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Zu Richard Brautigans “Die Abtreibung”


Die Abtreibung „Während Foster in die Bibliothek ging, um sein erstes Buch zu empfangen, lagen Vida und ich weiter auf dem Bett und tranken ab und zu ein paar Schlückchen aus der Whiskeyflasche, die er gnädigerweise dagelassen hatte. Nach einer Weile waren wir so entspannt, dass man uns beide als Gänseblümchenwiesen vermieten hätte können.“

Nach Richard Brautigans ersten, nahezu übersprudelnden drei Romanen („Konföderierter Generel aus Big Sur“, „Forellenfischen in Amerika“ und „In Wassermelonen Zucker“), den feinsinnig-aberwitzigen Gedichten in „Die Pille gegen das Minenunglück von Springhill“ und dem Erzählband „Die Rache des Rasens“ hatte er, wie viele meinen, seinen Zenit überschritten. 1971 erschien dann dieser (wie immer schmale) Roman und verkörperte, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, so Brautigans Kritiker, dass er kein wirkliches Thema habe (und nie eins haben würde – abgesehen vielleicht von der Japanbesessenheit am Ende seines Werks).

In der Tat kommt dieser Roman auf so langsamen und teilweise obskuren Sohlen daher, dass man ihn als Luftnummer ansehen könnte, als kleine Phantasie, als zum Roman gestrecktes Material mit wenig Substanz.

Gleich zu Anfang werden die Lesenden „der Bibliothek“ konfrontiert. Sie dient als Anlaufstelle für selbstgeschriebene, egal wie krude, egal wie banale, simple bis sinnlose Bücher jeglicher Machart und jeglichen Inhalts. Die Leute können sie vorbeibringen, sie werden eingetragen und dann auf eines der Regalbretter gestellt.
Geleitet wird diese Einrichtung von einem Bibliothekar, dem Protagonisten, der seit etwa drei Jahren das Gebäude nicht verlassen hat; nicht verlassen darf, denn die Bibliothek, mit ihm als einzigem Mitarbeiter, nimmt rund um die Uhr Bücher entgegen.

Eines Tages kommt Vida mit einem Buch in die Bibliothek. Vida, die einen perfekten, allen Schönheitsidealen entsprechenden Körper hat. Vida, die von allen männlichen Wesen deswegen angestarrt wird. Und die das fertig macht.

„Mein Buch handelt von meinem Körper, davon, wie schrecklich es ist, wenn man den Leuten so ausgesetzt ist: dieses Kriechen und Krabbeln und Saugen an etwas, das nicht ich bin. Meine ältere Schwester sieht so aus, wie ich wirklich bin.
Es ist schrecklich.“

Vida und der Bibliothekar verlieben sich, schlicht und ohne Umschweife, sie kommt immer wieder zu ihm, sie zelebrieren eine unbefangene Liebe, in der sie auftaut und er nicht mehr alleine ist.

Bis hierhin wirkt der Roman wie ein üblicher Brautiganmix: Idiotisches und Witziges, Understatement und Philosophie, Banalität und Furiosität treffen sich irgendwo in der Mitte und veranstalten ein kleines absurd-legeres Gelage (das allerdings, im Gegensatz zu den ersten drei Romanen, nicht ganz so viele schöne poetische Blüten hervorbringt und deshalb nicht nur unspektakulär, sondern geradezu brav wirkt). Wie immer scheint die Bedeutungsschwere weit weg zu sein, schwingt aber doch in jedem Satz mit. Und natürlich gibt es wieder eine utopische Beziehung zwischen dem Protagonisten und einer Dame.

Dann wird Vida schwanger. Beide sind nicht bereit für ein Baby und sie will eine Abtreibung vornehmen lassen. Vom Lagerverwalter der Bibliothek, Foster, erfahren sie von einem Arzt in Tijuana, Mexiko, der sauber und gut arbeiten soll. Also übernimmt Foster für einen Tag die Bibliothek und der Bibliothekar und Vida fliegen nach San Diego.

„Ich schaute zu Vida. Sie sah auch aus, als wäre sie noch zu jung für eine Abtreibung. Was machten wir hier eigentlich alle? Ihr Gesicht wurde immer blasser. Ach ja, die Unschuld der Liebe war bloß ein körperlicher Zustand, der sich steigerte, und nicht etwas, das die Form unserer Küsse hatte.“

Was folgt ist eine Geduldsprobe und auf gewisse Art ein Meisterstück psychologischer Erzählkunst. Brautigan schildert die ganzen Trip, mit allerlei pointierten und oberflächlichen Kleinigkeiten, fast wirkt es so als würde nur das Nebenbei im Mittelpunkt stehen – zusammen mit Vida, die von allen Männern begafft wird und überall für Chaos sorgt mit ihrem wunderschönen Körper.
Auch die Abtreibung wird beschrieben – als das, was der Bibliothekar, der vor der Behandlungsraum-Tür sitzt, mit anhört. Danach, während Vida noch narkotisiert ist, hört er bei zwei weiteren Abtreibungen zu; bekommt mit wie einmal der Mann und einmal die Eltern der beiden Patientinnen damit umgehen.

Brautigan fehlt es in keinem seiner Bücher an Originalität, aber in diesem Roman tritt diese Originalität zurück hinter das Thema, was in seinen Büchern eigentlich nie passiert: eigentlich ist es immer die Originalität (oder Versuch), die das wirkliche Thema ist.

Verblüffend ist wie Brautigan das Thema Abtreibung sorgsam, aber eigentlich ohne es wirklich (über die Schilderung hinaus) zu behandeln, in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt. Und wie klar und unverstellt, wie unausweichlich es Gestalt annimmt in der Schilderung der Reise, aller Nebensächlichkeiten, die während dieser Reise passieren, bis zum Moment in der Praxis, wo es immer noch Details und banale Abläufe sind, die alles bedingen und ausmachen.

Dieses Nebensächliche, Detaillierte, reicht auf eine seltsame Art und Weise an die Wirklichkeit heran, erfasst die Schlichtheit und Unumgänglichkeit unseres Daseins und der Dinge, die wir tun können, sagen können, ertragen müssen.

Es gäbe noch andere, substantiellere Dinge, die erörtert werden könnten. Da ist der geradezu schreiende Name der Protagonistin, der auf Spanisch “Leben” bedeutet. Da ist der Körper, den sie nicht als ihren empfindet, weil er ihr nur unerwünschte Aufmerksamkeit beschert und andere Unannehmlichkeiten und jeder Entfaltung jenseits von ihm im Wege steht.

Im Prinzip spiegelt sich in Vida das Dilemma eines ganzen Geschlechts wider: eines Geschlechts, das immer wieder auf seinen Körper reduziert wurde und wird, trotz oder gerade weil dieser Körper der Weg zu neuem Leben ist. Der erotische und der Fortpflanzungsaspekt haben oft dazu geführt, dass Frauen nicht als Eigentümer ihres Körpers angesehen wurden – ihr Körper gehörte ihnen nicht. Und bis heute werden Frauen oft dazu erzogen (von der Gesellschaft, der Werbung) ein kompliziertes, problematisches Verhältnis zu ihrem Körper zu haben, egal ob es dabei um Körpermaße, ihre Geschlechtlichkeit, Beharrung, etc. geht.

Wie aber kann man auf gute Weise damit umgehen (ganz abgesehen davon, dass die Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen natürlich längst keine Frage mehr sein sollten!), dass es ein Geschlecht gibt, das schwanger werden kann und eines, dass es nicht kann? Brautigan verhandelt diese Frage nicht wirklich, aber er führt ein exemplarisches, phantastisch-angehauchtes Beispiel vor. Das Buch erscheint wie der Versuch einer unmöglichen Versöhnung; wie die Annäherung an eine Wirklichkeit, in der es keine Frage ist, miteinander und füreinander da zu sein.

Es liegt eine tiefe Traurigkeit und Schönheit in dieser simplen und eigentlich völlig undynamischen Geschichte. Wie in allen Büchern von Brautigan.

 

Ein menschlicher Aufruf, eine Lehrstunde in Humanität: Albert Camus’ “Weder Opfer noch Henker”


“Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.”
Aus: -Licht und Schatten-

1952 trennten sich die unter dem Banner des französischen Existenzialismus lose verbundenen Schriftsteller und Philosophen Albert Camus und Jean-Paul Sartre im Streit. Es ging um Camus Buch Der Mensch in der Revolte und dessen zentrale Aussage, mit der Sartre und auch andere intellektuelle Linke in Frankreich sich nicht abfinden konnten: das Beharren auf dem Individuum und die Nivellierung der Geschichte und des Kampfs der Systeme zugunsten einer Utopie der Einigkeit und Gerechtigkeit; Revolution nicht im Großen, Ganzen, sondern in jedem einzelnen Menschen.
Überholte Theorie, der man eine brachialere, sozialistisch-kritisch-politische und globale Praxis gegenüberstellen musste, so war die Meinung des Kreises um Sartre.

Schon 1946 erschien der Essay “Weder Opfer noch Henker” in der Zeitschrift Combat. Es ist die erste Ausformung des Gedankens, den Camus 6 Jahre später in seinem großen Essayband vollenden würde.

“Weder Opfer noch Henker” ist nun also beinahe 70 Jahre alt. Ein politisch-philosophischer Essay kann solche Entfernungen der Zeit nicht ohne Abstriche überstehen. So hat sich die damals höchst aktuelle Bedrohung und Furcht vor einem West-Ost Konflikt gewandelt – andere Probleme, die nicht unbedingt mit diesem vergleichbar sind, traten an seine Stelle.
Warum also noch diesen Essay lesen?

“Ja, was man heute bekämpfen muss, ist die Angst und das Schweigen und damit die Entzweiung der Gemüter und der Herzen, die sie zur Folge haben. Was man verteidigen muss, ist der Dialog und die weltweite Kommunikation zwischen den Menschen. Abhängigkeit, Ungerechtigkeit und Lüge sind die Geißeln, welche diese Kommunikation unterbrechen und diesen Dialog verstummen lassen. Deshalb müssen wir sie ablehnen. Aber diese Geißeln bilden heute den eigentlichen Gegenstand der Geschichte, und mithin betrachten viele Menschen sie als notwendiges Übel. Es stimmt zudem, dass wir der Geschichte nicht entkommen können, da wir bis zum Hals darin stecken. Aber man kann danach streben, in der Geschichte zu kämpfen, um jene Seite des Menschen zu bewahren, die ihr nicht angehört.”

Nach wie vor stehen wir vor den Problemen, die Camus in diesem kurzen Zitat aufgreift. Ja, man muss sogar sagen, dass sie noch viel brisanter geworden sind, weil sie sich seit der Zeit von Camus erster Warnung wirklich in unserem Denken, den politischen Realitäten und gesellschaftlichen Systemen festgesetzt haben und verinnerlicht wurden. Dass dies ein Missstand ist, wird wohl niemand bezweifeln und doch laufen wir alle weiter mit und glauben, es müsse sich etwas Großes oder Ganzes ändern, bevor wir uns ändern – das System müsste anders sein, bevor wir anders werden können, dabei ist es eben, wie Camus in seinem späteren Werk ausführt, genau umgekehrt.

Wer das Zitat oben gelesen hat, kann sich selbst überlegen, ob dieser Essay heute noch lesenswert ist, oder nicht. Ich für meinen Teil denke, dass es ein unglaublich wichtiges Buch ist. Der Teil in uns, der meint, dass die Geschichte ein notwendiges Übel ist, dem wir uns alle unterwerfen müssen, ist in den letzten Jahren voranmarschiert – das Schweigen hat an einigen Stellen aufgehört und hat sich (dadurch) an anderen Stellen vertieft.

Albert Camus war jemand, den man fast schon als grenzenlosen Humanisten beschreiben könnte – doch eher passt André Gide’s Ausdruck: Er war ein menschlicher Humanist. Und sein Mut und sein Engagement, sein Wille die Lage der Menschen zu verbessern und für eine Welt zu kämpfen, in der es keinen legitimen Mord gibt und sich Freiheit und Gerechtigkeit die Waage halten, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Gewiss, wir reden hier von Utopien, von Idealen. Aber sind nicht gerade diese beiden Ideen, trotz ihrer Wirkungslosigkeit im Angriff und in der Expansion, immer noch die besten Verteidigungsmittel, die ein einzelner Mensch gegen Welt und Übel haben kann, der Gedanken, auf dem sich alle Gute letztendlich aufgebaut hat?

Und wenn es eine Utopie ist… – “ich war immer der Ansicht, wenn ein Mensch, der auf menschliche Verhältnisse hofft, ein Verrückter sei, so sei jener, der an den Ereignissen verzweifle oder sie dulde, ein Feigling. Und von nun an wird es nur noch den Stolz geben, unbeirrbar jene großartige Wette mitzumachen, die schließlich darüber entscheiden wird, ob Worte stärker sind als Kugeln.”