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Kurz zu David Foster Wallace “This is water”


  Dieses kleine Buch, diese Rede, kann schwerlich als eines der Hauptwerke von David Foster Wallace bezeichnet werden; es wäre aber auch falsch, es als reines Nebenprodukt abzutun, als nettes Beiwerk. Es ist ein wichtiges Buch, meiner Ansicht nach sogar ein bedeutendes. Und das hat etwas mit der Tragweite der darin geäußerten Überlegungen zu tun (die ich hier jetzt nicht rekapitulieren werde) und mit der Schlichtheit, in der sie vorgetragen werden. Es ist ein Buch, das sich der Dürftigkeit seines Wesens in Bezug auf Virtuosität und – vermeintlich – Originalität bewusst ist und dennoch geradeheraus in das Angesicht der leichthändigen Ignoranz blickt und spricht. Sagt, was es zu sagen hat.

Vielen Leser*innen mag das Büchlein dennoch belanglos erscheinen und ich will ihnen nicht mal widersprechen, denn es steckt eine große Belanglosigkeit darin, vielleicht auch eine belanglose Größe. Und doch würde ich mir wünsche, dass mehr Leute verstehen, warum ich Foster Wallace behutsamen Anschauungen nur zustimmen kann; warum ich denke, dass sein einfach geäußertes “Obacht!” bis in viele Hinterköpfe vordringen sollte. Vielleicht, weil unser Zusammenleben viel weniger selbstverständlich sein sollte und gleichsam selbstverständlicher. Aber alles, was dazu zu sagen wäre, steht in diesem Buch. Was ich – ganz abgesehen davon, was ich mir als Reaktion wünschen würde – nur empfehlen kann, ist: es zu lesen.

Es geht um Verständnis.

Zu Beat Gloors sinnigen, teilweise genialen Aphorismen in “Wir sitzen alle im gleichen Bott. Aber nicht alle rudern.”


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„Wir haben viel verloren durch den Biss in den Apfel. Aber wir hätten nie erfahren, was wir alles hatten.“

Was die Wiederlesbarkeit angeht, gehören Bände mit Aphorismen zu meinen Favoriten. Es lässt sich darin immer wieder etwas Inspirierendes oder gegen den Strich Gebürstetes finden, man kann sich darin auf eine nachhaltige Art und Weise verlieren. Zumal der Aphorismus auch eine faszinierende Form ist: Eine Agitation auf engstem Raum, eine gegossene und zum Projektil geformte Behauptung, die so durchschlagend sein kann wie eine Wahrheit und in jedem Fall Querschlägerpotential hat. Ihm haftet gleichzeitig die Aura der Weisheit und des Subversiven an. Aphorismen richten sich gegen alle und gegen Niemanden; wer darin mit wem spricht, verschwimmt, selbst wenn eine klare Autorenfigur dahintersteht.

„Der Nestbeschmutzer beschmutzt das Nest nicht. Er sagt nur, dass es schmutzig ist.“

Zudem gibt es auch unterschiedliche Arten von Aphorismen. Auch wenn das blitzschnelle Offenlegen einer Erkenntnis der große gemeinsame Nenner ist – wie sehr dieses Offenlegen sich ins Epiphanische und wie sehr ins Pointierte neigt, wie sehr es auf den Zynismuszug auf- und von der Kante des Sagbaren abspringt, wie kleinteilig es sich mit Sprache auseinandersetzt oder wie groß die Gedanken sind, denen es sich annähern will, das sind alles Nuancen dieser in vielerlei Hinsicht als homogen wahrgenommenen Gattung.

„Wichtig klingt wie das Adjektiv zu Wicht. Wichtig wäre also etwas ganz Kleines …“

Beat Gloors Aphorismen haben unterschiedliche Qualitäten und sind auch von unterschiedlicher. Wie den meisten Aphoristiker, kommt es auch bei ihm dann und wann zur Plattitüde – erfreulich selten allerdings. Dafür hat er ein breites Repertoire an Ansätzen: hintersinnig, witzig, weise, metaphysisch, trotzig, garstig, kritisch, albern, listig, um nur ein paar Adjektive zu nennen, die man auf einzelne Text von ihm anwenden könnte. Seine Bezüge reichen vom Mythischen über Allgemeinheiten bis zu einem häufigsten Spielfeld, der unmittelbaren Lebenswirklichkeit in der Gegenwart, mit all ihren Schikanen. Nun sind Kommentare zum Zeitgeist immer eine leicht bedenkliche Angelegenheit, gerade in unserer schönen, neuen Internetkommentarfunktionsdebattenkultur. Banken, Kriege, Politik und Kapitalismus – es sind die üblichen Verdächtigen, gegen die Gloor zu Felde zieht, mal brachial, dann wieder mit der innovativen Schläue eines Stanislaw Jerzy Lec (an den mich Gloor eh dann und wann erinnert , was ich als Kompliment verstanden sehen will.)

Diese Spitzen zur gegenwärtigen Lage gehen ihm manchmal etwas zu leicht von der Hand, kommen zu frisch von der Leber weg – hier würde man sich dann und wann etwas mehr Hintersinn und weniger vordergründig platzierte Positionierung wünschen. Wobei es natürlich auch darum geht, dass ein Aphoristiker Position bezieht, seine Sätze sind schließlich Manöver, die Knall auf Fall zu den am schwierigsten zu erreichenden Orten vorstoßen, den Finger mit einer schnellen Geste auf die viel zu wenig besehene Wunde legen und dann auch noch im selben Atemzug diagnostizieren können. Aber gerade weil sie zu so etwas fähig sind, muss der Aphorimsenschreibende aufpassen, nicht in eine mehr oder weniger gierige Dynamik zu geraten, in der ihm etwas als Manöver, als Aufdeckung erscheint, das aber eigentlich schlicht ein Gegensatz ist, dessen Reibungsflächen wenig Funken schlagen. Figure out the difference/ Irony is not coincidence, wie schon Weird Al Yankovic sagte. Zwei Beispiele für das, was ich mit dieser Kritik meine, wären die Aphorismen:

„Wissen lässt Menschen zum Mond fliegen,
Glauben in Hochhäuser.“

„Selbstmord ist ein Ausweg, aber keine Lösung.“

Natürlich ist ein Reiz des Aphorismus auch die Provokation, die Entgleisung. Aber dieses Bedürfnis darf meiner Ansicht nach nicht so weit gehen, jedes Thema als potentielle Grundlage für einen Aphorismus auszuschlachten. Bei manchen Themen lohnt es sich, nicht direkt in den Brennpunkt vorzustoßen, sich hineinzustürzen, sondern vielmehr am Rand etwas anzubringen, was dann jeder liest, der sich auf dem Weg ins Zentrum befindet oder was Leute dazu bringt, vom Zentrum wegzusehen und den Rand ihrer Vorstellungen zu bemerken.

„Effizienzsteigerung – schon das Wort auszusprechen dauert zu lange.“

Schon der Titel des Buches ist das Programm: Hier wird man schnell und geistreich in viele Zusammenhänge eingeweiht. Fast alle Tonlagen, vom Ratschlag bis zur Kampfansage, sind enthalten. Und man kann sein kritisches Bewusstsein durch einige Geistesblitze aufladen.

Eine letzte kleine Rüge habe ich anzubringen, und die geht an den Verlag – es gibt in diesem Buch keine Seitenzahlen! Was mir, der ich mir gern besonders gelungene Stellen notiere (vor allem in einem Aphorismenbuch) ein bisschen unsinnig erscheint, zumal ich keinen Vorteil darin erkennen kann, weder für das Layout, noch für den Inhalt.

Neue Poesiemeditation


Poesie. Meditationen – Folge 15: Was Lyrik kann

Zu Kurt Vonneguts Kurzroman “Slapstick oder Nie wieder einsam”


“Wen immer es angeht: Es ist Frühling, später Nachmittag. In der Vorhalle des Empire State Building brennt ein Feuer in einer Kochstelle auf dem Zementfußboden. Eine Rauchwolke zieht über die Todesinsel, über den Urwald, der einmal die 34. Straße war. Das Pflaster am Grunde des Urwalds gleicht einem Schutthaufen – aufgerissen durch Frostschäden und Wurzeln.
In diesem Urwald gibt es eine kleine Lichtung. Ein blauäugiger, hohlwangiger und weißhaariger Greis – zwei Meter groß und hundert Jahre alt – sitzt in der Lichtung auf einem Ding, das mal der Rücksitz eines Taxis war.
Der Mann bin ich.
Ich heiße Dr. Wilbur Narzisse-11 Swain.”

Wenn es im letzten Jahrhundert nur einen großen schreibenden Zyniker gab, so muss es Kurt Vonnegut gewesen sein; und wenn es im letzten Jahrhundert einen Preis für illustre und ungewöhnliche Utopien gegeben hätte, so hätte ihn Vonnegut mit dem einen oder anderen seiner Roman ebenfalls erlangen können – vor allem mit diesem schmalen Romanstück.

Einem Stück, das seinen zwei Titeln in jeder Hinsicht gerecht wird: es wird viel an slapstickhafter Ideenfülle transportiert, doch unter dem Deckmantel der Groteske und in der Freiheit der Zukunftsvision stellt Vonnegut subtil ein menschliches Dilemma in den Mittelpunkt: die Einsamkeit, das Suchen nach einem ähnlich gestrickten Individuum, einem Verwandten im Geiste, einem Menschen, zu dem man eine besondere Verbindung hat. Am besten wären natürlich viele solcher Menschen.

Dr. Wilbur, früher Präsident der vereinigten Staaten (bevor die Chinesen sich selbst schrumpften, die Schwerkraft zu schwanken begann, der grüne Tod kam und dann auch noch die Geschichte mit dem Mars – ach: lest selbst!) bevor alles den Bach runter ging, blickt auf sein Leben zurück. Eigentlich gibt es herzlich wenig zu beklagen. Zwar ist die Menschheit so gut wie ausgerottet, aber immerhin hat das mit den künstlichen Familien funktioniert, eine Idee, auf die er und seine Schwester gekommen waren, als sie aufgrund ihres monströsen Aussehens versteckt auf ihrem Familienwohnsitz in trauter Zweisamkeit ihr Genie zelebrierten. Danach ging viel schief, den ein Kopf denkt nicht so gut wie zwei von der Sorte …

Wer nun confused ist, den kann man beruhigen: es ist schwer bei Vonnegut nicht immer ein bisschen verwirrt zu sein über die Selbstverständlichkeit, mit der er seine schrägen Zukunftsplots und eigenwilligen Erzähler, die immer eine Art von transformierter Gesellschaftskritik zu verkörpern scheinen, in unser Blickfeld setzt und uns dann dazu bringt, ihren Ausführungen bis zur letzten Seite zu folgen, durch Katastrophen, Irrsinn oder Apokalypsen hindurch bis zu umfassenden und zumeist unfreundlichen Erkenntnissen über die Eigenschaften der menschlichen Rasse – was dann und wann aber auch zu wichtigen Schlüssen führt:

“Ich begriff, dass Nationen ihre Kriege nie als Tragödien anerkennen konnten, aber dass Familien das nicht nur konnten, sondern sogar mussten.”

“Slapstick oder Nie wieder einsam” ist eine Einlage, ein Monolog, eine ins Dystopische abgleitende Meditation über das Gemeinsame und das Einsame, die Genialität und das Empathische und (wie so oft bei Vonnegut) über das Überflüssige und das Notwendige und die Grauzonen und Spielflächen dazwischen, unterstützt von allerlei illustren Episoden, Geschichten, Anekdoten. Ein kurzweiliges Buch von einem großartigen Autor!

Ein Meisterwerk: Orwells Farm der Tiere


Als George Orwell “Animal Farm” schrieb, war es bereits sein vorletztes Buch (sein letztes sollte “1984” werden, kurz darauf starb er). Der Großteil seines Werkes war bereits, nahezu unbemerkt, erschienen, darunter dokumentarische und hellsichtige Werke wie “Mein Katalonien”. Orwell hatte als Obdachloser gelebt, war in Burma stationiert gewesen, hatte im spanischen Bürgerkrieg gekämpft und viele Artikel und Pamphlete verfasst. Überall prangerte er soziale Missstände an und verwies, wo es ging, auf die Leistungen der schwerarbeitenden Klassen der Gesellschaft. Als ein bekennender Sozialist und Humanist interessierte ihn vor allem die existenzielle Dimension des Daseins und er sah im Kapitalismus die große Problematik für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft.

1946 erschien in der vierten Ausgabe der Zeitschrift Gangrel ein kurzer Artikel von ihm, mit dem Titel: “Warum ich schreibe”. (Auch enthalten in der Sammlung “Im Bauch des Wals”). Unter anderem schreibt er dort: “Farm der Tiere war das erste Buch, bei dem ich in vollem Bewusstsein dessen, was ich tat, versuchte, das Politische und das Künstlerische zu einem Ganzen zu verschmelzen.”

Und in der Tat ist Farm der Tiere eines der wenigen gelungen Beispiele für eine Verschmelzung von Kunstwerk und Kritik, von Parabel und Erzählung, von Engagement und Fantasie. Verschmelzung im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier wird subtil und nachvollziehbar, in Etappen und doch im Ganzen, die Korrumpierbarkeit von Macht dargestellt und gleichzeitig ein wunderbares Märchen erzählt, so einfach und phantastisch und brutal, das es wahrhaftig als Chiffre dienen, aber auch als Lehrstück für Kinder gelesen werden kann.

Natürlich weiß nahezu jeder, worum es in Animal Farm geht und was abgebildet werden soll. Aber das kann man ganz beiseitelassen und es dann selbst erfahren, wenn man dieses wunderbare Buch liest. Es ist eine Lektüre, die einer großen Offenbarung gleicht und doch auch ein Genuss ist. Es gibt unvergleichliche und unvergessliche Figuren, es gibt Seitenhiebe und eine Komik, die so stark herauskommt und so tief trifft, dass man sich wundert, über die Kraft der Erzählung, über ihre starke Verbindung zum realen Vorbild.

Fakt ist, dass Animal Farm eines der wenigen vollkommenen Bücher ist, die ich in meinem Leben gelesen habe. Ja, das mag übertrieben klingen, aber ich bin jederzeit bereit, diese Übertreibung zu verteidigen, zu wiederholen. Hier ist eine kleine, aber umfassende, in jeder Faser gelungene Erzählung entstanden, die so viele Sinnbilder enthält, die uns zur Reflektion und zum Nachdenken zwingen und uns gleichsam tiefer in die Geschichte ziehen, beides zu gleichen Teilen. Ein (man kann es wagen, es zu sagen) Meisterwerk. Ein Buch, das jeder einmal gelesen haben sollte.

Poesie.Meditationen


Seit gestern kann man die neuste Kolumne meiner Poesie.Meditationen auf dasgedichtblog.de lesen:

http://www.dasgedichtblog.de/category/kritik/poesie-meditationen/

Diese neuste Kolumbe beschäftigt sich mit Ted Hughes und Sylvia Plath, der Liebe, den Birthday-Letters, Beziehungen u.a.

Auch alle drei alten Kolumnen kann man dort weiterhin lesen.

Zu Borges und den Essays in seinem Sammelband “Inquisitionen”


“Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?”
Samuel Taylor Coleridge

“Zwei Tendenzen”, schrieb Borges im Epilog, “habe ich beim Korrigieren der Druckfahnen in den vermischten Arbeiten dieses Bandes entdeckt.
Zum einen die Tendenz, religiöse und philosophische Ideen wegen ihres ästhetischen Wertes und dessentwegen zu schätzen, was in ihnen an Einzigartigem und Wunderbarem enthalten ist. Zum anderen die Tendenz, anzunehmen (und mich dessen zu vergewissern), dass die Zahl der Fabeln oder der Metaphern, die zu erfinden die Vorstellungskraft der Menschen fähig ist, begrenzt sei, dass aber die zählbaren Erfindungen jedem alles bedeuten können, wie der Apostel Paulus.”

Jorge Luis Borges gehörte zu den seltenen Literaten, die ihr Leben nicht nur dem Schreiben, sondern vor allem dem Lesen gewidmet haben – Faszination war ihm alles und Bescheidenscheit sein höchstes Prinzip in Bezug auf seine eigenen Leistungen – welche allerdings ein paar der wichtigsten Impulse für die Moderne und Postmoderne lieferten, gar nicht zu reden von der Synthese aus Wissen, Philosophie und Phantasie, die seine Texte zu einer zeitlosen, inspirierenden Erfahrung machen. Kaum einer, der seine Erzählungen (Das Aleph, Fiktionen), seine Gedichte (Mond gegenüber; Schatten und Tiger) oder eben seine Essays liest, wird darin nicht einer der schönsten Ausformungen von gesetzter und doch dabei von wundersamen Eingebungen und Ideen angefühlter Erzählkunst und Gelehrtheit begegnen.

Seine zahllosen Lektüren und Interessen erstreckten sich auf nahezu alle Gebiete, von Religion über klassische Literatur, Krimis und phantastischen Erzählungen, nahöstliche, antike und moderne Philosophien, bis hin zu politischen Werken und historischen Momenten, altenglischer Literatur und Sprache und modernen Innovationen wie die von Joyce, Pound oder Valery. Für Borges war der Wert einer Idee wichtig und nicht ob sie sich in irgendeiner Weise instrumentalisieren ließ; Ideen als Spiegel, in denen sich eine bestimmte Ungewissheit oder Gewissheit unseres Lebens mannigfaltig widerspiegelt.

“Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.”

In diesem Buch teilen sich die Literatur, die Philosophie und die Geschichte das Feld. Von einer Notiz zum 23. August 1944 (Befreiung von Paris) und einer daraus folgenden These über das Böse, über Literaten wie Kafka, Coleridge, Wilde, Valéry, Nathaniel Hawthrone (diesen Autor kann ich, dank Borges, nur jedem empfehlen!), bis zum etwas längeren Essays “Widerlegungen der Zeit”, in dem Borges eine persönliche Theorie der Einheitlichkeit der Zeit vorstellt, wird der Leser auf einem Fluß der reinen Faszination mitgetragen. Ich denke man kann beim ersten Mal noch nicht alles fassen, was Borges hier in meist nur 3-5 Seiten langen Texte anschneidet, sicher aber bin, dass jede Leser das Buch mit einer neuen Anregung verlässt und es bestimmt wieder zur Hand nimmt. Denn Borges kann man immer wieder lesen: um sich Dinge ins Gedächtnis zu rufen, um Zusammenhängen und Verbindungen auf die Spur zu kommen, um sich von einer bestimmten Idee zu eigenen Gedanken verführen zu lassen. Jeder, der sich gerne in Gedanken an alles Mögliche, Faszinierende, Metaphysische, Inspirierende verliert, findet in Borges Büchern eine Welt, die wir für ihn geschaffen scheint – eine Welt voller erstaunlicher Bewandtnisse, mit großen Vorkommen einzigartiger Geschichten und Reliquien.

Borges Schriften sind nicht nur eines der großen Geschenke der lateinamerikanischen Literatur, magischrealistisch, allerdings auf andere Weise, sondern auch ein Anstoß selbst zu denken, Gedanken nicht nur zu setzen, sondern sie auszuformen, ihren Inhalt nicht vorauszusetzen, auch mal wider dem bereits Gedachten und Angenommenen zu denken; es steckt viel europäische Gelehrsamkeit in Borges Büchern, aber auch ebenso viel argentinische Selbstbehauptung, eine Art die Dinge in ihrem Status als Wunder anzusehen, in Opposition gegen das allzu Gesicherte, Alltägliche. (Er selbst schrieb lakonisch über die Argentinier: “Der Europäer und der Nordamerikaner sind der Ansicht, dass ein Buch, das irgendeinen Preis erhält, gut sein muss; der Argentinier gibt die Möglichkeit zu, dass es vielleicht nicht schlecht ist, trotz des Preises.”)

“Im Laufe eines Lebens, das weniger dem Leben als dem Lesen gewidmet war, habe ich oft festgestellt, das literarische Absichten und Theorien nichts anderes sind als Reizmittel, und dass das abgeschlossene Werk sie meistens ignoriert und sogar widerlegt. Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sich noch so albern oder irrig, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen.”

Borges lesen, dass ist Träumen, Denken und Lesen zugleich. (“Schopenhauer schrieb bereits, dass unser Leben und unser Träumen Blätter desselben Buches seien und dass sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen, Leben bedeutet, in ihnen wahllos zu blättern aber Träumen sei.”)

Ein Buch zur Selbsterfahrung – Camus “Der Fall”


15 Jahre liegen zwischen “Der Fremde” und “Der Fall”. Camus ist währenddessen lakonischer geworden  (und verbitterter?) – und unerbittlicher.

Als ich “Der Fall” zum ersten Mal las, war es wie ein Schock und eine Offenbarung. Der 120 Seiten lange Monolog griff tief in mich hinein und ließ dort für immer ein neues Gefühl zurück. Und das nicht unbedingt wegen seiner vielschichtigen Gesamtaussage, die (für mich) sehr schwierig im Ganzen zu begreifen ist, sondern wegen der Wahrheiten die auf dem Weg liegen, wie nebenbei verschüttet, die zu einer starken Selbstreflexion zwingen oder einladen (je nach dem) und sich u.a. in wunderbar lakonischen Ereignissen ausdrücken, die Camus in stilitisch-knapper Manier beschreibt.

Inhalt:

Johannes Clamans ist “Bußrichter” in einer kleinen Amsterdamer Kneipe. Was ein Bußrichter ist und die Lebensgeschichte des intelligenten und witzigunruhigsubtilen Anwalts erfahren wir von ihm selbst, als er sich mit einem Gast der Kneipe zu unterhalten beginnt – die raren Antworten des Gegenübers erahnen wir nur aus der Weiterführung Clamans, da sie nicht mit abgedruckt werden.

Wer oder was Clamans ist und was er darstellen soll… – darüber gehen die Meinungen wohl auseinander. Man entwickelt unweigerlich eine Sympathie für die Charme und die (scheinbare) Ehrlichkeit des eloquenten Mannes, doch wer hinter die Fassade des ununterbrochenen Redens sieht, sieht pausenlose Rechtfertigung und (vielleicht) auch Heuchelei.

Ganz gleich ob Camus die Unmöglichkeit des vollkommenen Gutseins darstellt oder ob er mit diesem Buch gegen die Heuchelei und scheinbare Sauberkeit der (nur denkenden, argumentierenden, nicht handelnden) frz. Intellektuellen seiner Zeit wettert – da das Buch keine genaue Auskunft, sondern hauptsächlich sehr viele Betrachtungen, Gedanken und Denkastöße anhand eines “Fall-beispiels” erläutert, gibt es nur eine Möglichkeit, für sich zu dem Ende dieser Beschreibung und zum Ende des Buches zu kommen: Es zu lesen! Es ist eine ungeheuere Selbsterfahrung, die jeder einmal gemacht haben sollte, kryptisch, unwillkürlich und wunderbar eindrücklich in jedem Satz, jeder Szene.

Nur ganz kurz: Notiz zu Kehlmanns “Kaminski”


“Herr Zöllner, dass alles sind doch abgeschlossene Geschichten! In Wirklichkeit gibt es uns nicht mehr. Alter ist etwas Absurdes. Man ist da und auch nicht, wie ein Geist.” (Zitat, S.39)

Trotz dieser Feststellung möchte Sebastian Zöllner, ein ehrgeiziger Journalist, den greisen Maler Kaminski interviewen, für ein Buch, was dann kurz nach seinem (hoffentlich baldigen) Tod erscheinen soll, damit es einschlagen kann in den Fokus des dann aufblitzenden öffentlichen Interesses, um seinen Autor zu einem reichen und berühmten Mann zu machen. Zöllner will alles aufbieten, um auch noch die letzte unveröffentlichte Wahrheit, das letzte Wissen und die letzte wertvolle Erinnerung aus dem alten Maler herauszutricksen – und stößt auf eine Persönlichkeit voller merkwürdiger, martialischer und genialer Züge, die ihm genau diese Informationen verweigert …

Kehlmann hat ein gleichsam interessantes und vor allem völlig in der Harmonie seines Stils auflebendes Buch geschrieben, das durch kleine Wahrheiten, Witz und intellektuellen Reiz zum Lesensvergnügen wird, aber auch durch einen trefflichen Blickwinkel auf den Geist der Zeit besticht. Man durchlebt Verwirrung und Heiterkeit, Orte und Worte werden schnell gewechselt und doch sehr gekonnt; in Gesprächen verspielt, locker und launisch, treibt sich der ganze Text um die Fragen: Wo leben wir hin? Und was bleibt? Ziele?
Wir erbauen uns selbst und doch kann uns alles entgleiten …

Am Ende von Kehlmanns Roman stehen wir verblüfft vor dem Nichts und wundern uns freudig, dass wir etwas erleben durften und von etwas befreit sind – von einer Kleinigkeit vielleicht, die uns nicht mehr gehören kann.

Kurze Gedanken & Ansichten zum “Schloss” von Franz Kafka, zu dem bis heute der Schlüssel fehlt


Man muss Franz Kafka wohl spätestens nach der Lektüre von “Das Schloß” zum größten Realisten seiner und unserer Zeit ernennen und ihm gleichzeitig, im selben Atemzug, jede Realitätsnähe absprechen.

Der Landvermesser K. kommt zu einem Dorf, das zu Füßen eines Schlosses liegt, angeblich ist er dorthin berufen worden. Doch schon kurz nach der Ankunft beginnt K. in einem bürokratischen Netz aus grotesken Vorschriften und völlig unklaren Verhältnissen zu versinken. Bestrebt, mit aller Entschlossenheit seine Existenz zu rechtfertigen, versucht K. im Dorf Verbündete zu finden, stößt aber auch hier nur auf ein wirres Unterworfensein in die Macht des Schlosses, voller ungenauer Handlungen und widersprüchlicher Meinungen. Sein Ziel, der Einlass oder zumindest die Verbindung zum Schloss rückt für ihn in immer weitere Ferne, er ist Achilles, der die Schildkröte tatsächlich nie einholen wird.

Kafka scheint, auf den ersten Blick in seinen Büchern groteske, düstere und doch phantastisch anmutende Welten zu erschaffen, die in ihrer Widersprüchlichkeit und ihren Ausmaßen kaum einen Bezug zur Realität erkennen lassen. Alpträume nannte Borges diese Art der Darstellung und den Schreibstil, die Sprache, die sich durch nichts, außer durch sich selbst beherrschen lässt und sich durch nichts, außer durch sich selbst auszeichnet.
Rüdiger Safranski (und andere) hat dagegen in seinem Buch Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? einige Strukturen und Ideen dargestellt, die Kafka, unter der Oberfläche der Handlung, meisterhaft in seinen Büchern platziert und verwendet hat.
Jedoch, Kafka war und ist, weitab dieser beiden Ideen von der Wirkung und Aufnahme seiner Prosa, ein feinsinniger und tiefblickender Künstler, der die Welt ausgeleuchtet hat und vielleicht nur an der Vermittlung seiner Ideen so allgemeingültig und allegorisch gestaltet hat, dass sie heute sehr vielseitig auslegbar sind.

Nehme man das Schloss zum Beispiel als Symbol für die Wahrheit, zeigt sich wie wahr Kafkas Ansatz ist. Wer hat sich nicht schon mal nach der Wahrheit gesehnt, hat versucht sie zu erreichen und ist doch an der gesammelten Fülle der Informationen und Verstrickungen gescheitert, an dem Für und Wider und hat bemerkt, dass die Wahrheit sich letztlich, auch mit aller Hilfe und mit Wendung an alle bekannten Stellen, nur teilweise festsetzen lässt (wohlgemerkt, ich spreche hier von letzten Wahrheiten, nicht von einfachen, schlichten Tatsachen, obwohl auch die im medialen Zeitalter zunehmend in diese Problematik hineinrutschen).

Auch eine ähnliche, existenzialistische Deutung ist möglich. Hier zeigt sich K., als kluger, sogar sehr intelligenter Redner und Mensch mit guten Ambitionen. Doch das Leben tut sich sinnlos vor ihm auf, überall wo er sich bemüht rechtschaffen, bescheiden und ehrlich zu sein, sich breitschlägt zu argumentieren, wird er abgeblockt und als lächerlich hingestellt, immer wenn er versucht es allen recht zu machen, wird er hier im Stich gelassen und dort schuldlos beschuldigt.

Kafka hat einen ausdruckstarken Ton der deutschen Sprache geprägt und es geschafft in seinen Berichten, durchaus abstrakter und sperrige, aber symbolisch gesehen, realistische und intelligente Systeme der Darstellung zu entwerfen, die, wenn man sie richtig entschlüsselt, ein treffendes Bild des Menschen in einer modernen, völlig unübersichtlichen, bürokratischen Welt zeigen. Und im Prinzip gilt für Kafka: seine Welten sind immer noch unerschlossen: jeder Leser kann darin eintauchen wie in eine Fantasywelt und seine eigenen Ideen zu den Vorkommnissen entwickeln, mit einem Blick auf das eigentlich gänzlich unverstellte in Kafkas Prosa, wo zwar viel verschlüsselt, aber überhaupt nichts verschwiegen wird. Also, frei nach Robert Frost, entdecken Sie lieber Leser, eigene Wege zu Kafka: “Two roads diverged in a wood, and I/ I took the one less traveled by/ And that has made all the difference.”