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Zu “Meine deutsche Literatur seit 1945” von Marcel Reich-Ranicki


Meine deutsche Literatur nach Er war nicht nur einer der einflussreichsten, sondern auch einer der strengsten und launigsten Kritiker der BRD, das wird in diesen gesammelten Essays & Rezensionen zur deutschen Nachkriegsliteratur deutlich. Neben exzellenten Darlegungen der Stärken von Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Wolfdietrich Schnurre, Thomas Bernhard u.a., finden sich hier auch einige Beispiele für die überspitze Zunge des Maestros M.R.R. – nicht nur verreißt er ziemlich zwanglos Günter Grass Debüt “Die Blechtrommel” und mäkelt an Uwe Johnson herum, auch manch andere Bemerkung, die durchaus kühn gewesen sein mag, wirkt heute etwas rückständig, etwas spitzfindig.

Man muss nicht Franz Josef Czernins “Marcel Reich-Ranicki, eine Kritik” gelesen haben, um den Doyen der Literaturkritik nach 1945 kritisch zu sehen. Er war ein Meister der Selbstinszenierung und in mancherlei Hinsicht schlicht verbohrt. Dennoch war auch ein sehr bedeutender und aufmerksamer Zeitzeuge und ein in weiten Teilen gewissenhafter Essayist und Kritiker, der sich vielen (nicht selten heute sonst gänzlich vergessenen) Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur widmete und denen hier in diesem Band so noch ein letztes Echo verschafft wird.

Was bleiben wird von der Literatur zwischen 1945-2000, das wird sich in mancherlei Hinsicht erst noch zeigen. Ebenso wird sich zeigen, ob Reich-Ranickis Plädoyers den Widerhall finden, den seine teilweise unnötigen Verrisse fanden, die er spätestens in manchen Momenten im Literarischen Quartett und bei Grass’ “Ein weites Feld” zu genüsslich und spektakulär inszenierte. Er bleibt eine umstrittene Figur – und strittige Dokumente, mit viel Glanz und Genuss, mit viel Tadel und Servilität, Ermunterung und Evokation, sind auch diese gesammelten Schriften, von denen auch beim strengen Aussieben einige Goldkörnchen zurückbleiben.

Zu Denis Schecks “Kanon”


Schecks Kanon Wieder jemand, der unbedingt mit einem Kanon auf Spatzen schießen will oder besser gesagt: auf die Zugvögel, die die Menschen heute sind, ziehend von Eindruck zu Eindruck und wenig interessiert am Verweilen vor dem Buch, geschweige denn dem Klassiker, was immer das jetzt wieder sein soll? Dennis Scheck ist aber schon mal so clever nicht von „dem“ Kanon, sondern lediglich von seinem eigenen zu reden und überzeugt im Vorwort durchaus mit hehren Absichten.

Weder will er, so schreibt er dort, sich in Geschmacksfragen verirren und wichtige Bereiche der vielfältigen literarischen Landkarte dabei unterschlagen, noch will er es sich nehmen lassen, vor allem und allein seine Lieblinge auszustellen. Klingt schon sehr nach der Quadratur des Kreises, doch am Ende von Schecks Liste mit 100 Büchern sieht das, was sich da entfaltet hat, tatsächlich sowohl einem Kreis als auch einem Quadrat nicht unähnlich.

Denn in der Tat berücksichtigt er in seinem Kanon nicht nur viele Autorinnen, sondern auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“ und Ngũgĩ wa Thiong’os großartiges Werk „Der Herr der Krähen“, „Omeros“ von Derek Walcott, Sei Shonagons „Kopkissenbuch“ und einige andere Bücher aus nicht westlichen Kontexten. Zusätzlich bricht Scheck noch Lanzen für ausgewählte Vertreter verschiedener Genres, darunter Comic (Tim und Struppi, sowie Donald Duck), Fantasyroman (Herr der Ringe), SciFi (Ursula K. Le Guin) und Kinderbuch (Karlsson vom Dach) (wobei er auch anmerkt, das Unter-Genres ihm meist eh wenig einleuchten).

In Summe ist dann aber doch sehr viel Klassisches dabei: „Die Odyssee“, „Faust“, „Krieg und Frieden“, „Verbrechen und Strafe“, Ovid, Shakespeare, Flaubert, Cervantes, Kafka, Proust, etc. – mal geht Scheck diese Klassiker durchaus erfrischend an, manchmal durchaus gebräuchlich. Trotzdem gibt es genug zu entdecken und Scheck kann immer wieder mit charmanten und anschaulichen Darstellungen punkten, manchmal verzettelt er sich aber auch und der Text dreht sich etwas zu wenig um das Buch selbst und etwas zu viel um etwas anderes, das Scheck erzählen will (überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Qualität der Texte gegen Ende etwas abnimmt).

Von James Tiptree Jr. über Hypatia bis zu Lu Xun gibt es dennoch, wie gesagt, einiges Neues zu entdecken und manche Klassiker werden durch Scheck auch anschmiegsamer, klingen lesenswerter, spannender. Zu einigen Büchern wird man unweigerlich greifen wollen, andere kann man vielleicht endgültig ad acta legen. Letztlich ist dieses Buch vor allem ein Genuss, wenn man Spaß daran hat, einem großen Buchfreund beim frei von der Leber-Reden zuzuhören.