„Menschen konnten über alles Mögliche Gewissheit erhalten, nur nicht über die wahren Gründe ihres Handelns.“
Es ist gar nicht so leicht, Johannes Wallys Roman „Das Gewicht der Bilder“ beizukommen. Augenscheinlich vollzieht sich in dem Buch eine ziemlich konventionell erzählte, stringente Geschichte über eine Liebe, den Optimierungsimperativ/gesellschaftlichen Leistungsdruck und die entscheidenden Momente, in denen sich in unseren Geschichten so etwas wie Schicksal verdichtet. Doch durch die Art, mit der manche Motive sich, fast klammheimlich, entfalten und auch weil sich die Perspektive während des letzten Drittels der Erzählung stark wandelt, wird aus dem zunächst simpel erscheinenden Konstrukt ein, zumindest in den Ausläufern, ungleich komplexeres Vexierspiel.
Die Geschichte beginnt in einem Fitnessstudio (ein kleines, keine High-End-Ketten-Einrichtung), wo die Protagonistin und Ich-Erzählerin Vanja, Ende 20, regelmäßig trainiert. Dort lernt sie auch Arthur kennen, besser gesagt: sie hat ihn schon kennengelernt, wir werden nur Zeuge der letztendlichen Vollziehung ihrer Annäherung. Alles deutet auf ein relativ schnell gedeihendes, nur mit den üblichen Abwehrreflexen gespicktes Glück zu zweit hin.
Doch Arthur, charmant und lebenslustig, entpuppt sich schnell als ein Getriebener, der nach einer Zeit der Arbeits- und Erfolglosigkeit unbedingt eine neue Geschäftsidee umsetzen will. Doch er braucht jemanden, der für einen Kredit bürgt, der ihm den Einstieg ermöglichen soll. Aufgrund einer Verkettung von Umständen, die auch mit einem Unfall und wohl auch dem Wunsch nach einem restlos-verbindenden Element zu tun haben, bürgt Vanja, trotz ihrer sich als wacklig herausstellenden Anstellung, für den Kredit und Arthur beginnt mit einem gemeinsamen Bekannten der beiden ein vielversprechendes kleines Business im Bereich der Getränkeindustrie. Doch schon bald scheint ihm die Erfüllung seines Wunsches und die viele Arbeit über den Kopf zu wachsen – und mit einem Mal ist alles anders …
Obgleich das Buch mit Roman betitelt ist, könnte man bei „Das Gewicht der Bilder“ auch von einer Novelle sprechen, denn der Text hat ein sehr überschaubares Personal und ist sehr linear erzählt. Zur Novelle passt auch, dass es letztlich ein Ereignis (“eine unerhörte Begebenheit”, wie Goethe einmal sagte) ist, welches die Weichen stellt und dessen Folgen zu dem zentralen Wendepunkt in der Handlung führen, der ebenfalls ein Merkmal der Novelle ist. Zudem ist die Protagonistin, wenngleich involviert, meist eine außenstehende Beobachterin der Prozesse.
Die Protagonistin Vanja ist neben ihrem Beruf (Lehrerin) auch Malerin – ihre Spezialität ist es, Gemälde zu malen, die dem Anschein eines Fotos nahekommen. Fotos halten zwar nur Momente fest, aber werden oft nicht nur als Momentaufnahme, sondern als Darstellung eines Ganzen wahrgenommen, als charakteristisches Element des Dargestellten. Das Gewicht der Bilder liegt dabei allzu oft in der Waagschale, die sich zu unseren Wünsche und Vorstellungen hin neigt, zumindest, wenn das Foto derlei ermöglicht.
Dieses Motiv von Schein und Sein findet sich auch in der Erzählperspektive. Vanja ist die einzige Quelle für Informationen, wir erfahren nur, was sie erfährt und vollziehen die Dinge vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen nach. Eine Weile scheint diese Rezeptionsart gänzlich unbedenklich, auch weil Wally eine geschickte Erzählführung und eine bestechende Dialogkunst an den Tag legt, was sich allerdings oft erst in späteren Kapiteln gänzlich offenbart.
Man könnte noch weiter aushohlen, was die Psychologie von Vanja betrifft und auch die scheinbar nur am Rande vorangetriebene Geschichte über den frühen Verlust ihres Vaters mit ins Bild ziehen. Auch über das Zusammenspiel einiger Motive, bspw. der Fitnessstudiokultur und der Idee von Romantik als zwei Seiten einer Optimierungsidee, könnte man sicher noch einige Worte verlieren, auch unter dem Aspekt, dass wir oft wie jemand wahrgenommen werden wollen, als der/die wir uns dann erst im Nachhinein oder von da an fühlen können.
Fest steht: „Das Gewicht der Bilder“ wirkt zwar zunächst wie eine relativ simple, auf Bodenständigkeit bedachte Geschichte, aber in vielen Abschnitten tun sich vielschichtige Überlegungen und Anregungen auf. Wally schreibt geradlinig, aber sein Stil ist nicht ohne kleine Finessen und erfüllt vor allem die Aufgabe, die Leser*innen auf gelungene Art im Unklaren zu lassen, während alles sehr klar wirkt, bis zum Kipppunkt.
Nicht zuletzt konfrontiert er uns durch dieses Kunststück mit unserer eigenen Vorstellung, mit jener gern gehegten, scheinbaren Gewissheit, dass unser Blick auf die Ereignisse nichts unerschlossen lässt, das für uns von Belang ist. Dass wir aber oft trotz vieler Einsichten ohne die Zusammenhänge macht- und ahnungslos sind, das führt Wally am Beispiel seiner Protagonistin wunderbar vor. Die Macht der Bilder, an die wir glauben wollen, weil sie unsere Bilder sind oder uns so zwingend und eindeutig erscheinen, ist groß. Aber Bilder täuschen uns oder: wir täuschen uns in ihnen.