorgfalt an. In seinen Ausschmückungen, seinem dann und wann lieblich wie Wein hineinrauschenden Hedonismus, spürt man eine Verbundenheit, eine gewisse Freude am Erfinden und Malen dieser Szenerien. Im Ende des Gedichts “In der Kirche” beschreibt Kavafis selbst welche Vorstellungen/Sympathien diesem alten griechischen Wesen, fortgeführt im Byzantinischen, bei ihm auslösen, in ihm entfachen:

“Wenn ich eintret’, in der Griechen Kirche;
mit des Weihrauchs Wohlgerüchen,
den liturgischen Gesängen, Psalmenklängen,
mit der Priester prangender Erscheinung
und dem feierlichen Gleichmaß jeder ihrer Gesten –
von größter Pracht im Schmuck der Meßgewänder –
wendet sich mein Geist der Macht und Größe unserer R asse zu,
unserem Ruhm: dem Wesen von Byzanz.”

Zwischen Geschichtenerzähler und anmerkendem Betrachter, steht Kavafis in diesen “hellenischen” Gedichten und es sind wahrscheinlich die kunstvollsten Texte seines Werkes – dabei aber auch die für den deutschen Leser am schwierigsten nachzuvollziehenden. Selbst mit einem Anmerkungsverzeichnis (wie hier in der Sammlung “Brichst du auf gen Ithaka …” enthalten) tut man sich schwer damit in die einzelnen historischen Bildnisse, ihre Umgebung und Bedingung einzusteigen. Nachvollziehbarer ist es dann schon, wenn Kavafis sich nicht etwas Historisches zum Vorbild nimmt, sondern selbst ein (meist unbedeutendes) Ereignis als kleine Begebenheit der damaligen Zeit erfindet, oder eine unbekannte Person eines bestimmten Zeitalters einen kurzen Monolog halten lässt. Sowie jene Geschichte eines Jünglings, der, auf der Überfahrt schwer erkrankt, in einem Hafen Syriens ankommt, wo er eigentlich ein Gewerbe lernen und sein Leben richtig beginnen wollte und:

“Wenige Stunden nur, bevor er starb, flüsterte
er von -Haus-, von -sehr betagten Eltern-.
Doch es wusste niemand, wer sie waren,
niemand wusste, was sein Vaterland im großen Kreis der Griechenwelt sei.
Besser ist’s. Da so, derweil
im Tode er in diesem Hafenorte ruht,
ihn die Eltern stets am Leben hoffen werden.”

Eine letzte Unterkategorie gibt es noch in jener zweiten Kategorie, und es ist wiederum eine, die ein paar der besten Gedichte von Kavafis enthält. Das beste Beispiel für diese Unterkategorie ist wahrscheinlich das Gedicht “Thermopylen” (Der Ort an dem die allseists bekannten 300 Spartaner die Perser aufhalten wollten; Ephialtes war der Verräter, der die Perser auf einem Pfad um die Thermopylen herumführte und so den Untergang dieser Verteidigungsstellung herbeiführte; Meder ist eine andere Bezeichnung für Perser.)

“Ehre denen, die in ihrem Leben Thermopylen
je bestimmten und bewachen.
Die nie aus der Verpflichtung weichen;
gerecht und unbeirrt ihren Taten,
doch dabei voll Mitleid und Erbarmen;
großherzig, wenn sie reich, und wenn
sie arm sind, dennoch freigebig im kleinen Maß,
dennoch Hilfe stellend so viel sie vermögen;
die immerfort die Wahrheit sprechen,
jedoch ohne Hass auf die, die lügen.

Und um so mehr gebührt dann Ehre ihnen,
wenn sie voraussehen (und viele sehen voraus),
dass am Ende Ephialtes erscheinen wird
und am Ende die Meder durchmarschieren.”

Hier, in diesen Gedichten, regiert das Symbolische Hand in Hand mit der leisen Beschwörung und Erhebung; in sehr schlichter Weise transferiert Kavafis Gleichnisse und übergreifende Ideen aus der griechischen Geschichte und Mythologie heraus in die Gegenwart – Botschaften, eindringlich und umfassend, und doch im gewissen Sinne geradezu klassisch. Allegorien, die fast ausnahmslos auf das Wesentliche weisen, unbrachial, geradezu mild, auf (un)bedeutsame Weise berührend. Eine Operation der Allegorie, die nicht nur Erinnerung beschwört sondern in der Erinnerung die Gegenwart heraufbeschwört und sie sichtbar macht .

Es gibt einige wenige Gedicht von diesem Schlag, aber sie sind alle grandios; vielleicht weil in ihnen die Möglichkeiten von Kavafis Stil und die Möglichkeiten des Gedichts, unmittelbar zusammen kommen; dieses Verbinden von Botschaft, historischem Bezug, ideeller Verdichtung und einer kurzen, wesentlichen Betrachtung, mit formelhafter Beschreibung.

Konstantin Kavafis war ein Dichter einiger weniger zentraler Ideen: Vergänglichkeit, Eros, Hellenismus und flüchtiger Schönheit, die sich in allen drei anderen Ideen auf bestimmte Weise bricht. Pathos und Übertretung, Metaphern und experimentelle oder sprachliche Innovativität lässt er fast gänzlich vermissen; seine Sprache ist ungefilterte Mitteilung, die tieferes Verständnis, das schon vorhanden ist, anzusprechen versucht. Diese schlichte Weisheit, ein beinahe lakonisches und doch gefestigtes Interesse an der Wahrheit und der Gewissheit, der Erkenntnis, dass bestimmte Dinge weder schlecht noch gut betrachtet werden müssen, weil sie jenseits dieser Einteilungen sind, was sie sind und wir sie darin auch nicht verdrehen können, weil alle Bezeichnungen auf uns zurückfallen, ohne diese Wesenheiten zu verändern oder auch nur zu erreichen, anzurühren. Diese Klarheit und dieses Verständnis sind am Ende das größte Geschenk, das Kavafis uns macht. Ein Geschenk für die Ewigkeit.

“Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
Doch beeile nur nicht deine Reise.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und hoffe nicht, das Ithaka
dir solchen Reichtum geben kann.

Ithaka gab dir die schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen.
Nun hat es dir nicht mehr zu geben.

Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht.
So weise wie du wurdest und in solchem Maß erfahren,
wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten.”

 

Zur Übersetzung:

Der Autor der Rezension bekennt betrübt, dass er kein Griechisch spricht. Alles was er folgend zu der Übersetzung zu sagen hat, geht also von folgendem Gesichtspunkt aus: Wenn etwas ankommt, wenn die Gedichte also im Deutschen vielfältig erfahrbar sind, kann die Übersetzung nicht so schlecht nicht sein. Was Getreulichkeit, Adäquatheit und Rhythmus angeht, kann keine fachlich-nachvollziehbare, sondern lediglich jene Auskunft gegeben werden, die aus den Erfahrungen/ und dem Erlebnis mit den Übersetzungen bezogen werden kann.

Man lässt sich, wenn man die deutschen Übertragungen zuerst liest, vielleicht allzu schnell täuschen von einer gewissen Manieriertheit, einer abgerundeten Glätte, die Form und Syntax der Verse bestimmen – aber in seiner bedächtigen Langsamkeit erreicht Kavafis eben genau das, was er wollte: das tiefere Verständnis der Bewandtnisse, das sich über den flüchtigen Blick, den flüchtigen Gedanken hinwegsetzen und die Dinge einmal ganz einfach und wahrhaftig betrachten will. Seinen Sentenzen zu folgen hat etwas Meditatives und Ruhiges – man hat Zeit für jede Zeile, jede Weiterführung, jeden neuen Aspekt des Gedankens. Gleichzeitig ist die Übersetzung, im (bewussten) Verzicht auf Nachdichtungen (mit einigen wenigen Ausnahmen, wo die Übersetzer  es für machbar hielten), doch immer erstaunlich melodisch und unterstützt die langsame, aber bestimmte Windung, die Kavafis Formulierungen nehmen.

 

Zu den verschiedenen Ausgaben

1. Brichst du auf gen Ithaka … (ISBN 3923728034)

Dieser Band enthält alle zu Lebzeiten von Kavafis autorisierten Gedichte (153), zuzüglich eines Gedichtes aus dem Nachlass – alle auf Deutsch, bei einigen wenigen ist eine Version des Originals daneben abgedruckt. Zu jedem Gedicht liegen gute, fürs Verständnis meist ausreichende Anmerkungen vor. Namen und sonstige unbekannten Bezeichnungen werden ebenso wie einige sonstige Informationen zu dem Gedicht darin aufgeführt. Ein Vorwort, das die Übersetzungsart erklärt und allgemein ein bisschen zu diesem Thema sagt, sowie ein Nachwort als Skizze zu Leben und Werk von Kavafis sind auch enthalten.

Die Übertragungen dieses Bandes wurden von Wolfgang Josing, unter Mitarbeit von Doris Gundert besorgt. Der Schwerpunkt wurde auf Textgenauigkeit gelegt; Kavafis “Vorlagen” wurde Rechenschaft getragen, in dem man versuchte Klang, Art und Wortwahl des gesprochenen Wortes, der gewöhnlichen Rede, zu treffen, wie Kavafis es im Griechischen Original tat. Alle Textbeispiele, die ich oben anführe, sind diesem Band entnommen, weil mir seine Übersetzungen am meisten gefallen haben; so bezieht sich auch der Abschnitt “zur Übersetzung” zentral auf die Übertragungen dieser Ausgabe.

2. Das Gesamtwerk (ISBN 3596142733)

Die Übersetzungen in “Das Gesamtwerk” wurden von Robert Elsie besorgt, den einleitenden Essay schrieb Marguerite Yourcenar. Das Buch fasst alle autorisierten 154 Gedichte von Kavafis ebenso wie 77 unveröffentlichte, sowie Prosa und Notizen, sowie unvollendete Gedichte (gesamte Übersicht unter http://www.elsie.de/de/buecher/b17.html), womit es die umfangreichste deutsche Kavafis-Ausgabe ist; im Anhang befinden sich umfangreiche Anmerkungen, eine Zeittafel und ein Nachwort des Übersetzers.

3. Gedichte: Das Hauptwerk, griechisch und deutsch (ISBN 3825352129)

Der Übersetzer dieses Bandes, Jörg Schäfer, wurde vom griechischen Kulturministerium 2005 mit einem Preis für die beste Übertragung eines neugriechischen Werkes ausgezeichnet. Diese Ausgabe des Winterverlags  enthält 159 Gedichte und ist damit die umfangreichste griech./deut. Ausgabe, die von Kavafis vorliegt.)

4. Gefärbtes Glas – Historische Gedichte (ISBN 3518223372)

Übertragen und mit einem Nachwort von Michael Schroeder. Ratsam für die, die sich weniger für die persönlichen und mehr für die alexandrinischen Gedichte von Kavafis interessieren. Historisch heißt hier allerdings nicht immer “historisch verbürgt”, sondern meist “aufs Historische ausgerichtet/das Historische nachahmend.

5. Um zu bleiben – Liebesgedichte (ISBN 978-3-518-22020-7 )

Ebenfalls von Michael Schroeder übersetzt. Dazu mit 13 sehr gelungenen Radierungen von David Hockney. Ratsam für jene, die sich mehr für die persönlichen und homoerotischen Gedichte von Kavafis interessieren.

“Can’t think (write) straight” – Irvings verquere Lebensgeschichte eines Menschen zwischen den sexuellen Stühlen


“Dein Gedächtnis ist ein Monstrum; du vergisst – es vergisst nicht. Es packt Erinnerungen einfach weg; es bewahrt Erinnerungen für dich auf, oder es verbirgt sie vor dir. Dein Gedächtnis erweckt nach eigenem Ermessen Erinnerungen wieder zum Leben. Du bist der Ansicht, du hättest ein Gedächtnis, doch dein Gedächtnis hat dich.”

Wenn es etwas gibt, wofür der amerikanische Autor John Irving unterbewusst bekannt ist, dann sind es die Eigenheiten und vielen unaufgeblasenen, aber betonten, Kleinigkeiten, die er in seinen Büchern oft als Ausschmückungen und kontinuierliche Facetten einbaut und die seine Figuren oftmals sehr menschlich machen.

Es ist dies, was ich an seinen Romanen besonders schätzte, dass sie nicht attitüdenartig sind, sondern stets nah am Leben – mit all den Klischees, dem Offensichtlichen und Hintergründigen, Sukzessiven, den Wiederholungen, Überraschungen und Unwägbarkeiten, die es ausmachen. Seinen Figuren widerfährt nicht die Form des Romans oder eine fixe Handlung – sie leben tatsächlich, so scheint es, ihr Leben und der Roman fängt es auf/ein.

“In einer Person” wirkt wie die Rohfassung eines sehr viel größeren, nur ausschnittsweise verfassten Romans – und gerade deswegen hat es sehr viel von einer Lebensschilderung. Ebenfalls sehr auffällig sind viele Abschweifungen und abseitige Szenen, die nicht wirklich die Handlung vorantreiben, sondern den Leser mehr darin zurückwerfen. Und ich glaube, dass ist eine der Sachen um die es bei diesem Buch, nicht nur erzähltechnisch, geht: um die Inszenierung von Rückschau, Erinnerung und ein sich dabei gleichzeitig manifestierendes Bekenntnis, dem Niederschreiben der Memoiren ähnlich, was sich beides auf sehr komplexe Weise miteinander vermischt.

Zugegeben: Irving hat ein sehr zwistiges Thema für diesen Roman gewählt: Homo-, Trans- und Bisexualität; alles drei auf einmal und nicht zu knapp. Was dann oft ein bisschen so wirkt, als gäbe es wenig bis gar keine heterosexuellen Menschen und nichts über Heterosexualität zu schreiben; er tritt mit diesem (wichtigen) Randthema dann doch etwas zu breiträumig auf, was der Intensität manchmal schadet, weil es fast schon wieder zu einer oberflächlichen Normalität ausgewalzt wird; ob das letztendlich etwas mit der Intention Irvings zu tun hat, sei dahingestellt. Die klare Konsequenz mit der sich Irving des Themas annimmt (ohne Aggressivität, aber auch ohne Pardon) ist des Weiteren sicherlich auch nicht jedermanns Sache.

Während wir erwachsen werden müssen wir lernen (wir können nur hoffen, dass wir es tun, denn es ist die vielleicht wichtigste Lektion, die wir tief verinnerlichen müssen), dass die Welt nicht Schwarz und Weiß ist, auch wenn sie uns oft so vorkommt (es ist dieser Widerspruch, den wir manchmal vielleicht noch mehr verstehen lernen müssen, als die schlichte Tatsache dahinter). Irving, der vielleicht beste Erzähler Amerikas (nicht der beste Romancier – da haben ihm Franzen und Roth ein paar Dinge voraus), kann gerade dieses Erwachsenwerden oder einfach das “Werden” allgemein, so gut erfassen und zur Romanfigur/-geschichte ausbilden, wie kein anderer sonst. Ich muss zugegeben, und vielleicht stehe ich da allein, dass mir das über viele Schwächen des Romans hinweghilft; Schwächen, welche das Buch eindeutig und unbestritten besitzt, wie zum Beispiel die allzu starke Fixierung auf das Thema, das spätestens im Mittelteil/Ende nicht mal mehr bestimmend, sondern fast schon monopolistisch rüberkommt – oder die allzu dünn gesäten Momente, in denen der Leser (egal welcher sexuellen Konfession er angehört) einmal wirklich in den Text “einsteigen” kann und nicht nur der Schilderung des Lebens von Irvings Hauptfigur auf den bloßen Füßen der erzählenden Frequenz folgt.
Es ist dies sicherlich auch ein Merkmal Irvings, dass er niemals abschweift, es geht ihm immer um seine Figuren, er weicht keine Sekunde von ihrer Seite, geht nicht von ihnen ab.

“in dem Moment, wenn man etwas erlebt, hat man keinen großen Überblick über die Dinge.” Wie viele Sätze in diesem Buch ein tolles und den Roman selbst wieder ein wenig mitdefinierendes Zitat. Doch natürlich machen lauter gute Sätze, ein bisschen mit eingebrachter Shakespeare, ein bisschen Rilke, Ibsen und eine sehr offene Behandlung beinahe sämtlicher sexueller Ausrichtungen, sowie eine Kleinstadt in Vermont, noch keinen großen Roman. Was also macht ihn dann doch letztendlich so lesenswert, dass man sich in Teilen und ihm ganzen nach der Lektüre schwer einem kleinen nostalgischen Urteil entziehen kann und sei es nur: wieder einmal ein echt berührendes Buch

Teilweise habe ich die Frage schon im Text beantwortet, doch es wird wohl nicht reichen, wenn ich am Ende noch sage: Weil es ein Irving ist? Aber ich fürchte genau das ist es. Einen Roman von 700 Seiten zu schreiben ist vielleicht nicht schwer, aber einen Roman zu schreiben, der sich selbst treu bleibt, das ist immer wieder eine große Leistung – und Irving hat es hier zum 13x geschafft. Man kann seine Bücher zur Hand nehmen und sich sofort in der Atmosphäre und Dimension ihrer konzentrierten, vielschichtigen Lebensläufe verlieren. Nicht anderes lesen wir bei Irving: Lebensläufe – und was wir dabei hauptsächlich mitbekommen sind Lorcas berüchtigte “Spuren/vom Sand/der Uhren”, sind die Dinge, die das Leben der Person, die Irving entwirft und erschafft, bestimmen. Was anderes könnte ihnen passieren, als das was ihnen passiert?; was passiert Menschen denn anderes, als ihre Lebensgeschichte, die oft nun mal unter einem bestimmen Stern steht – einen Stern, den Irving jedes Mal neu definiert. Darin ist und bleibt er ein großer Erzähler: Romane sind seine Art das Leben immer wieder aus einem bestimmen Blickwinkel und deren Entwicklung, unter Einbezug von Geschichte, liebgewonnenen Wendungen und üblichen Widerfahrnissen zu durchleuchten und von dieser Erfahrung zu erzählen, sie präsent zu machen in unseren Köpfen.

Nun mögen viele sagen, dass das sicherlich glaubwürdig und gut ist, aber sie werden es trotzdem nicht für lesenswert halten. Das ist eine Frage des Standpunktes und der eigenen Vorlieben, die ich nicht zur Debatte stellen will, weil dort sowohl die Kritik als auch die Befürwortung nur minimale Verschiebungen bewirken können und ich sie dahingehend respektiere. Aber für alle Unentschlossenen bleibt zu sagen: Wer doch einmal das Gefühl haben will von einem ganzen Leben erzählt zu bekommen, dass unter diesem und jenem Aspekt gelebt wurde: das Irving-Universum wartet auf Sie und setzt sich auch in diesem 13, zugegebenermaßen leicht kruden, Teil fort, als ewige Rekapitulation von dem, was Lebensläufe, was Geschichte, was Beziehungen, was Leben bedeutet – währenddessen und im Nachhinein.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen