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Zu der Anthologie “Grand Tour”


Grand Tour

Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).

Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.

Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.

Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).

Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.

Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.

Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.

„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.

Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.

 

Zu “Der neue Antisemitismus” von Deborah Lipstadt


Der neue Antisemitismus Deborah Lipstadt ist eine Art Ikone auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung – ihr Buch “Leugnen den Holocaust”, das leider derzeit nur antiquarisch verfügbar ist, war bei Erscheinen die wichtigste Studie über die Personen und Organisation, die aktiv diese Form der Geschichtsklitterung betreiben, und darüber wie diese Klitterung mit anderen Ideologien verknüpft und verbreitet wird.

Im Anschluss an diese Publikation wurde sie von David Irving verklagt, der von ihr ebenfalls als Holocaustleugner bezeichnet wurde. Der Prozess geriet zum Spektakel, weil Irving vor dem englischen Gericht nicht beweisen musste, dass er keine Klitterung betrieben hatte, vielmehr musste Lipstadt beweisen, dass er es getan hatte und sie ihn zurecht einen Leugner (und damit gleichzeitig einen Lügner) genannt hatte – folglich ging es darum, den Holocaust zu beweisen. Eva Menasse schrieb ein Buch über den Prozess, das erst kürzlich neu aufgelegt wurde (“Der Holocaust vor Gericht”) und 2016 wurde der Prozess unter dem Titel “Verleugnung” verfilmt.

Dies neuste Buch von ihr, das auch erst dieses Jahr in den USA erschien, beschäftigt sich nahezu mit dem ganzen Spektrum an antijüdischen Vorurteilen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen und Methoden, die sich vermehrt in unserer Gegenwart ausmachen lassen, von handfesten Verbrechen bis zu tendenziöse Aussagen und unbedarft wirkenden Relativierungen; trauriger Weise sind sie fast durch die Bank weg geradezu “klassisch” und reproduzieren antijüdische Klischees, die schon seit Jahrhunderten als Sündenbockmuster Verwendung finden.

Trotzdem wird alles haarklein ausdifferenziert, vom Klischee der Weltverschwörung bis zur Israelkritik. Lipstadt geht sehr gründlich vor, zu jeder Form von Antisemitismus gibt es eine Fülle von Beispielen und Abgrenzungen, Überlegungen und Hinweisen, sogar hin und wieder einen klassischen jüdischen Witz oder eine Anekdote.

Als Form des Buches hat die Autorin einen fiktiven Dialog gewählt – genauer gesagt ist es ein Mailwechsel, in dem sie auf die Fragen von einem Freund und einer ihrer Studentinnen eingeht, die diese aufgrund von allgemeinen Entwicklungen, aber auch aufgrund ihrer eigenen täglichen Erfahrungen beschäftigen. Lipstadt beschreibt die beiden Figuren im Vorwort als eine Art Destillat aus verschiedensten Personen, mit denen sie sich über das Thema ausgetauscht hat.

Diese Dialogform wirkt zwar sehr natürlich und gibt dem Buch eine persönliche Note, die Vertrauen weckt (und vielleicht auch die voyeuristische Neigung von begeisterten Romanleser*innen befriedigt), aber ob sie wirklich ein Feature ist, kann ich nicht abschließend sagen. Vermutlich ist sie aber wichtig für alle Leser*innen, die von den beschriebenen Aggressionen tatsächlich betroffen sind – auf sie geht das Buch damit zu und ein und das rechtfertigt wohl die etwas eigenwillige Form.

Ansonsten: eine sehr lesenswerte Schrift. Ein guter Überblick über die akute Zunahme von antijüdischen Aktionen und eine erschreckende Analyse, weil sie aufzeigt, wie tief dieses Gedankengut noch immer überall Wurzeln schlagen kann, ohne sofort ausgerissen zu werden – wie unscheinbar es daherkommen kann und wie wenig es oft benannt und beanstandet wird, wie leichtfertig toleriert.

Diese Form des Hasses ist, das wird klar, kein Kavaliersdelikt, keine aus der Mode gekommene Form der Diskriminierung oder eine überwundene und aufgeklärte Vorurteilswelt. Es wird immer Spinner*innen geben, die unbelehrbar sind – schlimm ist aber, wie breit sich antijüdische Positionen noch immer etablieren können, wie leicht viele Menschen mit ihnen – in unterschiedlichen Härtegraden – bei der Hand sind.

Zu Mascha Kalékos Gedichtband “Verse für Zeitgenossen”, neu aufgelegt bei dtv


Verse für Zeitgenossen besprochen beim Signaturen-Magazin.de

Zu Taha Muhammad Ali’s Gedichten in “An den Ufern der Dunkelheit”


an-den-ufern-der-dunkelheit„Fliegen unter dem Gewicht der Trauer/ Hoffen innerhalb des abgerissenen Traums“ (Adam Zagajewski)

“Und der Horizont,
dieses über Sand und Tränen
Fest geschlossene Augenlid –
Was hinterließ er,
Was versprach er dir?”

“Wer liest, der wird lernen, dass es nicht einfach nur “Gut” und “Böse” gibt. Und noch schlimmer: Er wird begreifen, dass das Böse oft eine Form von Vergangenheit, das Gute zunächst die Hoffnug auf eine zukünftige Form ist.”
Dieses Zitat von Malraux weist auf eine der der zentralen Problematiken hin, mit denen sich unsere Generation und die heutige Welt auseinandersetzen müssen: dem Erbe des 20. Jahrhunderts, diesem nahen und doch gleichsam fernen Zeitalter, das vor scheinbaren Gewinnern und tatsächlichen Verlierern nur so wimmelte und in dem unzählige Konflikte angefacht wurden, sodass das ganze Ausmaß des Brandes auch heute noch, auch in der westlichen Welt (der einzigen, für die das 21. Jahrhundert wirklich schon begonnen hat) nicht sichtbar geworden ist, medienpräsent in den Hintergrund gerückt, zugeschnittendurch die Scheren der Brisanz und der verschiedenen Interessen.

Von all den Schauplätzen, an denen im letzten Jahrhundert tiefgreifende Konflikte aufkamen, ist der mittlere Osten bis heute derjenige, der, zumindest in den westlichen Medien, am häufigsten und stärksten in den Fokus gerückt wird. Das Problem des Staates Israel ist dabei von besonderer Sprengkraft und beschäftigt die Gemüter seit dessen Gründung im Jahre 1948. Dieses Problem hat viele verschiedene Stufen und Metamorphosen durchlaufen und besitzt mittlerweile so viele Aspekte, dass oft die andauernden Katastrophe hinter dem ewigen Tauziehen um Gebiete und Geltungsrechte, völlig ausgeblendet werden. Und mit Katastrophe meine ich nicht zentral die Opfer der immer wieder auftretenden Kämpfe, sondern die Opfer der Zustände, die seit über 60 Jahren in dieser Region herrschen.

“Allabendlich lagert sich in der Brust
Wie Geröll ein Gefühl von Finsternis ab,
Eine Empfindung von Schwärze,
Eine Schwärze, die den Weg versperrt wie eine Wand.
[…]
Ich kann das Unglück der Sonnenuhr vernehmen
Wenn ihre Zeiger schrumpfen wie Schiffe
Ohne Häfen
[…]
Wie die Augen der Kinder
Träume ich
Von Straßen und Wäldern
Die Hügel und Jahreszeiten bedecken
Und die Gärten der Stunden überschreiten,
Um nach Belieben in einen Raum
Aus Sternen und Ähren einzutauchen,
Wo der Abend mir zulächelt,
Sich zu mir hinbeugt, mich tröstet,
Wie der liebste Großvater.”

Es wäre eine Verfremdung und unsinnige Überhöhung, wenn man sagen würde, dass Taha Muhammad Ali dem Schicksal eines ganzen Volkes eine Stimme verleiht, denn es würde ihn vom großen Dichter, der er ist, zur bloßen Galionsfigur degradieren. Ein Dichter, wie leidenschaftlicher er auch für etwas kämpft, schafft mit seinen Gedichten zwar die Möglichkeit, dass sich die darin enthaltene Stimme ausbreitet, aber es kann nicht sein erste Intention sein, denn er muss stets von sich selbst ausgehen, von dem einen kleinen Punkt seiner eigenen Empfindung. Doch am einzelnen Ich, da hatte Max Frisch Recht, erklärt und zeigt sich oft das Schicksal von vielen. Das ist die Wesenheit, die Kunst ausmacht, aus dem Großen und Ganzen eine Gestalt zu machen, die nicht wieder ins Große und Ganze eingehen kann, die sich als individuelle und zugleich übergreifende Erfahrung behauptet.

“Sein Menschenrecht ein Körnchen Salz,
Aufgelöst im Ozean”

Erst einmal: Sehnsucht, tief hinuntergeschluckt; dann, gleichsam klamm und nur als Stimmung: die Berührung einer warmen Welt, die Andeutung von Orient, Dörflichkeit, Schattenwärme und Sternennacht, mit Spuren von alten Namen und da sind Farben von dunklem Ruf, großer Schönheit und tiefem Sinn – doch davor: Der Schleier des Gefangenseins, des Verharrens in einer Trauerarbeit, durch den nur die Ahnungen und Erinnerungen zu dringen vermögen. Eine düstere Vision, die einen nicht loslässt, die jeden Punkt zuschüttet, an dem man nach dem Grundwasser des Lebens gräbt.

So begegneten mir die Gedichte von Muhammad Ali. Keine scharfen, platzierten Windungen, kein direktes Ziel in ihrem Zeilenfluss; die ganzen Worte ausgerichtet auf ein Einfachheit, das Erzählen, die Botschaft der Zeilen – und: das Abwarten. Das Abwarten, welches man überwinden, das man erklären will, damit es verschwindet. Das man mit Hoffnung überstrahlen, das man mit dumpfer Wut in einen großen Kosmos verzahnen will.

“Ich werde fortbestehen
als ein Fleck Blut
von der Größe einer Wolke
auf der weißen Weste der Welt”

Doch am meisten fällt auf: Größe. Ich weiß, das klingt ein wenig klotzig und man könnte meinen sie ist eh ein häufiges Merkmal von Dichtung. Ich habe sie auch erwartet (wobei einen Größe in der Dichtung immer wieder, unentwegt, zu überraschen weiß – da gibt es keine Gewöhnung). Aber trotzdem ist die Größe in Alis Gedichten doch überwältigend, denn sie erwächst, wie bereits erwähnt, aus einer Schlichtheit, die sich noch hier und da mit gewöhnlichen, sogar sachlichen Emotionen paart – und doch im Kern ihre Fläche, ihr Seelenmaß nie verkleinert. Jeder gelungene Vers flutet die innere Fülle des Gedichts.

“Ich höre nicht auf zu mahlen,
Solang im Hals meiner Mühle
Noch ein einziges Korn steckt.”

“Jetzt aber
Ist das Brot meiner Angst
Zur Neige gegangen
Und der Wein meiner Trauer
Sprudelt aus allen Quellen.”

Natürlich spielen Wut und Trauer in diesem Buch eine wichtige Rolle. Wie auch soll man sein Schicksal vergessen oder abhaken, wenn man ihm nicht entfliehen kann? Es geht in diesen Versen nicht darum, ob Wut oder Trauer die Oberhand gewinnen, sondern ob es jenseits von Trauer und Wut noch etwas anderes gibt. Danach suchen diese Gedichte, das ist ihr Thema, ihre innerste Wesenheit. Einige gehen sicherlich auch in die Untiefen der oben erwähnten Emotionen, aber eigentlich bleibt auch da ihre Suche eine Suche nach Gefühlen und Hoffnungen jenseits dieser Gründe, auf denen ihr Schicksal erbaut und festgeschweißt ist.

Ein schwieriges Unterfangen und in der Realität noch nicht einmal wirklich begonnen. Aber gerade deswegen musste es vielleicht in der Lyrik geschehen, der Form der Literatur, die am freisten ist und doch meisten nach einer inneren Notwendigkeit verlangt – denn auch das sind diese Gedichte: notwendiger Ausdruck, ja, die Verkörperung eines Exils, das ein Zuhause kennt, aber nur ein Zuhause der Vergangenheit und eine immer wieder bedrohliche Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit einer solchen Lebensart kann sehr profan sein; in den Gedichten von Muhammad Ali beschreitet sie einen ungeheuer geraden, tiefen und anspruchsvollen Pfad, der schließlich immer wieder an Ufern der Dunkelheit endet. Doch unser aller Weg endet an diesen Ufern und genauso wie bei uns selbst, zählt auch bei diesen Gedichten der Weg dorthin, der die Ausdrücke kennt, die sich der Tod nicht ausmalen kann und die das Leben ausmachen: Ausdrücke der Sehnsucht, der Freude, der Freiheit, der Geborgenheit, des Glücks, der Liebe, der Angst, des Zorns, der Namen für die Dinge der Seele.

“Nach unserem Tod,
wenn das müde Herz
Zum letzten Mal seine Lider verschließt
Vor allem, was wir taten,
Vor allem, was wir wünschten,
Vor allem, was wir träumten
Und begehrten
Oder fühlten –
Wird der Hass das Erste sein,
Was in uns
Verfault”

Friedrich Christian Delius, “Die Flatterzunge” und der lange Schatten von AH


Ein Mann, der im Orchester die Posaune spielt, ein Polsterzungeninstrument, riskiert eine dicke Lippe: in Israel unterschreibt er die Getränkequittung im Hotel mit dem schändlichsten aller deutschen Namen. Es folgt ein flotter Rauswurf und die gesellschaftliche Ächtung.
Wie noch irgendwie ankommen gegen das Todschlagargument seiner Tat? Kann es da noch Erklärungen und Entschuldigungen geben? Und wieso wird er so scharf verurteilt, wo er doch nur eine simple Dummheit begangen hat, statt Panzer an den Iran oder Saudi-Arabien zu liefern?

Sich mit der Relevanz von gesellschaftlichen und politischen Erscheinungen, mit Positionen und Debatten auseinanderzusetzen und die Instanzen der modernen Realität, vor allem der deutschen, zu hinterfragen, ist das große Thema im Werk des deutschen Schriftstellers Friedrich Christian Delius, ein Thema, um dass er sich bereits sehr verdient gemacht hat. Mit dem Blick auf das Aktuelle wie auch das Historische – zwei Elemente, die in seinen Büchern meist gekonnt zusammenfallen – verzeichnet er die Grundlinien in der Architektur des deutschen Selbstverständnisses, leuchtet aber auch die Ecken aus, in die dieses Selbstverständnis gerade nicht dringt.

In “Die Flatterzunge” stellt uns Delius einen durch die Verhältnisse veruteilten vor, einen Buhmann. Eine interessante Entscheidung ist es, dass er das Hauptaugenmerk der Handlung dabei nicht so sehr auf die mediale Ausschlachtung des Fehltrittes legt, sondern stattdessen in tagebuchartigen Skizzen des Protagonisten die persönliche Seite der Geschichte erzählt. Hannes, der Durchschnittsmensch und Musikversessene, wirkt dabei weder besonders souverän, noch besonders engstirnig; Delius gelingt eine sehr authentische Gestalt, die weder zu einer Zerrbild noch zu einem Symbol für das selbstbestimmte Individuum verkommt, sondern ebenso reflektiert wie uneinsichtig mit seinem Schicksal hauszuhalten versucht und sowohl in die Gründe seiner eigenen Geschichte und Seele hinabsteigt als auch an der Oberfläche der heuchlerisch-gesellschaftlichen Kehrseite kratzt.

Wo muss man ein Bewusstsein für Geschichte und Bedeutungen haben und wo nicht? Wofür darf man Menschen verdammen und was ist erlaubt, was ist zu Unrecht eine Tabu und was zu Recht? Fragen, die aus den Kreuzungen der Gedanken entstehen, die der Protagonist wie kopflos und doch sehr klar in seinen Stimmungsbildern und Rechtfertigungsansätzen niederschreibt. “Die Flatterzunge” ist letztlich nur eine sehr schmale Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit des Dritte-Reich-Erbes. Aber die direkte, unsouveräne Gangart des Buches macht es wieder zu einer Erfahrung, die die Wichtigkeit des Themas unterstreicht.

Zu Jehuda Amichai


“…und der Mond, wie ein große Kanne, neigte sich und begoß meinen durstigen Schlaf…”

“Siehe, Gedanken und Träume spinnen über uns
ein Kreuz und Quer, ein Tarnungsnetz
und die Spähflugzeuge und Gott
werden niemals wissen,
was wir wirklich wollen
und wohin unser Weg geht.

Nur der Laut, der aufsteigt am Ende der Frage,
steigt weiter über die Dinge hinaus und bleibt oben,
auch wenn ihn Granaten auslösten,
wie eine zerrissene Fahne,
wie eine gespaltene Wolke.”

Das abstrakteste Wort für Heimat bleibt Heimat, hat Brecht einmal gesagt. Und bei vielen anderen Dingen ist es ebenso; tagtäglich begegnen wir ihnen, diesen Begirffen und sie heißen, wie sie heißen und benennen Liebe, Angst, Wut, Sehnsucht, oder auch Du und Ich und wir und alles, Leben und Sterben.

Gedichte öffnen eine Tür zu diesen Begriffen, die sich im Gebrauch schon abgenutzt haben und ihre Bedeutung oft nur durch Kombinationen und Verdeutlichungen wiedergewinnen können; Gedicht sind ein sich annähernder Umweg, der zu dem Ton, der Gewichtung, dem Bild, der Empfindung eines Gefühls oder einer Idee, einer Stimmung führen kann, welcher in seiner normalen Bezeichnung keinen Ausdruck mehr findet, weil Sprache im Grunde eben nur ein Bezeichnungsebene ist, die das Gedicht in größeren Zusammenhängen zu etwas Besonderem machen kann, etwas Spürbarem. Ich und wohl auch viele andere lesen deswegen Gedichte, wegen der Möglichkeit, diese Wege zu begehen und zu erfahren; nicht nur deswegen, aber auch deswegen.

“Nach Mitternacht, als unsere Worte begannen,
die Welt zu beeinflussen,
legte ich meine Hand auf deine Stirn:
deine Gedanken waren kleiner als ein Handteller.
Doch ich wusste, dass war ein Irrtum.
Wie der Irrtum des Handtellers,
der die Sonne verdeckt.”

Man muss nicht Gedichte analysieren, um sie zu verstehen. Und man muss Gedichte nicht verstehen, um sie zu analysieren. Ich persönlich habe immer nach Gedichten gesucht, die nicht interpretiert, sondern nachempfunden werden wollen als die Verdichtung einer Idee, die direkt von der Wirklichkeit abstammt. Ich habe viele Dichter gefunden, deren Gedichte dies können (wobei viele von ihnen sicherlich auch interpretiert und analysiert werden können.)

Jehuda Amichai, ein bedeutender Dichter Israel gehört bedingt auch zu dieser Sorte von Dichtern, wobei seine Dichtung zweischneidig ist. Sie hat klare, wortmalerisch-suchende Aspekte, aber auch eine zeitlose mystische Komponente, die ganz selten sogar kabbalistische der judäischen Religionsphilosophie innehat. Natürlich wartet seine Lyrik auch mit einigen charakteristischen israelischen Lebensrealitäten und -metaphoriken auf. Zwischen der europäischen “Tradition der wechselnden Traditionen” und deren schlussendlicher Liberalität und der bewussten Tradition östlicher und arabischer Lyriken, steht Jehudas Werk auf sehr eigenen und doch von beiden Seiten aus zu erreichenden Gründen.

“Der Abschied von einem Ort, an dem du
keine Liebe hattest, enthält den Schmerz
über all das, was nicht war. Und die Sehnsucht
nach dem, was hier sein wird, nach dir.”

Es ist eine zarte, sehr individuelle Lyrik – ein gutes Beispiel für eine Poesie, die einen klar verorteten Hintergrund und Ausgangspunkt hat und eine einfache, von dort aus wachsende Sprache, die sich nicht zu hoch reckt und nicht zu weit ausbreitet. Teilweise ist geerdete Art mit ihrer einfachen Bildersprache sehr lesenswert, teilweise schon wieder sehr in sich versunken. Es gibt 4-5 Gedichte die wunderschön und durchgängig stimulierend auf die lesenden Zellen des Körpers und des Geistes wirken. Und einige Gedichte, die für einen Leser, der gerne eher seichte und nebulöse Gedichte, mit ein bisschen abstrakter Begriffmalerei liest, auch das richtige sein dürften.

Link zum Buch

Drehn Sie sich nicht im Grabe um, Herr Kishon! – eine kleine Empfehlung zu Kishons Satiren und seinem ersten Buch “Drehn sie sich um Frau Lot”


“Das vorliegende Buch ist die erste Sammlung satirischer Kurzgeschichten aus Israel seit 2000 Jahren. Schon aus diesem Grund verdient es ein gewisses Maß an Hochachtung. Das dieser Grund gar kein Grund ist, da in Israel alles im Moment zum ersten Mal seit 2000 Jahren geschieht, schadet nicht und sei dahingestellt.”
Aus dem Vorwort

Ephraim Kishon, geb. 1924, kam 1949, als in der ersten Stunde, als Ferenc Hoffmann aus Ungarn nach Israel. In der Hafenstadt Haifa veränderte der israelische Einreisebeamte den Nachnamen kurzerhand in Kishon und setzte statt Ferenc – mit der Begründung so einen Namen gebe es nicht – Ephraim als Vornamen ein. Schon “drei Jahre nach diesem Schicksalsschlag” begann Kishon auf hebräisch Glossen für Zeitungen zu schreiben. “Drehen sie sich um Frau Lot” war sein erstes Buch mit Satiren und wurde in Amerika zum Book of the month gewählt. Weltauflagen in ein dutzend Sprachen folgten. Jedoch befinden sich etwa 2/3 der Weltauflage von Kishons Bücher bei dem Volk im Umlauf, dass ihn seit jeher doch am meisten schätzt: den Deutschen.

“Die Einwohner Israels haben eine gefährliche Manie: Sie wollen unbedingt das Land aufbauen. Aber da die Juden bekanntlich ein arbeitsscheues Volk sind, bauen sie zum Beispiel in drei Tagen ein Haus fertig, um den Rest der Woche faulenzen zu können.
Sollte sich ein Leser augrund dieses Buches zu einem Besuch des Staates Israel entschließen, so wird er dort mit eigenen Augen sehen, dass wir an einem chronischen, unheilbaren Baufieber leiden. Niemand wundert sich wenn irgendein ein Narr sich’s in den Kopf setzt, mitten in der Wüste eine Stadt zu errichten. Wir haben sogar eine ganz hübsche Anzahl solcher Narren. und folglich eine ganz hübsche Anzahl von Städten mitten in der Wüste.”
Anfang von “Der Blaumilch-Kanal”.

Kishonische Komödien suchen noch immer ihresgleichen. Vielleicht ist er nicht der bissigste oder beste, doch gewiss der unterhaltsamste und, trotz der thematischen Begrenzung auf den Raum Israel, auch der vielschichtigste Satiriker seiner Zeit. Mit seiner etwas überdrehten und doch immer trefflichen Gratwanderung zwischen realer Grundproblematik und satirischer Übertreibung bringt er nicht nur zum Lachen – immer wieder liefert er auch hervorragende Streiflichter und Parabeln des Alltags, der Politik und der Gesellschaft – und nebenbei versorgt er einen außerdem mit neuen vergnüglichen Anekdoten und Geschichten zum weitererzählen.

“Sehr viele Dinge können in Israel sehr leicht gefunden werden, aber die Straßen sind nicht darunter. Es gibt Straßen, die überhaupt keinen Namen haben, und wenn sie einen haben, dann gibt es keine Tafel, die ihn nennt. Mein Freund Jossle pflegt den Weg zu seinem Haus ungefähr folgendermaßen zu beschreiben: -Sie gehen vom Mograbi Square in die Richtung zum Strand, bis Sie auf einen Mann in einer Lederjacke treffen, der sein Motorrad repariert und die Regierung verflucht. Dort biegen Sie bis links ein und zählen bis zum 22. Olivenbaum. An diesem Punkt wird Ihnen ein fürchterlicher Gestank auffallen. Halten Sie sich rechts und folgen Sie der Steinmauer bis zum Katzenkadaver. Dann biegen sie wieder rechts ein und gehen bis zur jugoslawischen Bücherei (Vorsicht: nicht der rumänischen!) gegenüber dem Kino (nicht dem, wo französische Filme im Saal 3 laufen), wo ich auf sie warten werde, denn von dort an wird der Weg etwas kompliziert.”
Der Anfang von “Verirrt in Jerusalem”.

Es lohnt sich immer Kishon zu lesen. Er ist einer der cleversten, unterhaltsamsten und charmantesten Erzähler, die ich kenne. Und wer immer noch mit Sorgen über die Themen der Satiren die Stirn runzelt und sich fragt ob ihn solcherlei aus Israel importiert wirklich erheitern kann, der lasse sich sagen, “dass dem Leser die üblichen Lobeshymnen über Israel ausnahmsweise erspart bleiben sollen und dass er statt dessen den Vorzug genießen wird, nur das Beste über Israel zu hören.”

Wer direkt “fast” alles haben will, was Kishon zu bieten hat, kann auch zu dem großen Langenbuch Alle Satiren greifen

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Drehn-sich-Frau-Bestseller-Bibliothek/dp/3898971082/ref=sr_1_4?s=books&ie=UTF8&qid=1379236176&sr=1-4&keywords=Drehen+sie+sich+um+frau+lot

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen