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Zu “Fremd in ihrem Land – Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten” von Arlie Russell Hochschild


Fremd in ihrem Land “»Als ich ein kleiner Junge war, hielt man am Straßenrand den Daumen raus und wurde mitgenommen. Hatte man einen Wagen, nahm man Anhalter mit. Wenn jemand Hunger hatte, gabst du ihm zu essen. Es existierte eine Gemeinschaft. Wissen Sie, was das alles untergraben hat?« Er machte eine Pause. »Der Staat«”

Der Feind des Mitte-West-US-Amerikaners ist der Staat. Die Argumentation: Wer sollte besser wissen, wie man das Land bewirtschaftet, die Gesellschaft aufbaut, als die Leute vor Ort – und die Leute vor Ort sind zwangsläufig an verschiedenen Orten unterschiedlich, vor allem in einem so großen Land. Wie sollte also eine Regierung alle verstehen und bei ihren Entscheidungen alle Bedürfnisse berücksichtigen können? Diese Argumentation rührt an einem tatsächliches Problem innerhalb der Strukturen der Supermacht – doch konstruktive Ideen zur Lösung oder Überwindung finden sich nirgends. Stattdessen führen die Reibungen zu immer größeren Spannungen.

Das ferne Regierungsvolk in Washington ist in den letzten Jahren zum fixen Feindbild vieler US-Amerikaner geworden. Dieser Hass ging sogar soweit, dass sie einen unfähigen Mann zum Präsidenten wählten, der sich gegen das herrschende Establishment zu stellen schien, sich zumindest so inszenierte. Donald Trump kommt zwar nicht aus den elitären Kreisen der Washingtoner Politikerkaste, aber er kommt dafür aus einer anderen Kaste: der Kaste der Reichen und Mächtigen – und diese Kaste ist, polemisch runtergebrochen, das wahre Problem. Warum das niemand erkennt, warum sich Menschen bei politischen Fragen gegen ihre eigenen Interessen entscheiden?

Arlie Russell Hochschild ließ die Frage nicht los, wie ein so großer Unterschied zwischen ihren Ansichten und den Ansichten rechts-konservativer Amerikaner bestehen konnte, wo sie doch alle Zugang zu denselben Fakten hatten, zumindest theoretisch. Es musste da etwas geben, was diese Menschen davon abhielt, einige elementare Wahrheiten zu begreifen, mit ihrer eigenen Lebenssituation in Verbindung zu bringen.

“Unsere Polarisierung und die Tatsache, dass wir uns zunehmend schlicht nicht kennen, macht es allzu einfach, uns mit Abneigung und Verachtung zufriedenzugeben.”

Also reiste sie nach Louisiana und traf die Leute von dort, hörte sich ihre Sorgen und Meinungen an, versuchte die Gefühle hinter den politischen Entscheidungen zu verstehen. Denn letztendlich geht es immer darum: um Gefühle. Der Mensch ist kein rein rationales Wesen, ansonsten würden wir längst in der besten und emotionslosesten aller Welten leben. “Das Rationale am Menschen sind seine Einsichten, das Irrationale, dass er nicht danach handelt”, schrieb Friedrich Dürrenmatt.

Was fand Hochschild in Louisiana vor? Kein Volk von kruden Verschwörungstheoretikern, keinen überbordenden Hass, sondern vor allem: Wut, Armut, Perspektivlosigkeit. Hier regiert nicht Washington, hier regiert, wie mittlerweile an fast allen Orten des Planeten, der Kapitalismus. Chemiefabriken verseuchen das Wasser, es gibt kaum Arbeit, das Konkurrenz- und Klassendenken entfremdet die Leute einander. Wenn es keine Perspektiven gibt, sind Menschen für vieles empfänglich, was nach einer neuen Perspektive aussieht oder zumindest nach einer besseren innerhalb der alten. Bauernfänger haben leichtes Spiel – nicht weil die Bauern dumm sind, sondern verzweifelt und aus einem System ausgeschlossen, das nicht mit Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit arbeitet, sondern in dem Gier und Überfluss als Strom die Rädchen antreiben. Einen System das viel verspricht und dafür unter der Hand Dinge braucht und einfordert, die es wohlweislich verschweigt. Die Bauernfänger kommen und verbinden clever nostalgische Ideen mit großen Anklagen, leeren Beistandsheucheleien – und festigen dadurch den Einfluss, die Position ihres Systems, ihre eigene Stellung darin.

“Eine Wirtschaftsagenda für Reiche wird mit sozialen Fragen als Köder verbunden. Die Forderung nach Abtreibungsverbot, Recht auf Waffenbesitz und Schulgebet bringt Mike und seine gleichgesinnten Freunde dazu, eine Wirtschaftspolitik zu unterstützen, die ihnen schadet. […] Sie stimmen dafür, dass der Staat sie in Ruhe lässt – was sie kriegen, sind allgegenwärtige Kartelle und Monopole, von den Medien bis zur Fleischindustrie.”

Privilegien. Albert Camus hat einmal richtig angemerkt, dass es nie um etwas anderes geht oder ging. Das Problem Privileg lässt sich in den einfachsten und komplexesten Problemen verorten. Wir teilen uns diesen Planeten. Wer darf Welches Stück davon haben; Wer darf Was tun? Sollte? Kann?

Privilegien müssen, einmal gesichert oder bekommen, verteidigt werden. Um jeden Preis. Am besten in dem man die restlichen Anwärter gegeneinander ausspielt. Die armen Leute in den USA werden schon sehr lange gegeneinander ausgespielt, mit immer neuen Finten. Das hat zu dramatischen Verwerfungen geführt, die dieses Buch wie rote Fäden durchziehen. Ein Buch, das mit einigen Klischees aufräumt, auf eine nicht zwingende, aber anschauliche Weise, nah am menschlichen Aspekt und Faktor.

Kapitalismus in dem Stil, wie er heutzutage betrieben wird, bedeutet genau das: Entfremdung. Geld mag in rauen Mengen Sicherheit geben, mag im Überfluss ein Vertrauen verströmen: Ich und viele andere Menschen werden das nie erleben – wir werden nie dieses rauen Mengen besitzen. Und in dem derzeitigen System ist immer weniger Platz für Menschen, die es dahin schaffen, zu dem großen Geld. Der Platz an der Sonne ist schmal und auch mit ehrlicher Arbeit längst nicht mehr annähernd zu erreichen. Ein System, das so wenig Sicherheit für nur so wenige verspricht, das soll das beste System sein? Ich denke nicht.

“Fremd in ihrem Land” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, weil es am kleinsten Beispiel eine exemplarische Situation unserer Zeit untersucht. Einiges hätte in der Ausführung etwas deutlicher sein können, aber Hochschild hat klugerweise (im Gegensatz zu mir) auf eine zu starke Politisierung und Positionierung verzichtet; sie hält sich nicht ganz raus, aber balanciert gut aus, was sie zu hören bekommt und was sie selbst noch ergänzt. Alles in allem: ein Lichtblick in der Welt des tagtäglichen Gegeneinander, der tiefe Schluchten offenbart – über die Brücken führen, die man wohl derzeit nur einzeln, mit viel Empathie bewaffnet, überqueren kann.

Zu Marc-Uwe Kling und seinem Roman “Qualityland”


Stanislaw Lem wird der Satz zugeschrieben: “Ein Zukunftsroman hat entweder absolut nichts mit den bestehenden Verhältnissen zu tun oder er kritisiert sie.” Wilhelm Busch, der unverbesserliche Spaßmacher, schrieb einmal: “Was man ernst meint, sagt man am besten im Scherz.” Diese beiden Sätze fielen mir immer wieder ein, während ich “Qualityland” las. Erster aus simplen, zweiter aus komplexeren Gründen, die weiter unten noch einmal aufgegriffen werden.

Ich habe, nach der erheiternden und teilweise inspirierenden Lektüre von Marc-Uwe Klings neustem Wurf, noch lange über diesen Roman nachgedacht. Irgendwie war ich trotz aller Freude, die ich beim Lesen empfunden hatte (hervorgerufen durch Gags, geniale Einfälle, wunderbare Spitzen und die hier und da eingestreuten Zitate und Verweise auf Popkultur, Geschichte und Wissenschaft, oft mit skurrilem Einschlag), nicht ganz sicher, wie ich das Buch verorten sollte. Sprachlich eher einfach und straight (wenn auch immer wieder mit gekonnten Stilwechseln und einer generellen Sicherheit im Ton, in der Darstellung), die Figurenzeichnung wunderbar komisch, aber nicht gerade tiefgründig und vielschichtig. Es wäre wohl auch unsinnig, solche Maßstäbe an ein Buch anzulegen, das seinen Fokus auf Themen und nicht auf Figuren legt.

Peter muss sich nicht die Mühe machen, relevante Informationen zu finden. Die relevanten Informationen machen sich die Mühe, Peter zu finden.

“Qualityland” ist eine Zukunftsvision, doch ich zögere, es einen Sci-Fi Roman zu nennen, weil die darin beschrieben technischen Errungenschaften mit algorhytmischen Tendenzen im Prinzip nur die ausgewachsenen, (noch) totalsierteren Versionen der Einrichtungen und Systeme von heute darstellen. Natürlich hat Marc-Uwe Kling auch einige schöne Erfindungen erdacht – aber im Prinzip basiert die von ihm erschaffene Welt auf dem Weiterdenken und Zuspitzen derzeitiger Erscheinungen und Entwicklungen; knapp an der Übertreibung vorbei, aber eigentlich sehr realistisch, geradezu gegenwärtig, zeitgeistig; deswegen mein Zögern, „Qualityland“ einen Sci-Fi-Roman zu nennen. Aber auch Bezeichnungen wie „beissende Satire“ würden zu kurz greifen.

Wie einst George Orwell oder Aldous Huxley, gibt Kling seiner Welt zunächst den Anstrich einer utopischen Ausrichtung (wenn das Buch auch in zwei Versionen erhältlich ist, von denen eine mit utopischen Intermezzos, die andere mit dystopisch-zynisch-satirischen Intermezzos versehen ist; am Ende des Buches befinden sich ein QR-Code und ein Link, mit dem man sich die Inhalte des jeweils anderen Buches ansehen kann, sodass ein doppelter Kauf nicht nötig ist). In dieser Utopie ist personalisierte Digitalisierung in ihre Vervollkommnung eingetreten: jede/r findet den/die richtige/n Partner*in, die richtigen Freund*innen, bekommt die richtigen Gebrauchsgegenstände geliefert, ihm/ihr wird die passende Werbung angezeigt und es gibt eigentlich nichts, was der Mensch noch selbst machen muss, außer sich seiner Prägung entsprechend zu verhalten oder hier und da eine Aufstiegschance zu nutzen oder den potentiellen Abstieg zu verhindern, der ihn zur Nutzlosigkeit verdammen würde.

Für diese durch-personalisierte Welt, die trotzdem von monopolistischen und totalitären Firmen und Dienstleistern quasi kontrolliert wird und in der es endgültig zu einer klar hervortretenden Klassengesellschaft gekommen ist, hat der Autor viele schöne Beispiele arrangiert, angefangen bei den Nachnahmen der Menschen, die den Berufen ihrer Eltern entsprechen, über einen Date-/Liebesdienst, der die Profile seiner Kund*innen einfach zusammenbringt & die angesprochenen Intermezzi, die meist aus absurd anmutenden Produktwerbungen und Nachrichtenmeldungen bestehen, bis hin zu vielen personalisierten Produkten:

In der Schule, sagt Peter, hatte ich mal eine Freundin, in deren Version von Game of Thrones keine einzige Figur gestorben ist. Die haben immer nur eine Sinnkrise bekommen und sind ausgewandert, oder so.

Diese ganze Charade wirkt immer wieder aberwitzig, ist aber bei genauer Betrachtung selten weit von der Wirklichkeit entfernt, sodass es einen schon ein bisschen gruseln könnte, würde man es nicht gerade so witzig finden, was dem Protagonisten von seiner Umwelt alles zugemutet wird. Allerdings sollte man sich dann auch mal fragen, was einem selbst so alles zugemutet wird – und noch zugemutet werden könnte. Denn Peter Arbeitsloser ist eben nicht nur die Fortsetzung des Kleinkünstlers mit anderen Mitteln – er ist auch der Nachfahre einer Gesellschaft, die sich vom System übervorteilen ließ.

“Ich hab es einfach satt, dass immer keiner verantwortlich ist. Immer ist das System schuld. Aber es gibt eben doch auch Leute, die dafür verantwortlich sind, dass das System ist, wie es ist!”

Die Herren der Welt, wie Noam Chomsky sie nannte. Bei Marc-Uwe Kling treten sie als Witzfiguren auf, als selbstzufriedene und blöde Fatzkes (wie schon im Känguru, an der Stelle hat sich nix verändert), die entweder nicht den Intellekt haben, die Situation zu durchschauen oder nicht die moralische Integrität, sie zu ändern (manchmal erstaunlicherweise auch beides). Dass es vor allem der Stumpfsinn ist, der in den Köpfen dieser Herr*innen der Welt regiert, der blinde und unreflektierte Systemglaube, ist gleichsam entlarvend, aber hier und da wirkt dieses brachial-plumpe Pochen auf dieser Dummheit auch etwas vereinfacht. Natürlich: wer sich umsieht, wird merken, dass wir in einer teilweise ziemlich pervertierten Welt leben und viele Schriftsteller*innen haben den Fehler gemacht, ihren Charakteren nicht das übliche Maß an Dummheit zuzumuten, das nun mal durchaus in der Welt draußen floriert. Trotzdem: manches, was haarsträubend genug ist, wird so allzu sehr zur Karikatur, hinter der die beunruhigenden Facetten der Machtpositionen nicht mehr ganz hervorlugen.

Wirklich beeindruckend an „Qualityland“ ist, wie Kling darin immer wieder Dialoge entspinnt, in denen ganz klar die Problematik und nicht nur die Komik des derzeitigen Systems und seiner Entwicklung hervorgehoben wird. Und nicht nur das: es werden konkrete philosophische und soziologische Dilemmata aufgeworfen und diskutiert, mit einer Leichtigkeit und Unwillkürlichkeit, die etwas leicht Gestelltes, aber auch etwas Geniales, Treffliches haben – vor allem wenn das Gespräch zwischen einem selbstfahrenden Auto und Peter Arbeitsloser stattfindet:

“Weißt du, was der entscheidende Unterschied zwischen euch und uns ist?”
“Was denn?”
“Wenn ein selbstfahrendes Auto einen Fehler macht, lernen alle anderen Autos durch diesen Fehler und machen ihn nicht wieder. Unterschiedliche Menschen machen immer wieder den gleichen Fehler. Ihr lernt nicht voneinander.”
“Ich verrate dir mal was”, sagt Peter. “Oft macht sogar derselbe Mensch den gleichen Fehler noch mal.”

Diese Zusammenführung von komischer und kritischer Perspektive, von Witz und Nachdenklichkeit, von Lachen und Entsetzen manchmal, ist der bewundernswerteste Zug dieses Buches. Und ebenso erstaunlich ist, dass ich mir immer wieder gewünscht habe, dass es an der einen Stelle mehr ins Kritische, an der anderen mehr ins Komische, Anspielungsreiche geht und am Ende doch sagen muss: die Mischung macht’s. Nicht nur im Hinblick auf die Unterhaltung, sondern auch im Hinblick auf das Kritische. Vielleicht hatte Wilhelm Busch Recht.

Wer in letzter Zeit wie ich Bücher wie „Was auf dem Spiel steht“ von Philipp Blom oder Noam Chomskys „Requiem auf den amerikanischen Traum“ gelesen hat, wird zweifellos ähnlich zweischneidig auf dieses Buch blicken, wo andere die entlarvende Komik einfach als eigenständige Erscheinung feiern werden – was ja auch wunderbar und vollkommen okay ist. Ich selbst komme, wie schon angedeutet, nicht umhin, eher die inspirierenden, kritischen Ansätze zu bemerken und mich zu fragen: wie ernst werden die Leute nehmen, was Kling hier präsentiert? Werden sie in der Komik das Entlarvende sehen oder doch eher das Überzeichnete? Werden sie in Passagen wie der folgenden (in denen der hyperintelligente Androide und Präsidentschaftskandidat John gerade von einer Wahlkampfveranstaltung fliehen musste) die Pointe genießen oder erkennen, dass sie die darin formulierte Problematik direkt und unausweichlich betrifft?

“Ich muss zugeben, es ist schwieriger als ich berechnet hatte”, sagt John.
“Was genau?”, fragt Aisha.
“Eine Antwort auf Betrand Russells Frage zu finden.”
“Wer?”, fragt Tony.
“Ein toter englischer Philosoph”, sagt Aisha. “Er hat gesagt: Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.”

Zu Noam Chomskys “Requiem für den amerikanischen Traum”


“Wer nach Europa, Japan oder selbst China reist, dem fällt bei seiner Rückkehr sofort auf, dass sich die USA im Verfall befinden, und er hat oft das Gefühl, in ein Land der sogenannten dritten Welt zurückzukehren. Die Infrastruktur ist marode, das Gesundheitssystem ist völlig zerrüttet, das Bildungssystem liegt in Trümmern, nichts funktioniert, und all das in einem Land, das über unglaubliche Mittel verfügt.”

Der amerikanische Traum ist eines der großen Narrative des 20. Jahrhunderts. Vor allem in der Filmwelt Hollywoods, aber auch in vielen anderen Medien, fest verankert in den Vorstellungswelten, die sich um das Wesen der Vereinigten Staaten von Amerika drehen.

Aber dieser Traum ist nicht nur ein Narrativ, ein Mythos – für die Amerikaner*innen war er lange Zeit ein Versprechen, eine Art von Gewissheit. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man diese neue Denkschrift von Noam Chomsky liest; man sollte den Titel wörtlich nehmen. Das hier ist ein Requiem, ein Rückblick auf eine Idee, die Europäer*innen vielleicht zu begreifen glauben, deren Tragweite sie aber vermutlich unterschätzen, weil sie für die meisten von Ihnen etwas klischiertes, abgedroschenes hat, die Qualität eines Kalenderspruchs, einer Phrase. Nicht so in den USA, wo lange an der Unsterblichkeit dieses Versprechens festgehalten wurde.

“Aber inzwischen wissen wir einfach, dass das [Versprechen von schnellem Aufstieg und unbegrenzten Möglichkeiten, der amerikanische Traum] nicht mehr gilt. Die soziale Mobilität in den USA ist geringer als in Europa. Doch der Traum, genährt durch Propaganda, besteht fort. Er ist Bestandteil sämtlicher politischer Reden: Wählt mich, wir lassen den Traum wiederaufleben.”

Mittlerweile müssen die meisten Amerikaner*innen der Mittelschicht zwei Jobs machen, haben kaum Aussicht auf Unterstützungen von Seiten des Staates und wenn sie nicht wohlhabend sind, können ihre Kinder keine guten weiterführenden Schulen besuchen. Der amerikanische Traum ist zu einem Alptraum geworden. Wie konnte es soweit kommen?

Es gibt einfache Antworten darauf. Chomsky führt die Entwicklungen, die zu den heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen geführt haben, in zehn Punkten aus. Was dabei herauskommt: ein 10-Punkte Plan zur Kontrolle einer Gesellschafft, die nicht mehr demokratisch ist, sondern im Prinzip aristokratisch-plutokratisch.

Die Verantwortlichen, die diesen Plan umsetzten, sind schnell gefunden: es sind die „Herren der Welt“, ein Zitat von Adam Smith, den frühen Wirtschaftstheoretiker. Thinktanks, Superreiche, große Unternehmen, neoliberale Organisationen und Einrichtungen, Lobbyist*innen und die Politiker*innen, die sich von ihnen die Wahlen bezahlen lassen. Zusammengefasst: Menschen, die sich seit den 70er Jahren die Welt so gemacht haben, widdewidde wie sie ihnen gefällt. Und dabei die amerikanische Gesellschaft in den Abgrund führten, der sie heute sind.

Chomsky ist weit davon entfernt die amerikanische Gesellschaft generell zu verherrlichen. So schreibt er früh:

“Die USA waren eine koloniale Siedlergesellschaft – die brutalste Form des Imperialismus. Man muss schon darüber hinwegsehen, dass man deshalb reicher wurde und ein immer freieres Leben führte, weil die indigene Bevölkerung dezimiert wurde – die erste schwere Ursünde der amerikanischen Gesellschaft; und weil ein anderer Teil der Bevölkerung aus herbeigeschafften Sklaven bestand – die zweite schwere Sünde.”

Dennoch gibt es für ihn so etwas wie ein besseres Zeitalter: die 30er und 40er Jahre und die davon profitierenden 50er und 60er Jahre, die Zeiten von New Deal und der organsierten Interessensvertretung bei Minderheiten und Arbeiter*innen. Die Bürgerrechtsbewegung der afroamerikanischen Bevölkerungsteile, die Gewerkschaftserrungenschaften, die sozialen Einrichtungen – viele Dinge schienen sich zum Positiven zu entwickeln. Nie wieder danach gab es in den USA eine so breite Agitation für bessere, egalitäre Bedingungen. Mit Franklin Delano Roosevelt saß in den 30er und frühen 40ern eine offene Regierung im Weißen Haus. Chomsky schreibt dazu:

“Franklin Delano Roosevelt zeigte sich für progressive Gesetze zugunsten der Allgemeinbevölkerung ziemlich aufgeschlossen, aber er musste sie auch irgendwie durchbringen. Also ließ er die Arbeiterführer und andere Verantwortliche wissen: “Zwingt mich dazu. Wenn ihr es schafft, mich dazu zu zwingen, dann bin ich mit dem größten Vergnügen dabei.” Das hieß: geht auf die Straße und demonstriert, organisiert, protestiert, bringt die Arbeiterbewegung voran, streikt und so weiter. Ist der Druck der Bevölkerung groß genug, kann ich die Gesetze machen, die ihr wollt.”

Bei deutschen Leser*innen könnten an dieser Stelle unschöne Pegida-Assoziationen aufkommen (wobei die ja nicht progressiv eingestellt sind) und sicher könnte man die Roosevelt-Regierung auch kritischer sehen als Chomsky es in diesem Buch tut.

Aber es geht nicht um Roosevelt, es geht darum, was schiefgelaufen ist in den letzten vier Jahrzehnten, wie die Errungenschaften umgewandelt, zurückgenommen und zerschlagen werden konnten. Stück für Stück, unter Berufung auf exemplarische historische und literarische Quellen (die im Anhang jedes Kapitels nach einmal nachgelesen werden können) zeigt Chomsky die verschiedenen Bereiche auf, in denen sich die Zerschlagung des amerikanischen Traums wirkungsvoll darstellen lässt.

Seine Herangehensweise ist dabei immer wieder unterschiedlich, aber von bestechender Klar- und Knappheit, wobei sich manchmal leicht dramatische Gesten einschleichen; und es sind nicht gerade lasche Geschütze, die er auffährt. Manchmal wirkt das, als würde er übertreiben, aber er kann glaubhaft vermitteln, dass er das nicht tut.

“Am 8. November 2016 fand im mächtigsten Land der Erde, das allem, was die Zukunft bringt, seinen Stempel aufdrücken wird, eine Wahl statt. Das Resultat legte die gesamte Regierungskontrolle – Exekutive, Kongress, Oberster Gerichtshof – in die Hände der Republikanischen Partei, die die gefährlichste Organisation der Weltgeschichte geworden ist. […] Ist das eine Übertreibung? Schauen wir uns einfach an, was wir gerade erlebt haben. Der siegreiche Präsidentschaftskandidat fordert einen raschen Ausbau der Nutzung fossiler Brennstoffe, Deregulierungen, ein Ende der Unterstützung von Entwicklungsländern, die sich um eine nachhaltige Energieversorgung bemühen. Ganz allgemein gesagt: Er sorgt dafür, dass wir mit Vollgas auf den Abgrund zurasen.”

Das Buch wurde für US-Amerikaner*innen geschrieben, es verhandelt ein tiefamerikanisches Thema und die erschreckende US-amerikanische Wirklichkeit; es ist eine Geschichtsstunde, ein Versuch einfacher und klarer Aufklärungsarbeit.

Den deutschen Leser*innen ermöglichst es einen kurzen Einblick in die amerikanische Seele – und einen Ausblick auf das, was auf uns zukommt, wenn wir nicht aufpassen. Volker Pispers sagte einmal, dass die USA neoliberaler Kapitalismus im Endstadium sind. Sehr viel anders fällt die Diagnose von Chomsky nicht aus, nur dass er minuziöser die Gründe dafür aufschlüsselt.

Und die zentralen, regressiven Entwicklungen, die er umreißt, haben auch hier bei uns in Deutschland längst Fahrt aufgenommen: auch hier wird der soziale Sektor abgebaut, die Unternehmen werden hofiert, die Verhältnisse bei den Löhnen fangen an prekär zu werden und es wird nichts dagegen getan. Das Buch „Kein Wohlstand für alle!?“ von Ulrich Schneider ist zu diesem Thema eine empfehlenswerte Lektüre.

„Politik ist der Schatten, den die Großindustrie auf die Gesellschaft wirft“, hat der Sozialphilosoph John Dewey gesagt (Chomsky zitiert ihn). Was eigentlich nur ein zynischer Spruch sein sollte, ist mittlerweile, in aller Kürze, eine ziemlich genaue Diagnose der Lage in den USA, wie Chomsky sie ausbreitet und belegt.

Aber, und auch wenn er das nur unter Vorbehalt und vor dem Hintergrund unheilverkündender Szenarien tut, Chomsky weist hier und da auf die weiterhin bestehenden Möglichkeiten hin, wie diese Gesellschaft wieder umgebaut werden kann. Möglich ist das seiner Meinung nach in den USA nicht mithilfe einer der beiden etablierten Parteien, sondern durch eine dritten Partei, die die Bevölkerung selbst darstellt.

“Wenn man eine dritte, unabhängige Partei will, muss man ständig aktiv sein – das System von den Schulkommissionen über die Stadträte, die Abgeordneten in den Bundesstaaten bis hinauf zum Kongress umkrempeln. Manche Leute haben das längst begriffen, vor allem die am rechten Rand.”

Hier gilt Chomskys Hinweis auch für Europa, auch für Deutschland; denn auch in unseren Gesellschaften ist es vor allem der rechte Rand, der sich demonstrativ organisiert und immer mehr dabei ist, die Diskussion zu bestimmen. Was Chomsky schreibt, ist ein Requiem, der Abgesang eines Mannes von beinahe 90 Jahren und mitunter fragt man sich bei der Lektüre wohl das gleiche wie er: Wie konnte es soweit kommen? Wann haben wir nicht aufgepasst? Wann hätten wir etwas tun können?

Soweit ist es in Europa, ist es in Deutschland noch nicht. Aber gerade jetzt wird nicht aufgepasst, gerade jetzt wird wenig getan. Daran erinnert uns Chomskys Buch, genauso wie es uns eine Lehrstunde in amerikanischer Geschichte erteilt; eine Geschichte, die so glorreich erscheint auf den Fernsehschirmen und so bitter und entzaubert ist in Wirklichkeit.