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Zu Julia Ebners “Wut”
Wir leben einer Zeit der kumulativen Extreme (und des kumulativen Extremismus), einer Zeit also, in der verschiedene (radikalisierte) Ansichten und Krisenfälle sich gegenseitig aufschaukeln und die Fronten verhärten. Das hat viele unterschiedliche Gründe, die in den meisten Fällen ihre Wurzeln in der verschleppten Auseinandersetzung mit (oder der Nichtbeachtung von) den Folgen technologischer und historischer wie geopolitischer Veränderungen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüche haben.
Die Einmischung der USA und ihrer Bündnispartner in das (dadurch fast gänzlich zerstörte) Mächtegleichgewicht im Nahen Osten (bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den Rohstoffen dieser Region) und generell das postkoloniale (aber nicht postkapitalistische und damit nicht wirklich postkoloniale) Chaos, hat in den letzten Jahrzehnten und Jahren zu Dynamiken geführt, die Bürgerkriege, Fluchtbewegungen und zusätzliche Verheerungen zur Folge hatten. Gleichzeitig bröckelte das scheinbar im kalten Krieg errungene „westliche“ Machtmonopol und der Kapitalismus (und mit ihm die Globalisierung) befindet sich wegen seiner neoliberalen Zuspitzungen endgültig in einer schweren Krise, die Mitteleuropäer*innen nur deswegen so wenig zu spüren bekommen und verleugnen können, weil sie im Auge des Sturms sitzen und immer noch glauben, sie könnten agieren, obgleich sie nur noch reagieren.
Aber eigentlich spüren auch wir diese Krise, die eine ökonomische und ökologische Krise ist und eine Herausforderung, der sich die Menschheit längst geschlossen gestellt haben müsste. Was hält sie davon ab? Hauptsächlich der Glaube, man müsste immer noch den Kuchen verteilen, obwohl es längst darum geht, dass vielleicht bald keine Zutaten mehr da sind. Albert Camus unheilvolle Diagnose, dass menschliche Geschichte ein Kampf um Privilegien und nie wirklich die Suche nach einer einheitlichen Vision war und ist, lebt fort.
Als Analystin bei der Londoner Extremismusbekämpfungsorganisation Quiliam, die von ehemaligen Islamisten gegründet wurde, war es mein oberstes Ziel, die Pläne von Terroristen frühzeitig zu durchschauen und zu durchkreuzen. […] In meinen Gesprächen mit Extremisten in rechtsradikalen Foren erkannte ich, dass das Drehbuch der Rechtsextremen dem der Islamisten erstaunlich ähnlich ist. […][…] Die Rhetorik und der modus operandi weisen in mancherlei Hinsicht eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Beide stacheln zum Hass gegen den anderen auf, der angeblich die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert. Beide Seiten fühlen sich in ihrer kollektiven Identität und Würde angegriffen. […] Beiden ging und geht es darum, durch kontrollierte Provokation und strategische Polarisierung das selbstzerstörerische Potenzial der Gesellschaft freizusetzen, sodass sie letztendlich freie Bahn haben, um ihr eigenes radikales Modell zu etablieren. […] Dies macht die beiden Extreme faktisch zu „rhetorischen Verbündeten“.
Einer der Konflikte, der unsere Gesellschaften davon abhält (ja: abhält) sich den drängenden Fragen der Zukunft zu stellen (bspw.: Wie können wir das Ökosystem unseres Planeten retten? Wie unsere Wertvorstellungen ineinander integrieren? Wie die Erzeugnisse unserer Industrien und die Rohstoffe unseres Planeten gleichmäßig und fair verteilen?) ist der Konflikt, der sich vermeintlich an der Zugehörigkeit zu Völkern und Glaubensgemeinschaften entzündet. Längst haben sich diese Zugehörigkeiten durchdrungen (wie es in der Geschichte schon oft vorgekommen ist, ja, zur Normalität gehört), aber es gibt immer noch Menschen, die glauben, sie sauber voneinander trennen zu müssen (und zu können). Menschen, die ein binäres Weltbild pflegen und weiterhin glauben, dass die beiden Position zwangsläufig gegeneinander antreten müssen.
Julia Ebner hat ein Buch über diese Menschen mit extremen Vorstellungen geschrieben. Die darin verfolgte Hauptthese ist, dass zwei der wichtigsten extremistischen Bewegungen unserer Zeit, die islamistische und die rechtsextreme, letztlich zwei Seiten einer Medaille sind, deren Narrative sich in vielen Punkten gleichen und die sich darüber hinaus auch gegenseitig stärken. Sie nehmen die Positionen und Taten des jeweils anderen Extrems als Beispiele, um größere Gruppen oder ganze Gesellschaften zu verdammen und zu stigmatisieren und Anhänger*innen für ihre Weltsicht zu gewinnen. In diesen verzerrten und vereinfachten Ansichten ist bspw. Trump die Personifikation des Westens und die Selbstmordattentäter und fanatischen Gläubigen stellen den durchschnittlichen Muslim dar.
Obwohl es sich vielleicht von selbst versteht, ist es wichtig zu betonen, dass die meisten Muslime keine Islamisten sind und die meisten Islamisten keine Dschihadisten.
Ebner, aus Österreich stammend und in London arbeitend, versucht in „The Rage“ (sie schrieb das Buch auf Englisch) anhand vieler symptomatischer und repräsentativer Schicksale, Begegnungen und Geschichten, die Vorstellungen und Dynamiken innerhalb der rechtsextremistischen und radikalisierten islamistischen Kreise und Netzwerke zu beschreiben; zu zeigen, wie sie ihre Weltbilder in die Ängste der Bevölkerungen integrieren und wie sie diese Aktionen mit Multimedia, popkulturellen Einflüssen und sozialen Netzwerken unterstützen.
Ein wichtiger Punkt, um den sich das Buch dabei durchaus verdient macht, ist das Augenmerk, welches auf die wichtige Stellung des Narrativ gelegt wird, der glaubwürdigen und einfachen Geschichte, die der Kit sind, ohne den extreme Haltungen schnell in sich zusammenfallen würden. Die Welt ist jedem geöffnet und verstellt durch seine/ihre Interpretation der eigenen Erfahrungen und wir sind oft darauf angewiesen, dass uns die Zusammenhänge, die diese Erfahrungen (innerhalb von größeren Strukturen) bedingen, erklärt bzw. erzählt werden.
Der erste Schritt zur Bekämpfung des Extremismus besteht darin, den Geschichten von Extremisten zuzuhören. Natürlich geschieht das am besten innerhalb der jeweiligen Communities – dort, wo die unzensierten Gespräche stattfinden.
So beginnt das Buch auch mit der Schilderung einer Teilnahme an einer Demonstration der EDL (English Defence League) und an einer Diskussionsveranstaltung der Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“) – an ein und demselben Tag. Das erweist sich zum Auftakt als keine schlechte Idee, untermauern die Schilderungen der Veranstaltungen doch zum einen gleich die Grundthese, dass Extremist*innen sich letztlich – abseits dessen, worauf sie sich stützen – in ihren Forderungen und Methoden oft gleichen, während sie auf der anderen Seite, durch die Darstellung des Kontaktes mit Teilnehmer*innen der jeweiligen Veranstaltungen, die menschlichen Profile hinter den Organisationen ins Licht rücken.
Weil Extremismus stets mit der Entmenschlichung anfängt, werde ich mein Möglichstes tun, um nicht in dieselbe Falle zu tappen, und stattdessen bestrebt sein, jede einzelne Person als menschliches Wesen mit guten und schlechten Eigenschaften darzustellen.
Man muss Ebner zu Gute halten, dass sie in diese Falle tatsächlich nicht getappt ist. Ihre Beschreibungen der (vielen, vielen) Personen, die im Buch auftauchen, sind sicherlich manchmal von Erschütterungen durchzogen, aber nie über ein obligatorisches Maß hinaus wertend oder verurteilend.
Überhaupt ist sie bestrebt, die Vorstellungen, die man sich auf beiden Seiten (und in der von den Extremen zunehmend eingenommenen Mitte der Gesellschaft) von den Akteur*innen der rechtsextremen und islamistischen Organisationen macht, etwas aufzubrechen. Nicht, indem sie diese Akteur*innen als missverstanden darstellt oder sie allzu stark als Opfer gesellschaftlicher und sozioökonomischer Missstände inszeniert (obwohl sie dies mitbedenkt und bei passenden Gelegenheiten auch anspricht), sondern schlicht ihre Motive und Aussagen durchleuchtet und so der Irrationalität ihrer Taten und Weltbilder ein Umfeld gibt, was ihre Ansichten zwar nicht unbedingt verständlicher oder zugänglicher macht, aber sie der Vereinfachung entzieht. Viele Täter*innen und Akteur*innen stellt sie als Menschen dar, die aufgrund ihrer Lebensgeschichten Identitätskrisen aufwiesen und sich auch deshalb für radikale Konzepte, die ihnen bei der Festlegung ihrer Identität und Zugehörigkeit halfen und Ziele festlegten, empfänglich zeigten.
Es sollte nicht vernachlässigt werden in den heutigen Diskussionen, dass die Freiheiten, die unsere westlichen Gesellschaften propagieren (auf manchen Ebenen und in manchen Ausprägungen mit einer Vehemenz, die auch schon wieder an Zwang erinnert), offenbar auch eine Belastung für manche Menschen sind, die sich nach einem klaren Selbstbild sehnen und nicht ersehen können, wie sie außerhalb von konkreten, geschlossenen Weltbildern zu einem solchen finden. Das hat natürlich einiges mit dem schnellen Tempo der Veränderungen und auch etwas mit der Wahrung von stürzenden Privilegien zu tun – ich bin kein Freund der Freund*innen von geschlosseneren Weltbildern, ich teile ihre Ängste nicht, aber ich verstehe, woher sie rühren. Sie auszuklammern, das zeigt das Buch, befördert Radikalisierung, weil sie sich als die einzige Alternative präsentieren kann.
Die Tatsache, dass wir unsere Identität nach Belieben formen können, bedeutet auch eine große Belastung: Selbstdefinition kann ein schwieriger Prozess sein, auf den nicht jeder vorbereitet ist.
Auch mit vielen anderen bequemen Vorstellungen räumt Ebner auf und es gibt einige Punkte in ihrem Buch, die sie mit wunderbarer Klarheit und Prägnanz anspricht. Dazu gehört bspw. die Rolle der Medien (und das Verhalten ihrer Konsument*innen) bei der Popularisierung von extremistischen Positionen. Sie nennt das Kind beim Namen: es gibt „unverantwortliche Medien“, die ihren Auftrag der Berichterstattung als Anlass nehmen, um reißerische und stark konnotierte Berichte über Ereignisse und Phänomene zu schreiben/zu senden, bei denen eine differenzierte und längerfristige Berichterstattung wichtig wäre, auch um die Vorurteile und eindimensionalen Vorstellungen von vielen Dingen zu korrigieren. Sie tragen mit, was sie eigentlich aufbrechen und auf verschiedene Gesichtspunkte verteilen sollten.
Aber anscheinend haben manche Medien kein Interesse daran, sich als Gegenbild zum Gerede am Stammtisch, zu Gerüchten und Vereinfachungen zu verstehen, sondern biedern sich immer mehr bei diesen Formen an (was, so meine persönliche Meinung, eine himmelschreiende Dummheit war und ist).
Man kann sich unverantwortliche Medien als Theater vorstellen, das die von Terroristen verfassten Stücke inszeniert und die Eintrittskarten für die Vorstellungen verkauft. Derweil drängt die Öffentlichkeit, die sich das Schauspiel ansieht, Politiker, auf die Bühne zu gehen, um in dem Stück mitzumachen, und zwar nach dem Drehbuch der Terroristen.
Und die Politiker*innen widersetzen sich diesem Trend nur bedingt (und stehen natürlich auch dann und wann vor einem Dilemma). Ebner schreibt:
Sichtbar zu handeln wird wichtiger als effektiv zu handeln.
Und bringt damit auf den Punkt, was derzeit allerorten geschieht, nämlich das Populismus immer mehr dabei ist, zum normalen Politikstil zu werden.
An der Geflüchtetenkrise erhitzen sich derzeit viele Gemüter und obgleich ich schon viele vernünftige Stimmen zu dem Thema gehört habe, überwiegen nach wie vor die irrationalen und stark vereinfachten Perspektiven auf dieses Phänomen. Ebner zeigt wie leicht sich dieses Thema instrumentalisieren ließ, wie einfach es zugelassen wurde. Denn genau das ist geschehen – diese „Krise“ wurde instrumentalisiert, ebenso wie es der islamistische Terror wurde.
Natürlich sind die Verbrechen, die Terroristen in Europa begangen haben, schrecklich, verwerflich, erschütternd. Aber es sind Verbrechen, wie sie jeden Tag auf dem ganzen Globus im Namen vieler Religionen, Ideen und sonstigen Motivationen begangen werden. Jeden Tag missbraucht jemand die Idee der Liebe, der Gerechtigkeit, der Vernunft, etc. um jemand anderem weh und/oder Unrecht zu tun – deswegen werden diese Ideen nicht verdammt. Eine Idee – und auch eine Religion – kann nichts dafür, wenn sie missbraucht wird. Und genau das tun islamistische Selbstmordattentäter – sie rechtfertigen etwas, das sich nicht rechtfertigen lässt, mit einer Religion, deren Schriften Raum für Ausdeutungen lassen und die von vielen anderen, die nach ihnen leben, auf eine ganz andere Weise gedeutet werden. Es gibt nicht den einen Islam. Es sollte außerdem nicht vergessen werden:
Die meisten Terroropfer sind Muslime, und die große Mehrzahl der dschihadistischen Anschläge findet im Nahen Osten und in Afrika statt. Im Jahr 2015 ereigneten sich 75 Prozent der weltweiten Todesfälle durch Terrorismus in Irak, Afghanistan, Nigeria, Syrien und Pakistan.
In Europa werden die geringen Prozente derweil genutzt, um Ressentiments und Vorurteile zu schüren. Es werden gesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt, um Terrorismus zu verhindern. Natürlich müssen wir uns um Sicherheitsmaßnahmen kümmern – aber nicht zu jedem Preis. Denn wir müssen gleichzeitig akzeptieren, dass es keinen letztendlichen Schutz vor Verbrechen gibt. Sie entstehen in den Köpfen von Menschen jeglichen Alters, jeglicher Glaubensrichtung, jeglicher Herkunft – und auf die Köpfe der Menschen hat, zum Glück, niemand Zugriff. Man kann versuchen früh anzusetzen, Gräben und Isolation gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Europa hat schon vorher Migrationsbewegungen erlebt und unsere Gesellschaften können, wenn zusammengearbeitet wird, diese neue Bewegung ebenfalls verkraften und Menschen helfen, die vor Krieg und Mord und Folter geflohen sind. Natürlich werden wir teilen müssen, etwas abgeben müssen von unserem Wohlstand. Aber ganz abgesehen davon, dass wir diesen Wohlstand auch einer jahrhundertelangen Ausbeutung anderer Erdteile verdanken – was ist so schlimm daran, etwas abzugeben, wenn es hilft, wenn es eine konfliktärmere Zukunft hervorbringt? Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir wirklich leben wollen und was das für andere Menschen an anderen Orten bedeutet.
Deswegen sollte beherzigt werden, was Ebner über die Geflüchtetenbewegung kurz und prägnant schreibt, nämlich dass
eigentlich nicht Europa mit einer Flüchtlings- und Migrantenkrise konfrontiert ist. Es sind die Flüchtlinge und Migranten, die mit einer Krise Europas konfrontiert sind.
Diese Krise Europas, die sich auch im Aufkommen von isolationistischen und nationalstaatlichen Ideen zeigt und in extremen Positionen – gerichtet gegen einen Feind, der viel größer gemacht wird als er ist, um dem eigenen Extrem mehr Bedeutung zu verleihen –, wurde nicht herbeigetragen von Menschen aus Syrien und anderen Ländern. Sie fand schon früher statt und tritt nun klar zutage. Und hat ihren Ursprung einfach darin, dass wir (West-)Europäer*innen in den letzten Jahrzehnten so gelebt haben wie wir gelebt haben. Und diese unsere Einstellung muss auf allen Ebenen überdacht werden.
Ebners Buch – obgleich es sein Hauptaugenmerk auf die Ränder der Gesellschaft legt und von dort allerlei Informatives heranträgt – handelt letztlich auch von dieser Krise. Einer Krise, die so groß tobt, obwohl eigentlich nur so wenig toben und viele andere unsicher stillhalten oder mal mittoben oder sich abwenden.
Und in dieser Hinsicht ist es, trotz einiger Mängel, ein wichtiges Buch. Es will viel, es reißt viel an und es tauchen jede Menge Personen auf, die allzu schnell wieder verschwinden. Es will zu viel. Aber es scheitert dennoch nicht, denn in diesem “zu viel” geschehen immerhin allerlei Durchbrüche, die allerhand Proben liefern, von Verhältnissen, die uns umgeben und, obgleich sie extrem sind, längst die gemäßigte Sicht in einigen Punkten mehr und mehr beeinflussen, für sich gewinnen.
Es ist dieses Buch letztendlich ein Aufruf, ein Aufruf zum Dialog, der allein das Abdriften in die Extreme – die es immer geben wird, denen man aber nicht den Diskurs überlassen darf – verhindern kann. Am Ende schreibt Ebner:
Verschließen wir niemandem die Tür; bleiben wir stattdessen offen für Dialog und Debatte mit allen. Was die Humanisten und die Antihumanisten unterscheidet, ist, dass Ersterer jedem – auch der Person, die er oder sie am meisten hasst – eine zweite Chance geben würde.
Über zweite Chancen, über Utopisches und das Wagen muss nachgedacht, geredet werden. Und es müssen Narrative entwickelt werden, die sich um das Gemeinsame und Verbindende bemühen – den Geschichten erschaffen Vorstellungen, bedingen Handlungen. Das zeigt Ebners Buch überdeutlich und dies ist, wie bereits gesagt, wohl der wichtigste Verdienst dieser Schrift. Sie wendet sich gegen Ungenauigkeit und Unverhältnismäßigkeit und damit gegen zwei Phänomene, die in der Zeit von Fake-News, Kommentarspaltenhetze und Millionen von Pseudoexpert*innen, unsere schlimmsten Alpträume geworden sind. Wie sagte schon George Orwell:
Ungenaue Sprache hindert uns daran, klar zu denken, und veranlasst uns, törichte Gedanken zu reproduzieren.
Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”
Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.
Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.
Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.
Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.
Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.
Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.
Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.
Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.
Zu der George Lucas Biographie von Brian Jay Jones
Das war 1975. Und niemand, auch nicht Lucas, war klar, dass er mit den Sequel- und Merchandising-Rechten gerade eine Milliarden-Dollar-Klausel ausgehandelt hatte.
Das war am Anfang. Also nicht ganz am Anfang. Ganz am Anfang steht in jeder Biografie die Geburt, das Aufwachsen, die Begegnung mit den Faszinationen, die später, tranformiert, das Werk prägen werden.
Es ist eine schwierige Gratwanderung, eine George Lucas-Biographie zu schreiben. Denn sein Name ist so sehr Synonym für Star Wars (oder vielleicht Indiana Jones oder meinetwegen auch visionäre Sound- und Animationstechnik), dass ein Biograph einerseits Gefahr laufen könnte, zu viel Gewicht auf die Geschichte dieser Werke zu verwenden, in Ausmaßen, die mit Lucas Leben und Schaffen nicht mehr direkt etwas zu tun haben oder es überschatten und andererseits besteht das Risiko, dass eine George Lucas-Biographie die Fans enttäuscht, wenn sie den mit seinem Namen fest verknüpften Werken zu wenig Platz einräumt.
Bedenkt man diese Voraussetzungen, so erkennt man schnell, dass Brian Jay Jones eine gute Balance geglückt ist: Das Buch ist eine Biographie der Persönlichkeit von Lucas und keine Biographie von Krieg der Sterne oder einem anderen Projekt. Auch wer ein Buch sucht, in dem das Verhältnis zwischen Lucas und der Inspiration zu seinen Filmen komplexer beleuchtet wird, wird hier nur bedingt fündig werden (und ich würde ihn oder sie eher an “Star Wars, Magie und Mythos” oder direkt an eine von Lucas Inspirationsquellen “Der Heros in tausend Gestalten” verweisen).
Zwar nennt Jones gewissenhaft die frühen und späten Inspirationsquellen und gibt immer wieder Abrisse über Hintergründe, Lektüren, frühere Stadien, aber derlei wird eher kurz am Wegrand aufgetürmt und selten vertieft.
Überhaupt legt Jones Biographie zumeist ein straffes Tempo vor, schafft es so allerdings, das Hin und Her von Lucas jahrzehntelangem Kampf für ein eigenes, unabhängiges Studiogelände, seine Vision von Kino, die Perfektionierung seiner Werke zu verkörpern. Auf diesem Wege gelingt dem Buch auch das Einfangen von Lucas zurückhaltendem, teilweise sehr eigenbrötlerischem Charakter.
Etwas überstrapaziert wird die Einbindung von Wortmeldungen von Weggefährt*innen, Freund*innen und sonstigen Beteiligten (über das ganze Buch verteilt gibt es über 1500 Quellenhinweiszeichen, die zu einem umfangreichen Register gehören und fast alle auf wörtliche Aussagen in Interviews, Dokumenten, Biographien, etc. verweisen). Natürlich ist das Zusammentragen einer so umfangreichen Meinungssammlung verdienstvoll und in den vielen Zitaten spiegelt sich das Bild von George Lucas in all der Vielschichtigkeit wieder, die eine Biographie bei einem Menschen herausarbeiten sollte. An einigen Stellen ist die Redundanzdichte aber wirklich zu hoch.
Der Biographie geht es auch weniger um Lucas Faszination, mehr um die enormen Widerstände, technischen Hindernisse, zwischenmenschlichen Probleme und Schwächen, die in Lucas Person und Werkgeschichte eine zentrale Rolle spielen; sie werden geradezu minuziös ausgebreitet. Mitunter hat man das Gefühl, Jones hat an sich selbst den Anspruch gestellt, eine dezidiert kritische Arbeit vorzulegen. Auch wenn er Lucas Verdienste und Erfolge betont und illuminiert, lässt er keine Gelegenheit aus, um auf Niederlagen, Fehler oder die Schrulligkeit des Portraitierten einzugehen.
Das ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, das Lucas, obwohl er der Schöpfer von Star Wars und Indiana Jones ist, kein wirklich aufregendes Leben hatte und die Dramatik aus dem geschaffen werden muss, was da ist. In relativem Wohlstand geboren und nie vor wirklich existenzbedrohende Entscheidungen gestellt (auch wenn er manchmal enorme Risiken einging, von sich aus), nie auf der Suche nach allzu großen Abenteuern, ist Lucas Leben die Geschichte eines mutigen, aber doch nicht tollkühnen, Visionärs, der durch Glück und Hartnäckigkeit zum Schaffer einiger popkulturell sehr bedeutsamer Ideen und Figuren wurde.
Alles in allem ist die Biographie ein schöner Schmöker. Ich hatte mir schon erhofft, gerade im letzten Kapitel ein wenig über Lucas Treatments für die neueren Filme zu erfahren (auf die Disney ja dann nicht zurückgriff) oder über seine Einstellung zum EU und dem Star Wars Franchise. Doch gerade in den letzten Kapiteln geht es vor allem um die Skywalker-Ranch und die Formalitäten beim Verkauf an Disney und Lucas neuste Projekte, seine derzeitige Lebenssituation.
Doch, und das ist schon wichtig zu betonen: Jones ist hier ein sehr authentisches Porträt gelungen – was man schon daran sieht, dass es eben nicht in jedem Moment vor Spannung sprüht. Gewissenhaft geht er vor, im richtigen Moment mit Witz, Anekdoten oder Differenzierungen punktend. Alles in allem also: der geballte George Lucas, unverstellt, ein ungeschönter Gesamteindruck.
Zu den Aphorismen, Zynismen und Sentenzen von Nicolá Gómez Dávila
besprochen beim Signaturen-Magazin.de
Neues Interview mit Jakob Kraner
auf fixpoetry
Zu Julian Barnes Roman “Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln”
Geschichten von der Sintflut finden sich nicht nur in der biblischen Mythologie, sondern tauchen auch in einigen anderen Kultur und Religionskreisen auf: Im babylonisch-akkadisch-sumerischen Gilgamesch-Epos etwa ist schon um 2500 v.Chr. von einer Zeit nach “der großen Flut” die Rede. Atlantis wurde überschwemmt, vermutlich als Strafe der Götter, aber auch im Koran und im Atraasis-Epos wird die große Flut erwähnt.
Ebenfalls nicht einzigartig in der christlich-biblischen Mythologie ist die Arche, ein Schiff, auf dem ausgewählte Arten und gottesfürchtige Menschen der Katastrophe entgehen können, um später die Welt neu zu bevölkern. Viele (satirische) Spekulationen haben sich an dem Stück biblischer Erzählkunst bereits versucht (Wie brachte Noah die Eintagsfliege durch?), die Erzählung ergänzt, vertieft oder weitergesponnen. Das Symbol, die Idee der Arche (Roland Emmerich griff sie z.B. in seinem Film 2012 wieder auf) lässt sich gut einspannen, varieren, verfremden und instrumentalisieren.
Julian Barnes hat in seinem Roman “Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln” den Mythos der Arche mit einigen historischen und fiktiven Gegebenheiten verknüpft, die Geschichte transformiert und außerdem ebenso aufgeladene metaphysische Themen wie Vorsehung, Schicksal und Ewigkeit eingewoben (nebst einem fast völlig vom Kurs abkommenden Zwischenstück über die Liebe). In 10 oftmals sehr unterschiedlichen, dann wieder sehr ähnlichen Ansätzen, begegnet der Leser Terroristen, mittelalterlichen Gerichtsverfahren, Film Drehs, Gemäldeinterpretationen, Lebensgeschichten und verkapselten Ich-Erzählern. Irrsinn spielt dabei eine immer wieder aufkommende und ambivalente Rolle, wird zu einer kontinuierlichen Untiefe in den meisten Geschichten (wozu auch die leichte Irritation, die durch die Variation und die verschiedenen Zugänge zum Archemythos entsteht, beiträgt).
Mit einer mal philosophischen, dann wieder erzählerischen Routine bewegt sich Barnes durch seine aneinandergeschweißten Abschnitte, bei denen man bis zur letzten Seite und darüber hinaus nicht weiß, welchen roten Faden-Stromstoß sie alle leiten, welchen Kreis sie schließen sollen. Der gemeinsame Nenner ist weder die Arche, noch der Glaube, was beides immer wieder in der Hand der Seiten und Worte gewogen wird. Ist es letztendlich der Lebensentwurf, die Metaphysik des Daseins, was Barnes ins Auge fasst, unscharf und verwinkelt? Die Antwort entspränge einem Klicken, das vielleicht ertönen würde, wenn man die Gedanken an Barnes viele “Ausflüge in Allesmögliche” in diesem Buch wie einen Schlüssel lange genug in seinem Gehirn drehen würde.
Es gibt für jeden Leser sicherlich interessantere und langweiligere Kapitel, doch das ganze Buch ist in seinem Aufbau schon sehr reizvoll komponiert und geistreich inszeniert. Es ist in hohem Maße ein Buch, auf das man sich einlassen, dass man bei jedem neuen Kapitel auf sich wirken lassen muss. Mal muss man eher auf Komik, mal eher auf Ernst gefasst sein und doch eine gewisse Doppelbödigkeit anlegen. Barnes benutzt einige vielschichtige Symbole, um sie in noch vielschichtigere Geschichten zu weben, bei denen man zuletzt nicht weiß ob sie mehr aus Symbolen oder aus ihrer eigenen Narration bestehen. In jedem Fall formen sie ein lesenswertes, vielgestaltiges Buch – ein Ganzes, das in Teilen durch Teile von Teilen besticht.
Zu Borges und den Essays in seinem Sammelband “Inquisitionen”
“Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?”
Samuel Taylor Coleridge
“Zwei Tendenzen”, schrieb Borges im Epilog, “habe ich beim Korrigieren der Druckfahnen in den vermischten Arbeiten dieses Bandes entdeckt.
Zum einen die Tendenz, religiöse und philosophische Ideen wegen ihres ästhetischen Wertes und dessentwegen zu schätzen, was in ihnen an Einzigartigem und Wunderbarem enthalten ist. Zum anderen die Tendenz, anzunehmen (und mich dessen zu vergewissern), dass die Zahl der Fabeln oder der Metaphern, die zu erfinden die Vorstellungskraft der Menschen fähig ist, begrenzt sei, dass aber die zählbaren Erfindungen jedem alles bedeuten können, wie der Apostel Paulus.”
Jorge Luis Borges gehörte zu den seltenen Literaten, die ihr Leben nicht nur dem Schreiben, sondern vor allem dem Lesen gewidmet haben – Faszination war ihm alles und Bescheidenscheit sein höchstes Prinzip in Bezug auf seine eigenen Leistungen – welche allerdings ein paar der wichtigsten Impulse für die Moderne und Postmoderne lieferten, gar nicht zu reden von der Synthese aus Wissen, Philosophie und Phantasie, die seine Texte zu einer zeitlosen, inspirierenden Erfahrung machen. Kaum einer, der seine Erzählungen (Das Aleph, Fiktionen), seine Gedichte (Mond gegenüber; Schatten und Tiger) oder eben seine Essays liest, wird darin nicht einer der schönsten Ausformungen von gesetzter und doch dabei von wundersamen Eingebungen und Ideen angefühlter Erzählkunst und Gelehrtheit begegnen.
Seine zahllosen Lektüren und Interessen erstreckten sich auf nahezu alle Gebiete, von Religion über klassische Literatur, Krimis und phantastischen Erzählungen, nahöstliche, antike und moderne Philosophien, bis hin zu politischen Werken und historischen Momenten, altenglischer Literatur und Sprache und modernen Innovationen wie die von Joyce, Pound oder Valery. Für Borges war der Wert einer Idee wichtig und nicht ob sie sich in irgendeiner Weise instrumentalisieren ließ; Ideen als Spiegel, in denen sich eine bestimmte Ungewissheit oder Gewissheit unseres Lebens mannigfaltig widerspiegelt.
“Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.”
In diesem Buch teilen sich die Literatur, die Philosophie und die Geschichte das Feld. Von einer Notiz zum 23. August 1944 (Befreiung von Paris) und einer daraus folgenden These über das Böse, über Literaten wie Kafka, Coleridge, Wilde, Valéry, Nathaniel Hawthrone (diesen Autor kann ich, dank Borges, nur jedem empfehlen!), bis zum etwas längeren Essays “Widerlegungen der Zeit”, in dem Borges eine persönliche Theorie der Einheitlichkeit der Zeit vorstellt, wird der Leser auf einem Fluß der reinen Faszination mitgetragen. Ich denke man kann beim ersten Mal noch nicht alles fassen, was Borges hier in meist nur 3-5 Seiten langen Texte anschneidet, sicher aber bin, dass jede Leser das Buch mit einer neuen Anregung verlässt und es bestimmt wieder zur Hand nimmt. Denn Borges kann man immer wieder lesen: um sich Dinge ins Gedächtnis zu rufen, um Zusammenhängen und Verbindungen auf die Spur zu kommen, um sich von einer bestimmten Idee zu eigenen Gedanken verführen zu lassen. Jeder, der sich gerne in Gedanken an alles Mögliche, Faszinierende, Metaphysische, Inspirierende verliert, findet in Borges Büchern eine Welt, die wir für ihn geschaffen scheint – eine Welt voller erstaunlicher Bewandtnisse, mit großen Vorkommen einzigartiger Geschichten und Reliquien.
Borges Schriften sind nicht nur eines der großen Geschenke der lateinamerikanischen Literatur, magischrealistisch, allerdings auf andere Weise, sondern auch ein Anstoß selbst zu denken, Gedanken nicht nur zu setzen, sondern sie auszuformen, ihren Inhalt nicht vorauszusetzen, auch mal wider dem bereits Gedachten und Angenommenen zu denken; es steckt viel europäische Gelehrsamkeit in Borges Büchern, aber auch ebenso viel argentinische Selbstbehauptung, eine Art die Dinge in ihrem Status als Wunder anzusehen, in Opposition gegen das allzu Gesicherte, Alltägliche. (Er selbst schrieb lakonisch über die Argentinier: “Der Europäer und der Nordamerikaner sind der Ansicht, dass ein Buch, das irgendeinen Preis erhält, gut sein muss; der Argentinier gibt die Möglichkeit zu, dass es vielleicht nicht schlecht ist, trotz des Preises.”)
“Im Laufe eines Lebens, das weniger dem Leben als dem Lesen gewidmet war, habe ich oft festgestellt, das literarische Absichten und Theorien nichts anderes sind als Reizmittel, und dass das abgeschlossene Werk sie meistens ignoriert und sogar widerlegt. Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sich noch so albern oder irrig, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen.”
Borges lesen, dass ist Träumen, Denken und Lesen zugleich. (“Schopenhauer schrieb bereits, dass unser Leben und unser Träumen Blätter desselben Buches seien und dass sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen, Leben bedeutet, in ihnen wahllos zu blättern aber Träumen sei.”)
“the ivory perfoming rose of you”. Mit erotischen Gedichten von E.E. Cummings auf allen Sinnen ins Spiel der Sinne
“press easily (drück leicht)
at first, it will be leaves (am anfang ist da laub)
and a little harder (und etwas fester dann)
for roses (für Rosen)
only a little harder (nur etwas fester)
last we (am ende wir)
on the groaning flame of neat huge (auf der stöhnenden flamme niedlichen gewaltigen)
truding kiss (trägen kusses)”
Den meisten dürfte der amerikanische Dichter E. E. Cummings (wenn überhaupt) aufgrund einer einzigen Zeile bekannt sein: “nobody, not even the rain, has such small hands”. Das 8zeilige Gedicht mit dieser Schlusszeile kommt nämlich in Woody Allens Film “Hannah und ihre Schwestern” vor, was für mich den Film zeitlebens mit diesem Dichter verbinden wird und mir des Weiteren die Entdeckung eines der schönsten Poeten englischer Sprache bescherrt hat.
Denn ebenso wie den Übersetzer dieses Buches, hatte auch mich diese Zeile damals so verzaubert und ich tat viel dafür, einige Gedichte von Cummings in Anthologien aufzutreiben oder direkt auf Englisch zu lesen – das scheiterte schnell an meinem damals begrenzten Wortschatz, aber ich nahm mir vor mich irgendwann einmal genau mit ihm auseinanderzusetzen.
Bis heute ist die Lyrik des Amerikaners, vielleicht wegen ihrer experimentell anmutenden Ansätze, für Übersetzer und unbedarfte Leser eine Herausforderung. Viele seiner Gedichte leben von Stimmungen und Bildern, die das Englische wie von Zauberhand, häufig allein aus Betonungen, Leerstellen & Pausen und sehr speziellen Adjektivketten und – verbindungen, beschwört – der Dichter Louis MacNeice schrieb einmal, Cummings habe “die englische Sprache an ihren Fingerspitzen magisch gemacht”. So könnte man es ausdrücken. Dies gilt speziell für seine erotischen Gedichte, die hier, in diesem Band der C.H. Beck Textura, aus den verschiedenen Epochen seines Gesamtwerks zusammengetragen wurden.
“your smiles accuse (deine lächeleien klagen)
the dusk with an untimid svelte subdued (die dämmerung an mit unzaghaftem anmutigem gedämpftem)
magic (zauber)
while in your eyes there lives (während in deinen augen ein)
a green egyptian noise. (grüner ägyptischer lärm lebt.)”
Cummings war immer ein leicht erotischer, oder vielleicht besser: sinnlicher Dichter, da seine Gedichte oft alle Sinnesorgan ansprechen. Als drücke man die Worte hinein in die Welt und sie nehmen sofort alles auf: Eindrücke, Gedanken, Berührungen, Gerüche, Bilder, Namen, Farben.
Es ist ein Balanceakt, sich dem völlig hinzugeben, darin einzutauchen und einen eigenen roten Faden zu finden. Man sollte nicht denken, dass diese Poesie in irgendeiner Form “kompliziert” ist, überhaupt nicht – Cummings gehört wahrscheinlich sogar zu den unprätentiösesten Dichtern aller Zeiten. Aber er ist vielschichtig, facettenreich und manchmal verschlüsselt er seine Ideen bis sie so dicht werden, dass man nicht mehr weiß, was Metapher ist, was Anspielung, was Bild, was Ahnung, was Ausdruck, was Eindruck.
Facettenreich ist auch die Palette an Themen, um die sich seine erotischen Gedichte drehen. Da sind die ganz persönlichen Erlebnisse, da sind die poetisch-sinnlichen Verschleierungen, die Liebkosungen, die Resignation des erotischen Alltags, Nutten, Stripperinnen, feine Damen und alberne Mädchen, Erlebnisse und Fantasien. So können Ton und Ausdruck dieser Lyrik eine efeuartige Glückseligkeit und frühlingshafte Lebendigkeit einfangen, voller erster Liebe und Verlangen:
“du batest mich zu kommen: es regnete ein wenig,
und der frühling; eine tolpatschige helligkeit der luft
stolperte wunderbar über den platz,
kleine verliebt-kaulquappige leute zappelten […]
blätter rüttelten
zum schüttelnden duft des neuen
– und dann. // Meine verückten Finger mochten dein Kleid
…. dein kuss, dein kuss war eine klare zerbrechliche
blume”
oder auch die lieblose Vereinigung und die burleske Seite des Eros:
“die schmutzigen farben ihres kusses haben eben
abgedrosselt
mein sehnendes blut, ihr herzgeplapper
hat einen weinenden wolkenkratzer vernietet
in mir.”
Bei all dem kann es mit wortloser Zärtlichkeit zugehen oder mit überschäumender Lust an Sprache und sprachlichen Zuspitzungen; Präzision kommt unter der Hand ins Spiel, denn es gefällt cummings meist, nicht von Lust oder Begierde zu reden, sondern der Faszination nachzugehen, die in diesen Gefühlen liegt – eine Art, das Erotische eher in seiner Beispiellosigkeit als in seiner Blöße zu beschreiben; trotzdem können die Gedichte auf Umwegen auch einigermaßen deutlich werden, ohne einen Funken Rohheit, eher mit einem Funken Gänsehaut:
“there is between my big legs a crisp city. (es liegt zwischen meinen großen beinen eine feste stadt)
when you touch me (wenn du mich berührst)
it is spring in the city; the streets beautifully writhe, (ist frühling in der stadt; die straßen winden sich wunderschön;)
it is for you; do not frighten them (es ist für dich; ängstige sie nicht)
all the house terribly tighten (all die häuser straffen schrecklich sich)
upon your coming: (bei deinem kommen)
and they are glad (und sie sind froh)
as you fill the streets of my city with children. (wenn du die straßen meiner stadt mit kindern füllst.)”
Zur Übersetzung:
Ich habe bei den Beispielen meist die deutsche Übersetzung dazugeschrieben, da ich finde, dass Ich hier keine Meinung über die Übersetzung vorfertigen sollte – jeder sollte zuerst die Chance haben sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, um sie dann mit meinen Ansichten zu vergleichen …
Ich persönlich finde, dass die Übersetzung sehr ambivalent und zwiespältig zu betrachten ist, im höchsten Maße geradezu. Man spürt oft die Intention des Übersetzers, ganz nah, also wörtlich, bei Cummings zu bleiben und hier und da merkt man dann wiederum, dass die Übersetzung gerade dann glückt (und der Übersetzter das wohl auch wusste), wenn er sich eine kleine Freiheit erlaubt, die letztendlich gar keine echte Freiheit ist, sondern eine perfekte Übersetzung, die die Stärken der deutschen Sprache ausspielt, wo Cummings es im Englischen tat. Um das einmal zu illustrieren:
“how beautifully swims (wie wunderschön schwimmt)
the fooling world in my huge blood, (die flausenwelt in meinem riesigen blut,)
cracking brains (und knackt hirne) ”
Flausenwelt ist hier eine etwas freie, aber geniale Übersetzung, die den Charakter der Zeile einfängt – dagegen ist riesig für das Blut hier etwas kar, zu nah, zu einfach aus der Wörterbuchdefiniton von “huge” hergeleitet. Es ist auch gewiss keine “schlechte” Übersetzung, keinewegs. Aber schließlich muss man einmal ganz klar sagen: Wenn man will, dass die Magie eines Gedichts erhalten bleibt, muss man nicht nach dem Motto “was soll das Wort bedeuten” übersetzen, sondern nach der Frage “was will der Autor sagen und wie kann ich es in meiner Sprache sagen ohne vom Text abzufallen”. Vielleicht ist riesig sogar die beste Kompromisslösung – Es gibt einfach im Deutschen wenig Worte die von Größe sprechen und doch zärtlich sein können wie “huge”, unsere klingen mit “gigantisch” oder “gewaltig” oder “riesig” immer nach “zu hoch hinaus”. Trotzdem fällt es deutlich ab.
Die Zärtlichkeit und Ungebremstheit der Worte, in denen Taten, Haltung und Sinne verschwimmen, ist das, was einen in diesem Band erwartet. Manche Momente darin gehen eher in Richtung “sensation”, manche in Richtung “love”. Und die Bezeichnung “erotisch” kann man bei dem ein- oder anderen Gedicht ruhig wörtlich nehmen; bei anderen ist es nur der Kern und nicht der Rezeptor, nicht der Inhalt. Da geht es dann meist eher um die Liebe und die Anziehung und was sie mit Erotik zu tun hat – etwas, das man bei Cummings gut lernen kann.
“Do you believe in always, the wind
said to the rain
I am too busy with
my flowers to believe, the rain answered”
Silke Scheuermanns Lyrik, 2001-2008, in “Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen”
Ich finde, dass Silke Scheuermann eine der bedeutendsten Lyrikerinnen deutscher Sprache ist – doch zu erklären aus welcher Gewissheit diese Empfindung entspringt, fällt mir schwer. Vermutlich, weil ihre Gedichte so wunderbar zu wirken verstehen, ohne dabei für Erklärungen verfügbar zu sein; es gibt kaum Ansätze in diesen Texten, es gibt bloß die Gedichte, die für sich selber stehen. Scheuermanns Lyrik ist etwas besonderes und sehr lesenswert. Eine Lyrik, die mir sehr am Herzen liegt.
“Du stehst in einem Winter aus sehr kleinen Stimmen
die sagen da ist kein Begehren mehr
nicht mehr
obwohl wir jetzt die Zeit dazu hätten.”
Eine der einfachsten Assoziationen zu Lyrik ist die von Licht, das nicht auf, sondern in dich scheint, das wahrhaftig die Armaturen deiner Gefühle, die Gewölbe deiner Seele auszuleuchten versteht und eine bisher ausgelassene Sicht auf die Wirklicht andeuten kann, wie ein Streif Mondlicht, der durch den engen Spalt eines verdunkelten Fensters fällt.
Dieses verdunkelte Fenster ist die Sprache: Als Fenster gebaut, zur Kommunikation gedacht, ist sie gerade im Gedicht oftmals ein Ort des Zwielichts. Dass jedoch das Licht draußen nicht nur da ist, sondern dass wir es auch sehen können, ohne das Zimmer zu verlassen, ist der Glaube hinter beinahe jedem Gedicht.
“Obwohl unsere Städte ständig versuchen
uns den Himmel vertrauter zu machen
indem sie Aussichtspunkte
Balkone Terrassen bereitstellen
Obwohl sie behaupten man sehe von oben
den womöglich zärtlichsten
Punkt im All
[…]
hören wir manchmal das Flüstern der Dörfer
und manchmal glauben wir etwas davon.”
Sprache als das zu begreifen (und zu erfassen), was Wirkliches, Erfahrenes, Erinnertes aus einem neuen Impuls heraus abbildet und erweitert, gehört zu den Dingen, die man lernen muss, wenn anfängt Gedichte zu lesen. Ich bin der Meinung, dass es sich sehr schnell ergibt, doch kann oft schon das bloße Überfliegen eines lyrischen Textes einem den Mut nehmen, wenn man versinkt in den mannigfaltigen Ansätzen zeitgenössischer Lyrik, aufeinander aufbauenden Kombinationen von Elementen, die ein Thema über eine bestimmte Form von fremdem, hermetischen Ausdruck zu erreichen versuchen.
Gedichte werden ja zumeist wegen den Momenten geschätzt in denen sie in der Erlangung von flüchtiger Schönheit oder Erkenntnis brillieren – doch der Sinn mancher Gedicht hat mehr mit dem Erreichen eines breiteren Zustands zu tun, einem fremden Seinskonsens, buchstabiert oder zusammengebaut aus sprachlichen Ausläufern; ein Moment, eine Regung, die vom Kern bis zur letzten, ausgleitenden Welle abgebildet wird, bis hinab zur Konsequenz, gedanklich und sprachlich. In diesen Gedichten wird nicht Verständnis zelebriert, sondern ein Treffen von Sprache und Ideen, bei dem das Augenmerk auf der Dehnungsabstraktion der Sprache liegt, um die Ideen möglichst komplex fächern und abbilden zu können und nicht nur zu komprimieren; als würde ein Maler nicht wissen, was am Ende auf der Leinwand ist, sondern Stück für Stück malen, was noch fehlt, was noch zu ergänzen ist – weil eben die Aspekte ungeheuer wichtig sind und nicht allein das Abbilden eines bestimmten Gefühls. Die Aspekte sind es, die Lyrik so bemerkenswert machen.
“uns dran erinnern dass wir Helden sind
das heißt bewohnt von vielen Wunden”
Zärtlichkeit. Sie fällt mir immer, beinahe unbedacht ein, wenn ich an Scheuermanns Gedichte denke. Es ist nicht die Zärtlichkeit der rosaroten Liebe, nicht die Zärtlichkeit des Windes, auch wenn dies beides unter ihren Zeilen schlummert, versteckt im Verlassenen ihrer Landschaft.
Die Gedichte haben eher etwas von der Zärtlichkeit jener Momente, in denen wir versagen und das Versagen in diesem Moment akzeptieren können (dies soll in keiner Weise eine Relation zu den thematischen Gründen von Scheuermanns Gedichten herstellen; es geht dabei nur um die Stimmung, die Abwärme in der Art der Sprache). Eine Zärtlichkeit, beinahe ohne Stimme, aber unglaublich heilsam, in ihrer unaufgeregten, vielfältigen Kommunikation.
Neben dieser Zärtlichkeit steht die (vor allem in den Gedichten des ersten Bandes Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen vorherrschende) Kraft der Bilderwelten im Zentrum. Eine Kraft, die man auf den ersten Blick eine enigmatische Distanz nennen würde, als hätte jemand einige persönliche Geschichten geschrieben und sie dann mit verschiedenen Metaphern-Code-Schlüsseln chiffriert.
Aber da irrt, wer hier bereits in seinem Kopf die “Print”-Taste zum Drucken eines Urteils drückt. Denn wirft man einen zweiten Blick in diese Sprache hinein, lässt den Ereignissen und Ausdrücken Zeit, zusammenzukommen, nimmt man bald die Gedichte nicht mehr als sprachliche Kohorten wahr, die einfach über die Seiten marschieren, sondern als einen ganz eigene Art des Urbarmachens, eine Art sich einen sprachlichen Weg entlang einer abgelegenen Route zu suchen, wo die Realität einer Empfindung nicht bloß in etwas Erhebendes eingeschlagen wird, sondern wo sie sich wahrhaft ausleben kann, interstellar, mythologisch, abstrakt, wahrgenommen als ein Notenblatt voller Begriffe, eine Melodie, die wir lernen können zu spielen.
“Mit allem, was vom Indikativ in den Konjunktiv wechselt, legt die Nacht sich auf den Tag und kettet seine Hände oben ans Bett.”
Sicher ist, dass die Gedichte von Silke Scheuermann in keinem der hier eingefügten Zitate oder Anleitungen meinerseits wirklich einen Ansatz ihrer Poesie finden würden, oder dieser Hinweise bedürften, um sich beim Leser zu entfalten. Da ihre Kosmologie bar jeder Illusion ist und sie dennoch nie den Traumhänden des Wortes Lyrik zu entgleiten scheinen und weil ihr Abstand zum Leser stets groß ist und doch dieser Abstand auf beeindruckende Weise immer wieder plötzlich überwunden wird, ist es schwer eine Definition dieser Poesie auch nur in Betracht zu ziehen.
Sie lebt, wie im Nachwort richtig angesprochen wird, viel aus den Metaphoriken, die in jedem Gedicht einen neuen Fixstern haben, aber wenn man hinter diese Strömungen gelangt, lässt sie diese Spielchen weit hinter sich und man erkennt ihr sehr aufrichtigere Stimme, die nicht in Rätseln, sondern eben in Ausdrücken spricht, die wir zunächst für Rätsel halten, die uns aber ein höheres Verständnis geben wollen und nicht ein solches voraussetzen – ein besonderes Geschenk der Lyrik, das kaum einer so aufgefächert beherrscht wie Silke Scheuermann.
“Als hätten wir ewig die Hände von
Kindern oder halbblinde Augen die immer
nur schwach gezimmerte Rahmen
um alles ziehn
reflexartig”
Ich kann wohl nicht bis ins letzte bewusst erklären, warum ich Scheuermanns Gedichte so sehr schätze, obwohl es mir unbewusst in jedem zweiten Gedicht, dass ich von ihr lese, passiert, dass ich genau das tue, dass ich mir etwas halb gewohntes, halb vertrautes besser erklären kann, es mehr spüren kann, als ginge ich hindurch.
Über einen Museumsbesuch schreibt sie, wie immer leicht zu- und abgewandt:
“Nur die Besucher sind noch schlechter dran
nachdem sie solange Schlange gestanden
haben tragen sie bloß eine Erkenntnis fort
dass sie das Museum verlassen ohne Spuren
genauso wie sie auch die Welt verlassen werden.”
Klarheit, die das Fatalistische mit dem Verbinden, was Brodsky als eine der Definitionen von Schönheit ansah: nämlich etwas, das uns nicht gehört, uns nie eigen sein wird, aber dessen wir Gewahr sind, allein schon weil wir leben, existieren. Als wären sie ganz dünnes Glas vor diesen Dingen, das man kaum berühren kann, weil sonst nicht nur das Glas, sondern auch die Dinge zerbrechen (stehen wir vor Fenstern oder vor Spiegeln?) – dieses Gefühl durchfiebert viele von Scheuermanns Gedichten, macht sie einzigartig.
Brodsky war es auch, der von einem Gedicht als dem besten Mittel zur geistigen Beschleunigung sprach. Bei Silke Scheuermann müsste man eher von einer geistigen Aufrichtung sprechen, einem Stück für Stück-Annehmen, das die innere Zusammensetzung der Gedichte langsam offenlegt, zu einer Sprache werden lässt, auf die sich etwas in dir am Ende sehr gut verständigen kann.
Aber zuletzt noch: Zärtlichkeit. Lässt man alles außer Acht, was ich mit dilettantischer Hand über diese Lyrik hier und da vielleicht angestoßen habe, damit es irgendwann die Richtige Erkenntnis erreicht, bleibt sie: diese unnachahmliche Zärtlichkeit, die, abseits der inneren Kreise, die die Gedichte im Leser ziehen, ihren Namenszug schon allein mit dem Stil im Gedächtnis hinterlassen hat. Zeilen, die sich nicht zitieren lassen, die man zögert aufzusagen, die man monatelang nicht ansieht – und doch sind sie da. Als zärtlichste Punkte im All. Für sie lohnt sich alles. Es gäbe noch sehr viel mehr zu sagen, aber irgendwann hintert das viele Reden ja am Lesen.
“Schlaf nie mit einem Fotografen/ sie haben schon zu viel gesehen”
Diese Sammlung, die den gleichen Titel wie Scheuermanns erster Gedichtband trägt, enthält selbigen, zusammen mit den Gedichten aus “Der zärtlichste Punkt im All”, außerdem die nie als Einzelband veröffentlichten “Vogelflüge”, eine Abfolge von sonettähnlichen Gedichten, wobei das nächste immer mit dem Endsatz des letzten anfängt. Außerdem ein paar unveröffentlichte Gedichte. “Über Nacht ist es Winter” ein Buch mit Prosagedichten, ist nicht enthalten. Ihr allerneuster Gedichtband, “Skizze vom Gras”, erscheint am 5. August und sie wurde, unter anderem für diesen Band wie auch für ihr Gesamtwerk, vor kurzem mit dem Hölty-Preis ausgezeichnet.
“Aber was kommt wenn wir uns alle Geschichten erzählt
haben zehntausend heiße Geschichten
das Lexikon unserer Luftschlösser durchbuchstabiert
ist und wir unseren Stern durchgesessen haben wie das Sofa
auf dem wir uns sehr genau kennenlernten
wenn wir da stumm am Fenster sitzen und rauchen”
Hier noch ein Ausschnitt aus einem ihrer Kurzprosastücke:
“Wer jetzt nicht mehr schläft, dem näht das Licht Perlen auf die Stirn, zum Schutz, denn japsisfarben im Licht des Türspalts kommen die Fratzen mit dem ewigen, bösen Lächeln der Sieger. Es könnte die Katze sein, die Kommode, der Fernseher, irgendetwas Bekanntes, das sich Sekunden später wieder in seine Bestandteile löst.
Es versetzt dich, für Sekunden, im Übergang, in einen frei schwebenden Raum, von außen bewachsen mit winzigen Blüten, gemacht aus diesem Licht, das es nur zwischen fünf und sechs Uhr in der Frühe gibt.
Für diesen Raum lohnt sich alles.”