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Eine Sammlung von Meister(innen)erzählungen


Deutsche Meistererzählungen Wer sind die deutschsprachigen Meister der Erzählung? Dieser Auswahlband meint Antworten auf diese Frage gefunden zu haben. Aber ist mit „Erzählung“ die Novelle, die Kurzgeschichte, das Märchen, die Anekdote gemeint? Alle gleichermaßen, wenn man sich den Inhalt anschaut. Leider fehlt ein Vor- oder Nachwort, das auf diese Genrefrage Bezug nimmt. Auch wäre es spannend gewesen, zu erfahren, nach welchem Prinzip der Herausgeber Kim Landgraf die Texte ausgewählt hat. Weil eine Einleitung fehlt, erscheint die Auswahl leider ein bisschen willkürlich und auch der Klappentext hilft nur bedingt weiter:

„So ist diese Sammlung gedacht: ausgewählte Köstlichkeiten probieren, kennen lernen, wiederentdecken und anhand kleiner Leselisten die Reise dort fortsetzen, wo der Weg am besten gefällt. Die Auswahl reicht von Goethe bis in die Gegenwart, Bekanntes mit Unbekanntem, Kurzes mit Längerem mischend.“

Ein Blick auf den Inhalt:

Das Märchen (Johann Wolfgang von Goethe)
Kannitverstan & Unverhofftes Wiedersehen (Johan Peter Hebel)
Ritter Gluck (E.T.A. Hoffmann)
Das Bettelweib von Locarno (Heinrich von Kleist)
Die drei Nüsse (Clemens Brentano)
Das Schloss Dürande (Joseph von Eichendorff)
Lenz (Georg Büchner)
Die Kuh (Friedrich Hebbel)
Der kleine Häwelmann (Theodor Storm)
Wie wir draußen spielen (Theodor Fontane)
Krambambuli (Marie von Ebner-Eschenbach)
Der letzte Brief eines Literaten (Arthur Schnitzler)
Das Märchen der 672. Nacht (Hugo von Hofmannsthal)
Der Riese Agoag (Robert Musil)
Ein Bericht für eine Akademie (Franz Kafka)
Die wilde Miss von Ohio (Joachim Ringelnatz)
Nachts schlafen die Ratten doch (Wolfgang Borchert)

macht klar, dass der Begriff Gegenwart hier anachronistisch verwendet wird – Wolfgang Borchert als Gegenwartsautor zu bezeichnen, das wirkt irgendwie veraltet (was den Begriff Gegenwart ad absurdum führt). Ein zweites Manko ist der arge Männerüberhang – was die Goethezeit angeht, da ist er noch verzeihlich ist, aber spätestens im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert gab es einige Meisterinnen der Erzählkunst; Literatinnen von Annette von Droste-Hülshoff bis zu Marie Luise Kaschnitz zu ignorieren, solcherlei lässt diese Auswahl nicht im besten Licht erscheinen.

Über den Rest lässt sich streiten. Immerhin wurden die anderen Versprechen des Klappentextes (Bekanntes/Unbekanntes, Kurzes/Längeres) ganz ordentlich umgesetzt. Dennoch nimmt sich das Buch mehr wie eine Sammlung von Namen aus, eine Deutschunterrichtsfibel und nicht wie eine fesselnde Reise durch die deutsche Erzählkunst.

Hoffmann und Kleist haben Besseres geschrieben (Geschichten, die auch ihre Sonderstellung in der deutschen Literatur besser zur Geltung bringen), gleiches gilt für Storm oder Schnitzler. Warum so wichtige Erzähler*innen wie Thomas Mann oder eben Annette von Droste-Hülshoff fehlen, erschließt sich mir nicht; sie sind eigentlich unverzichtbar.

Natürlich gibt es einige Highlights. Krambambuli, Lenz, das Unverhoffte Wiedersehen oder auch Kafkas Bericht sind ohne Zweifel Klassiker und Perlen deutschsprachigen Erzählens. Musils Text und Goethes Märchen waren erfreuliche Entdeckungen. Das schönt den Gesamteindruck.

 

Zu den frühen Gedichten von Marie Luise Kaschnitz


“Denn einer Masche gleich in den Geweben/ scheint unser Leben zwischen tausend Leben.”

“Gebt mir das Kästchen mit den goldnen Reifen
Den bunten Steinen und den kalten Ringen,
Ich kann das Leben anders nicht begreifen
Als in den Dingen.”

Marie Luise Kaschnitz ist wohl eine der eher unterschätzten Dichterinnen deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Trotzdem ist sie eine der wenigen, mit einem erhöhten Bekanntsgrad – auch wenn ihre Gedichte nicht unbedingt Besteller waren, erfreut sie sich bis heute doch einer großen, nur eben anonymen, Leserschaft. Im Januar des kommenden Jahres wäre sie 113 Jahre alt geworden.

“Wie lang und auch dein Haus gerät ins Wanken,
Wie lang und auch dein Werk erfährt Zerstörung,
Dann ist die Zeit, da Träume und Gedanken
Gereinigt stiegen aus den Fieberschauern.
Sei fest im Hoffen. Stark in der Beschwörung.
An Liebe reich. So wirst du überdauern.”

Die frühe Kaschnitz, das sind die Jahre von 1928 bis 1945/47. Genau wie im Fall von Peter Huchel wird diese erste Phase von gereimten Gedichten dominiert (die Gedichte aus den Kriegsjahren sind sogar fast ausnahmslos Sonette), bevor dann die Hauptschaffensphase beginnt, die viel von längeren und an die Form der Elegie angelehnten, moderner orientierten Gedichten geprägt ist. Mir haben diese frühen Gedichte, genau wie im Fall von Huchel, sehr gut gefallen, auch wenn sie gewiss keine übergroße metaphysische Tiefe aufweisen; dafür aber diese besondere Art der Einbeziehung des Lesers, mit Wortflächen herbeigeführte Berührungen auf einer bestimmten sinnlichen Ebene.

“O Ewigkeit der Sinne, denen Rose
Für immer Rose bleibt, ob auch indessen

Die Gärten schwinden und der Tag gewaltsam
Das freudige Haupt dir tief und tiefer zwinge.
Es wachsen neue Kräfte unaufhaltsam
Zum Herzen dir aus dem Bereich der Dinge.
Und schauernd, lauschend, ahnst du in der Zeit,
Der wandelbaren, die Beständigkeit.”

Marie Luis Kaschnitz ist keine Sängerin, sie ist keine Träumerin. Mit ihren Versen will sie, möglichst in einer vollendeten Geste, die Dinge einfangen, ihre Präsenz in Worten erfinden, ohne sie konkret zu nennen. Und wenn sie, wie im Vers, der dieser Rezension vorangestellt ist, eine Behauptung und Betrachtung macht, dann ist das, als würde sie einen Blick in den Spiegel werfen und schon der nächste Vers ist eine Erwiderung, eine Feinjustierung, eine Idee, die den Abschluss, die Vervollkommnung sucht.

Es ist eine Gefühlslyrik, die sich aber zurückzieht von jedem Hinausgehen über das Nahe, Fassbare. Kaschnitz versucht sozusagen nicht, in ihren Gedichten noch etwas in größere, ferner Verbindung zu setzten; lieber legt sie ihre Botschaft direkt in jede Zeile, die der Leser gerade liest, sodass sich das Bild mit jeder Zeile, Schritt für Schritt, erschließt, ohne dabei je im Unklaren über seine Räumlichkeit zu sein. Natürlich gibt es trotzdem auch Gedichte, die über sich hinausweisen. Aber im Prinzip herrscht bei ihr vor jedem Gedicht eine Art Dunkelheit und der letzte Satz ist die darin entstandene Kerzenflamme, jeder Satz davor ein Streichholz.

“Ach, vom Felsen, wo zum steilen Hange
Winde flügeln und die Welle bricht,
Irrt der Blick am weißen Säulenhange
Und er findet Licht und lauter Licht.”

In ihrer eher strengen Form erschaffen und entfalten diese frühen Gedichte trotzdem große Weisheit und Stabilität, wobei das letzte eine allgemeiner Wesenszug von Kaschnitz Lyrik ist, der mir so nur bei wenigen Dichtern begegnet ist; dieses Gefühl, dass nichts in der Dissonanz zwischen Metaphern oder Bildern verschwindet, dass das Gedicht quasi sich selbst bis zum Rand beim Lesen auffüllt, wie eine Schale mit Wasser, ohne überzulaufen, selbst wenn der Rand sehr niedrig ist.

Ich kann nur zum Schluss sagen, dass für jeden Freund der gereimten Lyrik diese ersten Gedichte sicherlich eine Fundgrube sind.
Die besten der Gedichte daraus finden sich natürlich auch in Sammelbänden, die beste davon: “Überallnie“.

Mit einer hauchdünnen, später hervorstechenden modernen Note, bewegte sich Kaschnitz stets zwischen Innerlichkeit, Impressionismus und Symbolismus. Feinsinn und ihre klare, gesetzte Art die Figuren ihrer Gedichte in ihre Verse einzuzeichnen, machen ihre Gedichte zwar unscheinbar, aber wertvoll. Sie sollte wieder gelesen werden.

“Was ist es, das an diesen Ort mich bannte
Und immer neu das Bild mich deuten ließ,
Da ich die Absicht nimmermehr erkannte,
Die solche Fülle schuf und leben ließ?
Ein Spiel der Schöpferkraft nur muss ich wähnen,
Ungleich gemischt aus Heiterkeit und Tränen,

So dünkt mich Schein und Finsternis verwirrend
Auch auf der Erde Angesicht gelegt
Und Menschen seh ich durch die Zeiten irrend
Von jedem Hauch getragen und bewegt.
Und doch erkenn ich Tag um Tag genauer:
Es wiegt die Freude schwerer als die Trauer.”