Tag Archives: Imagination

Zu “Mit fremden Federn” von Anett Kollmann


Mit fremden Federn Viele Fälle von Hochstapelei sind bekannt und nur manche haben etwas mit Übertreibung zu tun. Wobei man schon sagen könnte: ein/e gute/r Betrüger*in muss ein bisschen over the top gehen, um Glaubwürdigkeit nicht nur simulieren, sondern wirklich zu transportieren, zu suggerieren. Was an tatsächlichen Gaben und Geschicken fehlt, muss mit Gebaren ausgeglichen werden.

Anett Kollmann hat ein vergnügliches und wunderbares Buch über die Kunst geschrieben, sich mit fremden Federn zu schmücken und gleichsam hier und dort eine schöne Geschichte damit zu schreiben, ein fiktives Porträt zu zeichnen, dem eine eigentlich nicht vorhandene Glorie innewohnt. Sehr gut zeigt sie dabei auch die instinktiven Qualitäten der Hochstapler*innen auf, die eben nicht nur Meister der Täuschung, sondern auch Meister der Gelegenheit sind, im wahrsten Sinne des Wortes: manche von ihnen haben das Erkennen der Gelegenheit “gemeistert” und die Zeichen der Zeit fabulös (um)gedeutet.

Andere hatten einfach nur (wiederum wortwörtlich) unverschämtes Glück, das ihnen zur Hilfe kam und ihr unvermeidliches Scheitern eine Weile hinauszögerte. Letztlich sind alle Leute, die sich Geschichten ausdenken, Hochstapler*innen, nur das diejenigen, die sie auch zu leben versuchen, als solche bezeichnet werden. Wie heißt es im Vorspann der Serie “Castle”: “Es gibt zwei Menschen, die überlegen, wie man am besten Leute umbringt: Psychopathen und Krimi-Autoren. Ich gehöre zur besser verdienenden Sorte”. Und auch zur akzeptierten, gesellschaftlich geduldeten, könnte man ergänzen.

Natürlich kann man Mörder*innen nicht dudeln und auch Hochstapler*innen nicht. Aber genauso wie Mörder*innen stets eine abschreckende Faszination auf die Leser*innen von Kriminalliteratur oder Zeitungsartikeln ausgeübt haben, ist da etwas in den Geschichten über Hochstapler*innen, das uns auf seltsame Weise an uns selbst erinnert. Insofern, dass wir alle schon mal den leichten Weg gehen wollten, alle mal davon geträumt haben im Lotto zu gewinnen und schon mal darüber fantasiert haben, wie man dem eigenen Glück nachhelfen könnte. Hochstapler*innen tun nichts anderes: Sie helfen ihrem Glück etwas nach.

Sie sind gesellschaftlich untragbar und doch menschlichste Individualisten, sie sind besondere Exemplare und doch ein/e Jedermann/frau, der/die die geheimen Regungen von Tausenden mit leichter Hand auf die Leinwand der Geschichte schmiert.

Wer sich ein paar der daraus entstandenen Gemälde näher ansehen will, mit Kunstverstand und Witz kommentiert und mit Hintergrundwissen ausgestattet, der sollte zu diesem Buch greifen.

 

Cendrars, der reisende Magier und seine gesammelten Gedichte


“Der Himmel gleicht dem zerrissenen Zelt eines Wanderzirkus in einem kleinen Fischerdorf
In Flandern
Die Sonne ist eine rauchige Funzel
Und hoch oben am Trapez macht eine Frau den Mond.”

Er war überall und nirgends; er verlor seinen einen Arm im ersten Weltkrieg und schrieb mit seinem gesunden noch über ein Dutzend Bücher und Publikationen, er war ein Reisender und doch ein Innehaltender, ein Poet und doch ein Phantast, der allein die Welt dort für real hielt, wo sie etwas Einzigartiges offenbarte, an Farben, Fauna oder Lebensart. Er schrieb Romane und war doch eigentlich ein Dichter, er erweiterte und stutzte das Gedicht gleichermaßen und gehört wohl zu den formbewusstesten und formlosesten Lyrikern aller Zeiten. Sein Name: Frédéric Sauser, alias Blaise Cendrars.

“Die Fenster meiner Poesie sind weit geöffnet zur Straße und in ihren Scheiben
Leuchten
Die Juwelen des Lichts
Hörst du die Geigenkonzerte der Limousinen und die Xylophone der Druckmaschinen
Der Maler macht sich sauber im Handtuch des Himmels
Farbflecken überall
Und die Hüte der Frauen, die vorbeigehen, sind Kometen im Feuerschein des Abends”

Dank sei dem Lenos Verlag, dass sie eine so umfangreiche und umfassend kommentierte deutschsprachige Ausgabe der Gedichte herausgebracht haben. Mit beinahe hundert Seiten Anhang inkl. Kommentaren und Anmerkungen, sowie Einführungen zu allen einzelnen Gedichtbänden und einem großzügigen Lebenslauf könnte dieser Band schon fast als Standard für alle ehrgeizigen Werkzusammenfassungen weltweit herhalten. Dieser ungewöhnliche Geselle hat dies alles aber auch verdient.

“Ich will, dass die Wirklichkeit mir wie ein Traum vorkommt, will leben in einer Welt von Traumbildern.”
[…]
“Unter den Fingernägeln habe ich Musik”
[…]
“Im Zimmer nebenan, hinter der Türe wartet
Ein trauriges und stummes Wesen, wartet, dass ich’s rufe!
Du bist es, es ist Gott, ich selber bin’s – das Ewige.”

Aufmerksam geworden bin auf Cendrars durch eines meiner Lieblingsbücher, Philippe Djians In der Kreide, indem dieser Cendrars als einen seiner zehn großen Einflüsse beschreibt. Entsprechend ist Cendrars auch, wie viele andere Autoren in Djians Buch, ein Schriftsteller, der auf vielen Ebenen, stilistisch und formal, ungestüm ist, Grenzen sprengen will und seine eigene Vorstellung von der Beschaffenheit der Literatur erschaffen hat.

“Nach Japan können wir nicht
Komm mit nach Mexiko!
Auf den Hochebenen blüht der Tulpenbaum
Und die Schlingpflanzen sind das Haar der Sonne
Der Palette und dem Pinsel eines Malers scheint alles entsprungen
Farben, ohrenbetäubend wie Gongs”

Cendrars hielt es selten an einem Ort und so bereiste er schon früh die Welt. Er riss von zu Hause aus, war in Russland, gelangte in Paris vor dem 1. Weltkrieg in Literatenzirkel, war neben Apollinaire (mit dem er befreundet war, so wie mit vielen anderen z.B. Cocteau) einer der wichtigsten Dichter dieser kurzen Epoche, sagte sich dann vom Surrealismus und Symbolismus los, dem er nie wirklich angehört hatte und reiste nach dem Krieg, in dem er seinen rechten Arm verlor, nach Brasilien und Amerika und hielt seine Reiseeindrücke und -Phantasien in seinen knappen “Reiseblättern” fest.

“Der Frühling in Kanada hat eine Frische und Kraft wie sonst in keinem Land der Welt
Aus der dicken Schneedecke, aus dem Eis
Spiresst plötzlich
Fruchtbare Natur
Ganze Büschel von violetten, weißen, blauen, rosaroten Veilchen
Orchideen, Sonnenblumen, Tigerlilien
In den ehrwürdigen Avenuen mit ihren Ahornbäumen, dunklen Eschen und Birken
Fliegen und Singen die Vögel
Im Unterholz voller Knospen und zarter Triebe
Lakritzenfarbiges Sonnenlicht”

Man kann es sehen das Licht, man geht unter den Ahornbäumen längs – Cendrars hat wie kein anderer Wirklichkeit mit Phantasiefarben zusammengebracht und daraus das Erleben des Reisens, durch Natur und der Atmosphäre, nachgebildet. Fast alle seine Gedichte aus Brasilien oder von sonst woher, auf See, aus Afrika, haben diese innehaltende und gleichzeitig flüchtige Impression, diese unhaltbare, aber bewahrte Glück eines Fast-Eingehens in die Umgebung, eines Lebensmoments. Mit seiner Sprache blieb er sparsam und doch war ein Magier, mehr im Leben wohl, doch dann und wann packte ihn auch im Gedicht ein Hang zur ungewöhnlichsten Kreation. Zeilen, verquer und gleichsam genial – denen Cendrars eigene Wahrheit innewohnt.

“Ich kenne über 120000 Briefmarken, die mehr Spaß machen als die Schinken im Louvre”

Wenn man Dichter empfiehlt ist man immer ein bisschen in der Verlegenheit, weil man eigentlich ihre besten Zeilen zitieren müsste, um alle völlig mitzureißen und dennoch muss man den Leuten ja einen Eindruck vom Gesamtkonzept der Dichtung geben.
Viele der Zeilen die ich hier zitiere, machen sich natürlich besser, wenn sie einen mitten im Gedicht treffen, aber ich hoffe sie vermitteln etwas von der Leichtigkeit und Unberechenbarkeit von Cendrars Sprache und ihrem eigenwilligen Charme, ohne dabei zu verhehlen dass es die Lichtblitze in einer ansonsten sehr gelassenen und vor allem Eindrücke vermittelnden Dichtung sind, die sich auch wegen der vielen Arten von Ausdruck, in denen Cendrars sich versuchte, nicht wirklich auf ein Merkmal fokussieren lässt, auch wenn seine Reisebeschreibungen den größeren Teil seiner Schriften ausmachen und viele andere Werke mehr wie eine Laune, eine Phase wirken.

“Sie strahlt Lebhaftigkeit aus, Offenheit in ihren Gesten und Bewegungen
Der junge Blick eines bezaubernden Tiers
Ihre Wissenschaft: Die Grammatik des Gehens
Sie schwimmt wie man einen Roman von 400 Seiten schreibt
Unermüdlich
Stolz
Ungezwungen”

Nie oder ganz selten habe ich jemanden so klar und rein über Frauen schreiben sehen, ohne einen dunklen Hauch von Frivolität, höchstens einen hellen. Ganz ein Staunender, dem schon das blaue Meer in der Wärme der Sonne als Wunder und Offenbarung erscheint, nähert sich Cendrars beinahe jedem Thema, sofern er nicht seine leicht lakonisch-satirischen Einsprengsel von der Leine lässt oder den Überschwang in die Realität seiner Empfindungen einlädt.

“Eine Seerose auf der Seine, es ist in der Strömung der Mond.
Die Milchstraße spielt am Himmel verrückt vor Freude
und schließt Paris
nackt und wahnwitzig in die Arme, kopfüber saugt sich ihr Mund an Notre Dame fest.”

Er ist einzigartig dieser Dichter, er, der nie zur Ruhe kam, und dessen Gedichte doch eine gewisse Ruhe waren, ein Magier, der seine Ausführungen über eine tropische, leise Nacht in einem einfachen Satz ausklingen lässt, der, noch mal, alles heißt:

“Die Sterne schmelzen wie Zucker”

Zu den gesammelten Gedichten von Tomas Tranströmer – “In meinem Schatten werde ich getragen”


“Ein Sturm bringt die Flügel der Mühle dazu, sich wild zu
drehn im Dunkel der Nacht, nichts mahlend. – Du
wirst aus denselben Gesetzen wachgehalten.”

“Ein Träumen außer Sehweite gibt es/ das stets geschieht.”

Voller Ehrfurcht, so möchte ich beginnen, sitzt man vor den Werken Tomas Tranströmers. Sitzen – denn Stehen vor so großen und doch kleinen Gemälden scheint eine noch zu unruhige Haltung und ihre Bilderanwandlungen, das umfangreiche Panorama des Moments, senken einen in eine sitzende, eigentlich sogar liegende Position, als werfe man sich rücklings auf eine Wiese und der Himmel wäre poetischer Spiegel der Wahrnehmung, der ausgemalten Wirklichkeit. Eine ruhige Einsicht entsteht, lässt die Verse wirken, gleich dem nahen und fernen Ziehen der Wolke, bewusst und unbewusst, denn jenseits dieser beiden Begriffe hat Tranströmer eine Feld des Ausdrucks erschaffen, in dem Sprache das eine dem anderen in die Augen blicken lässt.

“Es herrscht Stille, wie wenn das Radar übermütig
Umdrehung nach Umdrehung macht.”

“Sommer mit flachshaarigem Regen
oder einer einzelnen Gewitterwolke
über einem Hund, der bellt.
Das Samenkorn strampelt in der Erde.”

Staunen und trotzdem dieser Drang, die Augen nach jedem Wort, nach jedem Satz, schließen zu wollen, wie als könnte man mit dem erlauschten Rauschen der Welle den Ozean festhalten. Viele Gedichte drücken irgendwo irgendwann -zu-, wollen einen bestimmten Nerv treffen. Nicht so bei Tranströmer. Seine Verse blinzeln, weiten sich aus und kugeln sich ein; sie sind lautlose Helikopter, kreisende Seinsöffner und die Wahrnehmung jedes strichcodelosen Elements, da ist kein Zupacken, jedes seiner Gedichte lässt einen mehr frei, als dass es einen bindet. Und doch fühlt man sich auch gebannt, denn seine Verse vervollständigen unsere Vorstellung auf unwillkürliche Weise.

Wahrnehmen wird zum Funkeln dessen, was Wahrnehmung sein kann. Jedes Bild ist ein kleines Bekenntnis der Dinge, die es abbildet, ausdrückt.

“Um 18 Uhr kommt der Wind
und sprengt mit Getöse auf der Dorfstraße vorwärts,
im Dunkel, wie eine Reiterschar. Wie
die schwarze Unruhe spielt und verklingt!
In Unbeweglichkeitstanz stehen die Häuser gefangen,
in diesem Brausen, das dem des Traumes ähnelt. Windstoß
auf Windstoß streift über die Bucht, weg
zur offnen See, die sich ins Dunkel stürzt.
Im Raume flaggen verzweifelt die Sterne.
Sie werden angezündet und ausgelöscht von den Wolken, die vorwärts fliegen,
die nur, wenn sie ihre Lichter verdecken, ihre Existenz
verraten, gleich den Wolken des Vergangenen,
die in den Seelen umherjagen.”

“Der Regen verschwindet allmählich.
Der Rauch tut ein paar stolprige Schritte
in der Luft über den Dächern,

Hier folgt mehr,
was größer ist als Träume.”

Zwei Ebenen, zwei Ansichten regieren hauptsächlich in Tranströmers Werk: Einmal die kontemplative, bilderreiche, wie eine Knospe aufspringende und dann die zweite, tiefere, in der all diese Bilder buntgläserne Fenster sind, durch die das Licht des Augenblicks mit dem Schimmer des Seins in einen sehr hohen, weiten Raum fällt. Ein Raum, kühl und doch wunderschön, ein Raum voll Ungesagtem, darin unausführliche Wahrheiten schweben wie einzelne Töne. Wahrheiten, die eigentlich nur Gesten sind, zu erahnen in der Art wie Tranströmer sie uns eingibt, ihre Wirkung nicht aus dem Kern, sondern von den Grenzen und Außenposten der Aufmerksamkeit ziehend, mitten hinein, wo kaum mehr ein Gedanke regieren kann; Tranströmer weiß um die wesentliche Wahrheit dieser Gesten und so spiegeln sie sich in all den Versen, die er um sie und in ihnen errichtet: Ein Geflecht, ein Labyrinth aus Eindrücken, Wesenheiten und Momenten, über dem man zu schweben beginnt, und die alle am Ende das nahezu glatte, weiße Segel bilden, mit dem man ein Boot hinaus auf jenen Ozean der Poesie schicken kann, ein Meer, auf dem alles Erfahrung bedeutet, und wo jedes gesichtetes Festland einem Wunder gleicht und doch nicht das Ziel ist – das Ziel ist es, zu segeln, immer weiter, in die nächste Stimmung, tiefer hinaus und hinein.

“Schneelose Wintertage gibt es, da ist das Meer verwandt
mit Berggegenden, geduckt in grauem Federkleid,
eine kurze Minute blau, lange Stunden mit Wellen wie bleiche
Luchse, vergebens Halt suchend im Strandkies.”

Dies alles, dessen bin ich mir bewusst, ist nur die eine Seite von Tranströmers Lyrik, die allgegenwärtige, die unwillkürliche, kurz: der Stil. In dem Langgedicht Ostseen (ein Text, den man immer wieder lesen und lesen und lesen kann) heißt es an einer Stelle: “2. August. Etwas will gesagt werden, aber die Worte lassen sich nicht darauf ein./ […] Worte gibt es nicht, aber vielleicht einen Stil…” Der Stil – dieses Einhalten, Festhalten und gleichzeitige Erweitern aller Bilder, das Bescheidene und Große, die nebeneinander wandern, kein bisschen unschlüssig – er allein macht Tranströmer schon zu einem unvergleichlichen Erlebnis. Und alle, die einmal gerne eine Sammlung echter Poesie im Schrank, auf dem Nachtisch, oder einfach bei sich haben wollen, denen sei dieses überreiche Buch schon alleine deswegen wärmstens empfohlen.

“Wach im Dunkel, hört man die
Sternbilder stampfen in ihren Boxen
hoch überm Baume.”

“Und der Wind radelt friedlich durchs Laub.”

Als Psychologe (auch in einer Haftanstalt) und Reisender, als Opfer eines Schlaganfalls (mit folgenden Lähmungserscheinungen), als Naturbegeisterter, als Kenner der Geschichte, als Mensch, als Bewohner Schwedens, als Freund des Meeres und als sensibler Erfasser der Nacht, als Kenner von Musik und Malerei, als Liebender – jeder Dichter hat viele Stimmen (oder: viele Elemente, durch die er sich bewegt mit seiner Stimme), mit denen er spricht.

Einige von Tranströmer habe ich hiermit aufgezählt, auch wenn ich sie am liebsten sofort wieder wegstreichen würde. Man nehme sie bitte denn auch nicht als Ansatz für Vorstellungen, etwa hinsichtlich von Meinungen, die Tranströmmer kundtut, oder als eingefasste Themenvorwegnahme oder sonst etwas in der Art. Sie sind hier nur aufgelistet, um einen Blick auf die Ausgangspunkte mancher Situationen zu ermöglichen, in denen Gedichte entstanden sein mögen, wo, von der Idee eines flüchtigen Erlebens angereizt, das Wesen einer lyrischen Wortfolge seinen Ursprung haben könnte.

“Unterwegs im langen Dunkel. Eigensinnig schimmert
meine Armbanduhr mit dem gefangnen Insekt der Zeit.

Das vollbesetzte Abteil ist dicht vor Stille.
Im Dunkel strömen die Wiesen vorbei.

Aber der Schreiber ist halbwegs in seinem Bild
und bewegt sich darin zugleich als Maulwurf und Adler.”

Dichtung ist oftmals eine Art von Rettungsanker, ein Bewahrer, ein Formulierer des Magischen im Realen und dann und wann auch so etwas wie ein guter Geist, der in allem ein Schweigen finden kann, dass die Dinge und dich durch einen Raum aus Entfernungen miteinander vernetzt.

Auch in Tranströmers Lyrik geht es oft ums Bewahren, um das Bewahren der alltäglichen Wunder (mit Bildern wie dem oben zitierten Ausschnitt um das “Insekt der Zeit” oder, noch weiter oben, der Sternenbilder) bei Einhaltung aller Grenzen, die man nicht übertreten kann, ohne zu viel miteinander zu verbinden. Denn auch diese Fuge ist stark in Tranströmers Werk, die filigrane Verbindung. Aber sie hält sich an das Wesen der Linie, die mit ihrer einzelnen Bahn langsam einen Raum zeichnet, statt direkt den ganzen Raum in ein Muster drücken zu wollen. In Tranströmers Gedichte passen wir noch, geradeso, ohne unsere Augen umstellen, ohne unsere Vorstellungen verknoten zu müssen. Das Ich des Lesers und seine reflexive Anteilnahme an den Zeilen, wird manchmal sogar zum zentralen Punkt des Gedichts, einem Text, der letztlich nichts ist ohne das Gebirge des Einzelnen, das zu seinem Echo wird, in diesem Echos selbst enthalten ist.

“Ich hisse die Haydnflagge – das bedeutet:
>>Wir ergeben uns nicht. Sondern wollen Frieden.<<

Die Musik ist ein Glashaus am Hang,
wo die Steine fliegen, die Steine rollen.

Und die Steine rollen quer hindurch,
doch jede Fensterscheibe bleibt ganz.”

Dieses Gefühl, das sagt: “ich bin genau die Stelle,/ wo die Schöpfung an sich selbst arbeitet.” Dieses Gefühl, was unser Bewusstsein ausmacht.

Solche Bewusstseinszustände zu beschreiben und zu malen, ist einer der großen Verdienste des Gedichts. Und deswegen brauchen wir Gedichte – um im Angesicht dessen, was unvergänglich scheint für den Moment, und das doch so vergänglich ist wie wir selbst (wie wir wissen), einen Ruhepunkt zu finden, eine Verbindung. Ein Beweis, so klein wie eine Blume und doch so mächtig wie der allererste Eindruck, wenn unser Blick auf sie fällt, an ihr hängenbleibt und an ihrer Erscheinung festhält. Unumgänglich ist unser Augenschein und seine allzeit laufende Aufnahme und dennoch sehen wir nur den Kern der Dinge – das Fruchtfleisch zeigt uns das Gedicht.

“Im Gelände draußen, nicht weit von der Ansiedlung,
liegt seit Monaten eine vergessene Zeitung voller Ereignisse.
Sie altert Nächte und Tage hindurch in Regen und Sonne,
dabei, eine Pflanze zu werden, ein Kohlkopf, dabei, mit dem Boden
eins zu werden.
So wie eine Erinnerung sich langsam zu dir selbst verwandelt.”

“Zwei Wahrheiten nähern sich einander. Eine kommt von innen, eine
kommt von außen,
und wo sie sich treffen, hat man eine Chance, sich selbst zu sehen.”

Sich selbst zu sehen und auch das Andere (welches in der heutigen Zeit entweder ignoriert oder aber als anonym, unübersichtlich, etc. abgestempelt wird). Ein Gedicht bietet dabei selbstredend keine Gewissheit; es zeigt vielmehr, dass Ungewissheit die Regel ist, selbst wenn es irgendwo Gewissheit geben sollte. Und dass auch in der Ungewissheit eine Möglichkeit steckt, mit der Welt umzugehen.. In diesem Zusammenhang gilt immer noch, was Erich Fried einst schrieb: “Wer/ von einem Gedicht/ seine Rettung erwartet/ der sollte lieber/ lernen/ Gedichte zu lesen.
Wer/ von einem Gedicht/ keine Rettung erwartet/ der sollte lieber/ lernen/ Gedichte zu lesen.

Tranströmers Gedichte halten noch vieles bereit, weit mehr, als eine Annäherung wie diese offenbaren oder ausdeuten kann. Da sind noch jene zunächst rätselhaft anmutenden konzentrierten Verswahrheiten, klein wie Schlüssel, passend zu nur allzu bekannten Türen, die wir auch mit dem eigenen Blick öffnen könnten – aber die Sprache kann hier helfen, sich überhaupt der Schlüssel zu erinnern. Manchmal braucht es eine Girlande von Worten, um in der Finsternis von Reden und Gegenreden die wage Erkenntnis zu berühren, die sich als Stimmung erhebt zwischen Gedicht und Leser, als geschähe es zwischen dem Wunsch und der Erfüllung …

“Und über die Toten zu schreiben,
ist auch ein Spiel, das schwer ist
von dem, was einst kommt.”

“Jesus hielt eine Münze hoch
mit Tiberius im Profil,
ein Profil ohne Liebe,
die Macht im Umlauf.”

Am Ende eines wunderbaren Gedichtes über Vermeer heißt es bei Tranströmer wie folgt:

“Es ist wie ein Gebet zur Leere.
Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu
und flüstert:
>>Ich bin nicht leer. Ich bin offen.<<”

Ich glaube, dies ist eine gute Beschreibung für die Erfüllung, die Chance eines Gedichts. Und das Bemerkenswerte ist letztendlich, dass auch man selbst sich manche innere Leere als etwas Offenes erschließen kann, wenn man sehr aufmerksam liest, wenn man die Fußspuren der Dinge zwischen den Falten der Landkarte bemerkt.

“Es gibt Tage, da ist die Ostsee ein stilles endloses Dach.
Da träumte naiv von Einem, der auf das Dach gekrochen kommt und
versucht, die Flaggenschnüre zu entwirren,
versucht, den Fetzen
hochzukriegen –

die Fahne, die vom Wind so zerrieben und von den Schornsteinen so
verräuchert und von der Sonne so gebleicht ist, dass sie allen gehören
kann.”

“Und das Haus spürt sein Sternbild aus Nägeln,
welche die Wände zusammenhalten.”

Zu dieser Edition:

Im Wesentlichen ist das Buch eine Zusammenführung der bei Hanser erschienenen Bände Sämtliche Gedichte(bis 1996), Das große Rätsel (Haikus & Gedichte 1996-2004) und dem autobiographischen Prosaband Die Erinnerungen sehen mich ergänzt um die Rede zur Verleihung des Pilot-Preises. Letztere ist ein sehr interessantes Dokument und erzählt auch von Tranströmers eigenen Vorstellungen über Poetik, während “Die Erinnerungen sehen mich” sich ausschließlich mit seinem Heranwachsen und der Schulzeit beschäftigt, auf eine feine und knappe Art, unter wenigen Stichpunkten sortiert und prosapoetisch inspiriert.

Die Übersetzungen liegen weiterhin in der sehr überzeugenden, geradezu meisterhaften Übersetzung von Hanns Grössel vor (meisterhaft von der Wirkung her; über die weiteren Qualitäten darf ich mir, als jemand, der kein Wort Schwedisch kann, natürlich kein Urteil erlauben). Sehr schade ist, dass die Anmerkungen zu den Gedichten bis 1996 einfach aus dem Band “Sämtliche Gedichte” übernommen wurden; hier hätten bestimmt noch ein paar Einträge mehr dazukommen können. Es belastet zwar das Leseerlebnis in keinster Weise, hätte aber die Edition als solche wirklich komplettiert. Das Nachwort von Hans Jürgen Balmes ist ebenfalls gelungen, auch wenn ich mir vielleicht noch ein paar Worte von Michael Krüger oder von dem (leider 2012 verstorbenen) Hanns Grössel gewünscht hätte, vielleicht auch etwas zu den Übersetzungen.

Dennoch gebührt dieser, in ihrem Großformat ansehnlichen Edition auch ein Lob, ebenso wie dem S. Fischer Verlag, der mit dieser Ausgabe zu einem weiteren Literaturnobelpreisträger aus der Sparte Lyrik (neben Joseph Brodsky und Seamus Heaney) eine umfassende Sammlung von Gedichten zugänglich macht (auch wenn hier der Hanser Verlag die Vorarbeit leistete).

Abschließen möchte ich diese Rezension mit zwei Haikus, die Textform, in der Tranströmer in seinen letzten erschienen Gedichten hervortrat, und zwei Sätzen aus seinen Prosatexten, die hoffentlich auch die Eleganz und Tiefe, die er in dieser Gattung zuwege bringt, illustrieren können. Ganz zum Schluss bleibt mir nur, dieses Buch noch einmal nachdrücklich zu empfehlen, als ein beeindruckendes Erlebnis, als ein ungemein einnehmendes Beispiel großer Dichtkunst. Lesen bedeutet hier Glanz und Erkennen, auf derselben Stufe; bedeutet Sinne, die sich in alle Dinge begeben und doch auf dem Gefühl Vorstellung ruhen, wie eine schöne Erinnerung tief im Gedächtnis liegt und doch am meisten in jenem Moment enthalten ist, in dem sie hervorbricht.

“Anwesenheit von Gott.
Im Tunnel des Vogelgesangs
wird ein verschlossenes Tor geöffnet.”

“Horch, das Rauschen von Regen.
Ich flüstere ein Geheimnis
um hineinzukommen.”

“Man fühlt sich immer jünger, als man ist. In mir trage ich meine früheren Gesichter, wie ein Baum seine Jahresringe. Die Summe daraus ist das, was >>ich<< ist. Der Spiegel sieht nur mein letztes Gesicht, ich spüre alle meine früheren.”
(Aus: Die Erinnerungen sehen mich)

“Mein Examen habe ich an der Universität des Vergessens gemacht und habe genauso leere Hände wie das Hemd auf der Wäscheleine.”
(Aus dem kurzen poetischen Prosatext “Madrigal“)

“Ich schaute zum Himmel und auf den Boden und geradeaus
und schreibe seither einen langen Brief an die Toten
auf einer Maschine, die kein Farbband hat, nur einen Horizontstreifen,
sodass die Worte vergebens schlagen und nichts haftet.”

“Vakante Glut” von André du Bouchet


“Die Luft, die sich der Fernen bemächtigt, lässt uns lebend hinter sich.”

“Der Berg
wie ein Spalt im Atem
der Leib des Gletschers.”

Französische Poeten der Moderne haben die Eigenart, elementare Dichter zu sein. Ihnen liegt selten das realistisch Imaginierte und noch seltener das thematisch Fixierte; vielmehr speist sich ihre ganze Kraft, das ganze Wesen ihrer Dichtung aus dem Element ihrer Sprache, aus einer Art Metakraft, die Worte und ihre Ideen in einem Raum mit unendlichen Reihen ausgräbt und auftürmt. Diese lange Tradition begann schon ansatzweise mit Rimbaud und gipfelte teilweise in ihm und etwas später, geradezu symbolisch, in Apollinaire und seinem schon sprichwörtlichen Gedichtband Alkohol; natürlich sind auch Namen wie Verlaine und Seghour auf eine gewisse Art dieser Kategorie zuzuordnen; jeder von ihnen hatte seinen eigenen Rahmen, in dem die Idee dieser Tradition fortgeführt wurde. Sie ist bis heute ungebrochen, Sprachkadenzen weiterhin sehr gebräuchlich. André du Bouchet, gefeierter Übersetzer der Werke Paul Celans ins Französische, ist auf seine Weise ein später Wahrer der Idee.

“Am Anfang der kalten und weißen Brust, in der mein
Satz sich unterbringt, über der Mauer, im wild-
wachsenden Licht.”

Obwohl der Gedichtband “Vakante Glut” in 7 Teile unterteilt ist und diese wiederum in viele Einzelgedichte, hat man nicht das Gefühl, dass das Gedicht, das auf der ersten Seite anfängt, jemals gänzlich aufhört. Eigentlich ist der ganze Band ein einziges, sich immer wieder auf sich zurückbesinnendes Gedicht. Es mag zwar manchmal, wie eine Flagge, in die eine oder die andere Richtung wehen, aber der Mast bleibt derselbe und wenn kein starker Wind weht, legt und lehnt sie sich wieder dagegen zurück, um wieder davon auszu(g/w)ehen.

“…der Lufthauch
der dem Feld entsteigt
das Licht
der Zügel.”

Mit wenigen zentralen Worten steht und fällt das Buch; der Rest ist Wind, Dekorationsmaterial. Auch sind die Lyrismen sehr großzügig gedruckt, die Sätze immer etwas zersplittert und über die Seite verteilt und manchmal nehmen sie gar nur den oberen Rand einer Seite ein. Da es auch noch ein zweisprachiger Band ist, also nur eine Seite jeweils Deutsch, hätte der Inhalt auch auf wesentlich weniger Seiten Platz gefunden; was mich nicht stört, da es für mich die Atmosphäre des Bandes unterstreicht.

Diese Atmosphäre ist eine Symbiose aus dem Weiß der Seite und dem Schwarz der Buchstaben, der Symbiose aus Feuer und Eiseskälte, aus Wind und einer festen Mauer, aus Luft am Tag und Atem in der Nacht. Diese Worte und Wendungen und noch einige andere Schlagworte wie Feld, Stein, Berg, Himmel, Glut, Straße sind die Variablen in denen du Bouchets Lyrik ihre Spiegel und Ausfahrten findet. Es liegt noch einiges dazwischen, aber es sind diese wiederkehrenden Wörter, die seine Dichtung ausmachen – und man hat irgendwie das Gefühl, als würde die ganze Dichtung nur dazu dienen, diesen paar Wörtern auf den Grund zu kommen.

“Wenn die Nacht einfällt, ist die unnütze Straße mit schwarzen Ländern bedeckt, die sich vermehren.”

Wie dieser Satz zeigt entbehren du Bouchets Seiten jedoch nicht ein paar großartiger Innovationen und Formulierungen. Das ganze, den Band umfassende Gedicht ist sicherlich ein großes poetisches Räderwerk, mit dem man sich lange beschäftigen kann, aber es sind einzelne, meist ganz am Rand liegende Räder diese Komplexes, fast unnütz für das große Ganze, die wirklich tief gehen und ein Bild entstehen lassen. Für diese paar einzelnen Zeilen lohnt es sich schon, den Band zu lesen.

“Da ist noch Karosserie des Schaums, der aufklirrt als entspränge er mit zerbrochnen Nägeln in der Erde verkanterten Baum, dieser Kopf, der auftaucht und sich in die Ordnung fügt, und die Stille, die uns fordert wie ein großes Feld.
Der Heuschober des anderen Sommers funkelt.”

Sehr schade und bedauerlich ist es, dass dem Werk keine einzige Anmerkung, auch keine Erläuterung des Übersetzers Celan oder überhaupt irgendeine Art von Beitext mitgegeben wurde – vielleicht aus dem nicht ganz falschen Gedanken heraus, dass man ein Werk dieses Stils am besten selber Stück für Stück entschlüsseln möchte, bis man den Stein wie einen Kloß im Hals und die Kälte wie ein Mark in den Knochen spüren kann. Aber, so ganz wortlos diesen Dichter und seinen Band hinzustellen und den Leser so zu entlassen – es bleibt das Gefühl einer viel zu oberflächlichen Beschäftigung. Denn was der letzte Satz des Bandes sagt, ist nur zu wahr und bestimmt den ganzen Band rückblickend; vielleicht muss man ihn deswegen einfach noch mal von vorne lesen und noch mal und noch mal:

“Nichts stillt den Durst meines Schrittes.”