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Zur neuen Edition des “Kopfkissenbuch”s von Sei Shōnagon


Kopfkissenbuch

Jemand ist zu mir nach Hause gekommen und unterhält sich mit mir. Währenddessen reden meine Familienangehörigen im Nachbarzimmer laut und offen über die privatesten Angelegenheiten, und ich muss das mit anhören, ohne es unterbinden zu können. Ebenso peinlich ist es, wenn mein Geliebter im Vollrausch das Gleiche tut.

Die japanische Literatur kennt zwei frühe Werke, die von Autorinnen verfasst wurden und zur Weltliteratur gezählt werden müssen: Einmal „Genji Monogatari“ (Die Geschichte des Prinzen Genji) von Murasaki Shikibu, ein nach wie vor großartiger Roman, und das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon. Es gibt einige Parallelen zwischen den beiden Büchern, aber natürlich auch entscheidende Unterschiede.

Beide Autorinnen waren um etwa 1000 n.Chr. (eine Zeit lang auch gleichzeitig) Hofdamen am Kaiser*innenhof und ihre beiden Werke „spielen“ ebendort, berichten vom Leben, Lieben und den sonstigen Beschäftigungen der Elite des Landes. In ihren beiden Werken ist es hauptsächlich eine Mischung aus Klatsch, Intrigen und Nebensächlichem, welche die Handlung bestimmt.

Während sich Shikibu mehr auf die Geschichte ihres Prinzen konzentriert (dabei allerdings auch allerlei andere Geschichten und Blickwinkel einbindet, oft sehr geschickt), erhalten wir bei Shōnagon mehr Einblicke in die Welt und die privaten Momente eines damaligen Frauenlebens bei Hof. In ihrem Kopfkissenbuch hat sie nämlich alles notiert, von Befindlichkeiten und erotischen Details bis zu Anekdoten, Gerüchten und Vorgängen in den ihr bekannten Familien und Institutionen. Kurze, fast dem Haiku ähnliche Sentenzen und Notizen kommen ebenso vor wie längere Beschreibungen, Erzählungen.

Insgesamt sind es über 300 Einträge, zu denen sich in dieser Ausgabe ein umfassendes Anmerkungsverzeichnis, plus Nachwort und Begriffsregister, gesellt. Damit ist dieses Manessebuch, übersetzt und herausgegeben von Michael Stein, vermutlich die umfangreichste Edition auf dem Markt und somit auch die beste Art, sich diesem spannenden Werk und Meilenstein der autobiographischen Literatur zu nähern. Enthalten ist auch der ein oder andere Ratschlag, die ein oder andere philosophische Betrachtung, oft irgendwo zwischen Naivität und Weisheit liegend.

In unserer Welt verhält es sich doch so, dass unleidliche Dinge den Menschen grundsätzlich verhasst sind. Selbst der Verrückteste sollte eigentlich Wert darauf legen, sich nicht unbeliebt zu machen.

 

 

Zu “Das Buch der klassischen Haiku”


Das Buch der klassischen Haiku „Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“

So heißt es bei Johann Wolfgang von Goethe. Lyrik allgemein, aber das Haiku im Besonderen, hat sich dieser Kostbarkeit des Augenblicks verschrieben, des unverfänglichen Eindrucks, der aus Millionen sich ausdrückenden Lebendigkeiten eine Facette ausgewählt, einfängt.

„Den roten Nelken
Scheint auf die Stengelknoten
Die Abendsonne“
(Seibi)

Die hier vorliegende Sammlung wurde zusammengestellt und übersetzt von dem im Jahr 2000 verstorbenen Jan Ulenbrook. Vom ihm stammt auch das erfreulich ausführliche Nachwort, in welchem er auch freimütig die Vor- und Nachteile seiner Übersetzungsmethoden anführt und viele Aspekte von Auswahl und der Idee des Haiku erläutert.

Die Sammlung ist unterteilt in fünf Kapitel: eines zum Neujahr und jeweils eines zu einer der vier Jahreszeiten. Innerhalb der Kapitel finden sich wiederum – nicht extra separierte, sondern lediglich durch das Aufeinanderfolgen gruppierte – Sammlungen zu Themen und Motiven der jeweiligen Jahreszeit.

„Vom grauen Himmel
Fällt Schnee auf Schnee herab:
Ein Schmuck den Häusern!“
(Kigô)

Die Haikus sind, wie es der Titel schon ausdrückt, klassisch und auch möglichst formgetreu übersetzt (Silbenanzahl, Wortstellung). Das kann man bemängeln, auch mit guten Argumenten. Aber letztlich muss man bei Gedichtübersetzungen immer Abstriche machen. Manche von Ulenbrooks Übertragungen wirken etwas hölzern, aber die meisten seiner Haikus sind immer noch schöne, gelungene Verdichtungen.

Obgleich es hauptsächlich klassische Haikus sind, stammen auch einige von Dichter*innen, die im 20. Jahrhundert lebten. Im Anhang kann man zu allen Verfasser*innen zumindest die Lebensdaten nachschlagen, Kurzbiographien von einem Satz sind nur wenigen vorbehalten.

„Für alle Türen
ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.“
(Issa)

Man wird schwerlich eine umfangreichere Sammlung finden: über tausend Haikus hat Ulenbrook zusammengetragen. Das heißt natürlich auch, dass man sich seine Lieblinge erst herauspicken muss. Wenn man sich damit zeitlassen will, was zu empfehlen ist, begleitet einen das Buch vermutlich eine ganze Weile. Es ist auch möglich, erst in der jeweiligen Jahreszeit zu dem Band zu greifen.

So oder so: ein Bändchen, das in keiner Büchersammlung fehlen sollte.

„Der Frühlingswind, horch,
Läuft durch die Weizenfelder
Wie Wasserrauschen.“
(Mokudô)

Zu Brautigans “Sombrero vom Himmel” über das Schlachtfeld der Liebe


Mit Langsamkeit und Zärtlichkeit und Bissigkeit, schildert Richard Brautigan in seinem Buch “Sombrero vom Himmel” den Abend eines von seiner japanischen Freundin verlassenen Schriftstellers. Er rekapituliert ihr Kennenlernen und ihre gemeinsame Zeit und die kleinsten profanen Details seiner Gedanken werden ausgebreitet: er stellt sich ihr langes, schwarzes Haar vor, hat Angst davor, dass sie bereits einen anderen hat, er hat Hunger, er denkt daran sich abzulenken und kann den Zustand des Trauerns nicht verlassen.

Der zweite Erzählstrang beschreibt die Geschehnisse in einer Stadt in den USA (der Schriftsteller wollte dort eine Geschichte spielen lassen, dann zerriss er aber den Entwurf und warf ihn in den Papierkorb, doch die Papierschnipsel spinnen die Geschichte trotzdem fort), in der auf einmal wegen eines vom Himmel fallenden Sombreros zunächst Krawalle und dann Straßenkämpfe ausbrechen, bevor sich die Gewalt schließlich mit voller Härte gegen die anrückenden Nationalgarde und die schließlich eingreifende Armee richtet.

Das Nebeneinanderstellen der beiden Stränge – hier die Agonie, dort das blutrünstige Aufschaukeln – wirkt zunächst wie eine Verlegenheitslösung. Doch letztendlich spiegelt sich in diesem Wechsel, den krassen Gegensätzen, die Zerrissenheit der Liebe wieder. Sie zwingt einen in die Knie, in die Enge und doch fühlen die Verliebten das Unbändige, den Ruf der vom Schlachtfeld der Liebe herüberweht und kein Nein akzeptiert. Man will und will, kopflos und mutlos.

Sombrero vom Himmel ist ein traurig-schöner, ein seltsamer, ein leicht aberwitziger Roman. Aber im Kern bewältigt er, gerade in seiner Ironie, seiner Bissigkeit, seiner Offenheit, ein menschliches, existenzielles Dilemma.

Wo Ferne auch Nähe ist… – Mit ungetrübtem Blick die Wahrheit sehen. Etwas zu “Prinzessin Mononoke”


“Märchen und Fabeln sind nur eine andere Art der Welt ihr Gesicht zurückzugeben.” Samuel Taylor Coleridge

So oft ich diesen Film gesehen habe, so viele widersprüchliche Schlüsse ich über die Jahre daraus gezogen habe – immer war es erneut ein beeindruckendes Erlebnis. Vermutlich lässt sich bei fantasievollen Geschichten, die das Potenzial einer anderen Welt voll ausreizen und noch im kleinsten Teil eine ganz eigene Idee tragen, kein letztendlicher Schluss ziehen und auch keine Beurteilung oder Interpretation abgeben, da diese Filme eine Art Faszination in sich selbst sind.

Aber es liegt mir doch viel daran den ganz eigenen Zauber der Filme von Hayao Miyazaki (zu denen auch das frühe, fast genauso eigenständig phantasievolle und ebenso geniale Juwel „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ gehört und natürlich das bekannte Werk „Chihiros Reise ins Zauberland“ gehören) noch einmal zu unterstreichen und einfach zu sagen: Man muss diesen Film gesehen haben!

Auch sollte sich übrigens keiner abschrecken lassen, der sonst nicht auf Zeichentrickfilme steht oder mit diesem Medium bisher nichts anfangen konnte. Denn das Format bestimmt (oder beeinträchtigt) in diesem Fall nicht die Erfahrungsmöglichkeiten des Films und wird auch nicht genutzt um im klassischen Anime-Stil Übertreibungen und Slapstickereien Vorschub zu leisten. Stattdessen erlangt der Film in dieser Eigenschaft eine neue Möglichkeit: Die Dinge mit unverstelltem Blick zu sehen.

Wie den Film, die Geschichte beschreiben, auf ihren Zauber hinweisen, ohne eine bloße Nacherzählung zu beginnen; wie das Wesen, den Kern bestimmen?

Man könnte es sich in etwa so vorstellen: Prinzessin Mononoke ist wie ein Buch, eine Sage, in einen Film transformiert. Der größte Teil der Handlung spielt sich nicht in der Visualität der Bilder auf dem Schirm, sondern im Zuge der Faszination ab, die Welt und Handlung in sich tragen; um in einem Film während der Zeit in der man ihn sich anschaut zu leben, bedarf es oft zu großen Teilen einer Synthese aus Vorstellung und Anregung, einer Verbindung aus dem was da ist und dem, was auch noch darin ist, obwohl es nicht direkt vorkommt.

Wenn es einen Film gibt, der diese Synthese nahezu perfekt in sich trägt, dann ist es „Prinzessin Mononoke. Denn es ist ein Film, der über sich hinauswächst, wie es nur wenige schaffen, der mehr als seine eigene Geschichte, mehr als sein eigener Ausdruck und eben auch mehr als sein eigenen Format ist.

Wie ein Film uns letztlich begegnet ist doch eigentlich nur wichtig im Bezug auf die Geschichte, die er uns erzählt und die Welt, die er mit dieser einen, repräsentativen Geschichte zu erschließen vermag. Und die Geschichte und die Welt die Miyazaki erschaffen hat, ist ein so gekonntes Zusammenspiel aus Mystik und Fantasie, eine Idee von Philosophie, Natur und auch von Menschlichkeit, die eine bedeutsame und unverbrauchte Schönheit innehat.

Man kann in diesem Film sicherlich vielerlei interpretieren, wenn man es auch nicht muss, um ihn wunderbar zu finden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass er auch “intellektuelle” oder “tiefere” Ansprüche befriedigen kann; gerade wenn man ihn, wie ich, öfter sieht, wächst er doch noch mit jedem Mal. Und immer wieder hat er etwas unsagbar Episches, Anderes. Ein Gefühl von der Freiheit der Geschichten und doch immanent eine Botschaft von der Weisheit, der Einsicht, die Geschichten uns bedeuten können.

*Diese Rezension ist bereits teilweise auf Amazon.de erschienen.