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Zu den Texten in “Charisma – Sämtliche Stories” von James Salter
“Es war spät am Nachmittag und ein Regenschauer war vorübergezogen. Das Licht war silbrig und seltsam. Autos, die aus dem Regen auftauchten, hatten die Scheinwerfern und Scheibenwischer an. Die gelben Straßenbaumaschinen, die am Straßenrand standen, leuchteten unnatürlich grell.
Es war die Stunde kurz nach der Arbeit, wenn hoch oben in der Luft die Tropfen der Bewässerung glitzern, die Hügel dunkel zu werden beginnen und die Wiesen wie Teiche sind.
Sie ritt alleine oben den Kamm entlang. Sie saß auf einem Hengst namens Fiume, groß, wohlgeformt, aber nicht sehr klug.”
Es gibt Dinge, die liest man, und schon im Moment der Lektüre werfen sie einen weiten Schatten; schon meint man bereits zu wissen, dass einem der Text – oder eine Formulierung, eine Atmosphäre, ein Eindruck – noch lange im Gedächtnis bleiben wird, vielleicht sogar wieder und wieder beschwörend aus der Erinnerung hervorbricht, in die er sich unerklärlicherweise eingebrannt hat. Natürlich kann auch der stärkste Eindruck schnell schwinden und zumindest mir wird es immer ein Rätsel bleiben, warum ich mich an manche Bücher und Texte so genau und nachdringlich erinnert fühle und von manchen nur ein gesetztes, schlichtes Resümee, eine Meinung, eine Sympathie oder Abneigung, geblieben sind.
Fest steht: es gibt Texte, die schon beim Lesen das Gefühlt aufkommen lassen, dass sie ein besonders eindrückliches Licht in sich tragen und lange Schatten werfen können. Zu diesen Texten gehören auch einige der Kurzgeschichten von James Salter, die in diesem Band versammelt wurden.
Was löst das Licht aus, was erschafft Atmosphäre, Eindruck, Eindringlichkeit? So unterschiedlich die Quellen für diese Erscheinung sind, oft entspringen sie in der Literatur einem Merkmal, das Prosa im Allgemeinen hervorhebt oder einreiht: dem Stil. Zu dem schrieb Salter in einem der ebenfalls enthaltenen Essays über das Schreiben und Lesen:
“Stil. Flaubert ging es um Objektivität und um den Stil, um die präzise Wahl des richtigen Wortes. Sprache ist ein natürliches Merkmal des Menschen, und meist kommt sie mühelos hervor, sozusagen nolens volens, aber Schreiben ist nicht das Gleiche, Schreiben ist schwieriger.”
Ganz so gekonnt wie sein Ahne Flaubert geht Salter allerdings nicht immer vor; dann und wann kommt das Bedürfnis über ihn, etwas zu hastig zu erklären, was seine Figuren gerade bewegt, anstatt es ein wenig den Untiefen seiner Sätze zu überlassen (den Wörtern, die Fassaden errichten, aber auch einen Riss in der Fassade darstellen können) oder eleganter den Innenraum seiner Charaktere zu entfalten; manchmal gelingt es ihm dann wieder vorzüglich und erstaunlich. Und somit gibt es einige Erzählungen in “Charisma”, die etwas Vollkommenes haben, die in ihrer offenen Existenzschau großartig Emotionen verdichten oder auch Szenarien.
Die Schilderung geschieht oft wie von leichter Hand, obgleich Salter zeigt, wie unter der Oberfläche die heftigsten Gefühle und verschiedensten Ideen, Regungen und Möglichkeiten auflodern und kreisen. Der oben zitierte Abschnitt stammt aus einer Erzählung, die die letzten zwanzig (wachen) Minuten einer Frau beschreiben, nachdem sie vom Pferd gestürzt ist (das Pferd fällt danach auf sie und zertrümmert dabei natürlich ihre Beine und vermutlich noch einiges mehr). Ihre Gedanken und Erinnerungen werfen sich auf, man spürt förmlich, wie das Leben lebendig und doch versickernd an ihrem inneren Auge vorbeizieht, wie sich aufbäumt und doch flüchtet. Der Landschaft, der Umgebung, dem Dahinziehenden, wird die sich rasch verschiebende, aufleuchtende und dunkle Landschaft der Seele gegenübergestellt.
Ich würde sogar so weit gehen und sagen: die Differenz (und Ambivalenz) zwischen den einfachen Schilderungen der Lebensumstände und den in ihrer ganzen Aufgewühltheit geschilderten und stets mit eingebrachten Innenleben, macht die Meisterschaft von Salter aus. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Figuren ungeheuer lebendig zu machen, mit ihrem Verlangen, ihrer Geworfenheit – und noch mehr: es gelingt ihm einen wesentlichen Widerspruch des Menschen darzustellen: auf der einen Seite das sozialisierte, in Gesellschaften und Abläufen lebende, Vernunft und Regeln folgende Geschöpf und auf der anderen Seite ein Wesen, das von leidenschaftlichen, widersinnigen (oder vielleicht gerade sinnigen?) Sehnsüchten und Wünschen erfasst werden kann und sich trotz des dahinlaufenden Existierens immer wieder daran erinnert, dass es lebt und stirbt, dass es ganz allein ist und nicht allein sein will.
Diese Meisterschaft kommt der speziellen Meisterschaft Flauberts dann doch wieder sehr nah. Im Prinzip hat auch Flaubert die Beweggründe seiner Figuren, ihre innere Zerrissenheit, ihre Suche, sehr deutlich exponiert und dem bürgerlichen Dahinlaufen des Lebens entgegengestellt (um nichts anderes geht es, verkürzt, in Madame Bovary).
Es gibt Bücher, von denen sagt man, dass sie „erhebend“ sind, andere sind „unterhaltsam“. Beides wären viel zu beliebig wirkende Bezeichnungen für Salters Storys, vielleicht sogar unzutreffend. Am besten gefällt mir immer noch, sie als „eindrücklich“ zu bezeichnen. Verdammt eindrücklich. Diese Eindrücklichkeit, die verdichtet, aber auch Dinge zersplittern lässt, sie macht viel von dem Reiz aus, den diese Erzählungen ausstrahlen. In jedem Fall: ein paar Meisterwerke sind hier zu finden.
Das Phantastische in der Upper-Class-Gesellschaft – Henry James Erzählungen in “Die Freunde der Freunde”, Bibliothek von Babel Band 11
Die Passion des großen argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges war die Faszination; sie ist ein Gut, das die Menschen von jeher dazu angehalten hat, die Welt zu deuten, zu preisen, zu durchleuchten und zu bewundern. Und vielleicht liegen die größten (teilweise fiktiven, imaginierten, irrationalen, teilweise wissenschaftlichen) Errungenschaften des Menschen gerade in dieser seiner Fähigkeit der Faszination begründet. Es ist das Staunen und der darin schon angedeutete Zug des Liebenswerten und Schönen, des Wahrhaftigen, Begriffe, die wir als die höchsten Auszeichnungen des Herzens sehen.
Borges war einer der eifrigsten und erfolgreichsten Sammler von faszinierenden Geschichten, und Ideen, entnommen aus Religion, Philosophie, Literatur und Ereignissen der Geschichte und eigenen Gedanken. Sein Werk spiegelt es wieder und ist im Grunde ein einziger, langer, offenbarender Kommentar zu den Wundern des Geistes und der Welt, dem tief verborgenen Anliegen unseres Lebens, sich immer wieder neu zu entfalten, neu zu gestalten, neue Impulse zu erfinden und zu empfangen. Ich kenne kein Werk, das mich so zum Denken und Vorstellen inspiriert hätte und auf keinen Fall eines, dass sich so oft mit immer neuen Ideen und Eindrücken wieder lesen lässt.
Wie bereits schon erwähnt, war Borges ein großer Sammler – er hat einige Anthologien herausgebracht, (im Deutschen erschienen sind eine über die verschiedenen Vorstellungen von Himmel und Hölle in den Weltreligionen/-mythen, “Das Buch von Himmel und Hölle”, eine Sammlung imaginärer Wesen aus allen Weltkulturen, “Einhorn, Sphinx und Salamander”, und ein Buch voller berühmter Traumerwähnungen/-szenen aus der Weltliteratur, das “Buch der Träume”) schrieb über zahlreiche Werke seiner Zeit und unbekannte Schriftsteller der englischen und amerikanischen Literatur, führte eine Liste mit herausragenden Kriminalromanen, die er gelesen hatte und stand Pate für die Bibliothek von Babel in 30 Bänden, die die Meisterstücke phantastischer Erzählkunst beherbergen sollte.
Band 11, “Die Freunde der Freunde”, ist Henry James, gewidmet, einem mehr gesellschaftlichen als wirklich phantastischen Erzähler; zwar schrieb er auch die einzigartig mehrdeutige Erzählung “The Turn of the Screw”, die drei (oder mehr) mögliche Erklärungen für den Handlungsverlauf zulässt und somit als phantastisch bezeichnet werden kann, aber er ist doch bis heute mehr für seine akribisch-gesellschaftlichen Romane bekannt, der berühmteste natürlich das “Bildnis einer Dame”. Nach der Lektüre drei der vier enthaltenen Erzählungen muss man dieses Bild vielleicht etwas revidieren.
Henry James ist ein eleganter, umsichtiger und dennoch sehr unterkühlter Erzähler, dessen Stärke ganz klar in der Schilderung und nicht in der Lebendigkeit der Erzählung liegt. Somerset Maugham warf seinen Romanen eine starke Technisiertheit in Charakteren und Handlungsverläufen vor, Chesterton stellte die Lebendigkeit seiner Figuren in Frage. Was für die Romane gelten mag, ist in den Erzählungen nicht vorzufinden: James Figuren haben eine sehr präzise Art sie selbst zu sein und auch wenn man sie niemals mit den Adjektiven authentisch oder echt auszeichnen würde, ist ihr Gehalt und ihre Ausformung im erzählerischen Rahmen, ihre Position im narrativen Geflecht, stets tadellos und keineswegs belanglos. Auch hat James nie mit Stereotypen gearbeitet, viel mehr haben ihn immer wieder andere Menschen, andere Bedingungen für seine Figuren interessiert. Das macht jede Geschichte auf besondere Weise einzigartig, in der Wirkung wie auch in der Nachvollziehung der Handlung, da jede Figur eine einzigartige Variable darin darstellt.
Mit James Sprache ist es so eine Sache – der nicht gerade immer zielgerichtete, sondern sich mehr in die Thematik der Geschichte vertiefende (in extremen Fällen versteifende) und manchmal in (aus heutiger Sicht) etwas umständlichen Formulierungen verfallende Stil ist sowohl im Englischen als auch im Deutschen eine Herausforderung für den Leser, wobei die vorliegende deutsche Übersetzung weniger den Vorzug des Originals hat, in dieser altmodischen Syntax einer gewissen Eloquenz und Eleganz nicht zu entbehren (dieser Satz von mir auch direkt als Beispiel für die etwas umständliche Art der Formulierung von James).
Die Geschichten selbst sind Musterbeispiele jener Literatur, die verschiedene Menschen zusammenbringt, um die Konflikte des menschlichen Wesen und die Erkenntnisse über selbiges aus dem Umgang zu filtern. Übergreifend geht es dabei in allen vier Texten um die Art, wie Menschen wahrgenommen werden und in wie weit die Identität und das Verständnis eines Menschen von gesellschaftlichen Umständen abhängig sind. Das diese Erzählungen dabei ins Phantastische stechen, gibt ihnen den Zug des Geheimnisvollen und es ist James sehr gut ausgeloteter Balance zu verdanken, dass die Geschichten trotzdem nie irreal oder grotesk werden – vielmehr berühren sie die Ränder des Unheimlichen, der Ungewissheit, die stets in den abgelegenen Räumen des Lebens präsent zu sein scheint, sich manchmal aber auch am Rande unseres Dasein manifestiert, andeutet, ein Ansatz abnormaler Tendenz, welcher uns dann und wann voll durchdringt.
Wer gerne altmodische Erzählungen liest und dabei Freude an phantastischen Elementen & Wendungen und einer Anwandlung des Rätselhaften findet, der kann mit diesem Buch nichts falsch machen und wird es in dankbarer Erinnerung behalten. Es ist vollmundig und lässt kaum einen Wunsch beim Leser offen, dafür gibt es ihm, mit der Mehrdeutigkeit im Wesen der Erzählungen, hier und da etwas zum Nachdenken und auch wenn die Geschichten keine Parabeln an sich sind, haben sie diese spezielle Wirkung, die so etwas wie tiefer eingesetzte Erkenntnis in dem Geschehnisgerüst der Narration vermutet. Diese spezielle Wirkung, welche die Geschichten nie ganz als abgeschlossen sehen kann, lässt die Idee der Texte noch lange nachglimmen.
Link zum Buch
“Dubliners” von James Joyce
James Joyce, Autor von so (un)erzählerischen Werken wie Finnegans Wake und Ulysses, gilt wohl als einer der komplexesten Autoren des 20. Jahrhunderts; und als einer der Wegweiser des modernen Romans und der Erzählung. Tucholsky hatte wohl Recht, als er über den Ulysses sagte: “Er ist wie Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.”
Wenn man nun auf Joyce Werk “Dubliner” schaut, wird man erstaunt sein. Denn statt auf ausladende, wirre oder kompliziert generierte Prosa zu stoßen, findet man hier filigran gearbeitete Erzählungen, 15 an der Zahl, alle in einem gewissen Maße einzigartig und unvergleichlich, ihre Themen weitläufig und alle so fein und atmosphärisch inszeniert, dass man insgesamt von einem Meilenstein des Kurzgeschichtengenres sprechen kann.
Ich habe (im Netz und anderswo) schon bemerkenswert viele Interpretationen und Anmerkungen zu diesen Erzählungen gefunden. So stieß ich einmal auf einen sehr interessanten Text, in dem aufgezeigt wurde, dass die Erzählungen keineswegs willkürlich geordnet sind, sondern das die ersten drei von Kindern, die nächsten drei von jungen Erwachsenen erzählt werden u.s.w.
Ich denke für jeden Leser gibt es vielleicht noch dererlei zu entdecken.
Joyce selbst hatte die 15 Erzählungen gleichermaßen als authentische Szenen des Dubliner Lebens und als Burlesken und Karikaturen angelegt, wobei er später nur noch letzteres gelten ließ, nachdem er seine Darstellung von Dublin ja in seinem “Ulysses” vollendet hatte. Jedoch, wie so häufig (Swift passierte es, als er mit “Gullivers Reisen” eine Satire schreiben wollte und daraus wurde ein Kinderbuch) haben die Erzählungen sich heute von der Intention des Autors gelöst und wir können neue Qualitäten in ihnen entdecken. Denn ganz davon abgesehen, dass die eigentlichen Geschichten sicherlich in all ihrer Tragik, Verwerfung und Resignation viele unterschiedliche Ausdeutungen zulassen, sind auch die Figuren, dank Joyce exzellenter Fähigkeit der Charakterzeichnung, bis heute fast zu symbolträchtigen Personen herangewachsen. Jene Frau, die am Kai steht, um mit ihrem Geliebten außer Landes zu flüchten, voller Selbstzweifel und Entscheidungsnot oder jene Gesellschaft in der letzten, größeren Erzählung, von der alle, nachdem Fest in die Nacht entlassen, ohne Glück sind, sie alle wachsen als Charaktere über den eigentlichen Kosmos der Erzählungen hinaus und bleiben in der Vorstellung des Lesers unnachahmliche Beispiele menschlichen Lebens und Leides.
Dubliner ist einfach eine einzigartige Erfahrung auf dem Gebiet der kurzen Geschichten. Joyce lesen heißt, für immer seinen Horizont und seine Erfahrung zu erweitern, Dubliner bildet hier keine Ausnahme und ist vielleicht das einfachst-subtilste Beispiel seiner Kunst. Zuletzt ist es demnach auch, wie T.S. Eliot schon sagte, die “einzige Möglichkeit, das Werk eines der größten Schriftsteller zu verstehen.”
Link zum Buch: http://www.amazon.de/Dubliner-James-Joyce/dp/3150202264/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1379068251&sr=1-2&keywords=dubliners
*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen