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Zu Alessandro Bariccos “Die Barbaren”


Die BarbarenOhne Mutation kein Leben, ohne Mutation kein Überleben, Binsenweisheit ahoi. Das gilt nicht nur für organische Strukturen, sondern auch für kulturelle. Hier entsteht die Mutation meist aus dem Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt, Bewahrten & Bewährtem und neuen Entdeckungen. Auf der einen Seite also die institutionalisierte Einrichtung der Gesellschaft, auf der anderen Seite „Die Barbaren“ – ein uralter Topos, der schon im Gilgamesch-Epos verhandelt wird und seitdem oft bemüht wurde.

Alessandro Baricco hat in seinem Buch „Die Barbaren“ (ein in der Zeitung publizierter Fortsetzungstext, im Original bereits 2006 erschienen) die letzten Jahrzehnte in Augenschein genommen und sie nach Anzeichen für Mutationen durchsucht. Die Thesen, die er dabei herausarbeitet, sind nicht übermäßig spektakulär, aber doch bedenkenswert und mitunter durchaus offenbarend.

(Von hier an: SPOILER-Gefahr)

Im Kern kann diese Erkenntnisse folgendermaßen zusammenfassen: wir haben (längst) ein neues Zeitalter betreten, das viele Vorstellungen, die wir noch hegen und pflegen, abbaut und manchmal schon durch Attrappen ersetzt hat. Das letzte Zeitalter war eines des Buches, des bürgerlichen Aufbruchs, der Verfeinerung und Vertiefung vieler Künste, der großen Ehrfurcht und sein Ende/seine Transformation hat spätestens mit der Erfindung des Internets eingesetzt, vermutlich aber schon mit dem Privatfernsehen, dem Fastfood, der Globalisierung.

Das ist nicht unbedingt eine bahnbrechende Erkenntnis, die auch schon an anderen Stellen anders formuliert wurde. Bemerkenswert ist aber, mit welch unterhaltsamer und leichtfüßiger Raffinesse Baricco den Prozess und seine Indizien freilegt. Er beginnt mit einigen Rückblicken und versucht das Ende des letzten Zeitalters festzustellen; dabei stößt er auf die Reaktionen und Kritiken, die kurz nach der Uraufführung von Beethovens neunter Symphonie erschienen. Vielen Traditionalisten galt sie damals als ungeheuerliches, fremdes und wenig fruchtbares Machwerk, beeindruckend zwar in seiner Schierheit, aber hauptsächlich eigenwillig, irritierend.

Diese Musik ist Flagge, Hymne, erhabenes Festungswerk geworden. Sie ist unsere Kultur. Nun, es hat eine Zeit gegeben, in der die Neunte das Banner der Barbaren war!

Auch Romane galten bei ihrem Aufkommen als eine Art Angriff auf die damalige Kulturlandschaft – heute gilt (ob nun zurecht oder nicht) der- oder diejenige als Barbar*in, der/die keine Romane liest. Oder besser: galt. Denn eben diese Einteilungen verschieben sich wieder und unaufhaltsam, selbst wenn viele noch an ihnen festhalten. Mutation ist ein schleichender Prozess, der aber letztlich alles umkrempelt und eine neue Ebene einführt, auf alles andere draufsetzt.

Dabei werden Traditionen ausgehöht und gekapert, transformiert. Baricco bringt drei Beispiele jüngster Zeit: Wein, Fußball und Bücher. Anhand ihrer Geschichte und der Veränderung der Dynamiken in ihrem Bereich, zeigt er wie sich vor allem unser Verständnis von der Erfahrung (unbewusst) gewandelt hat. Steckte sie im nun ausklingenden Zeitalter in der Tiefe, im Vertiefen, verteilt sie das neue Zeitalter auf der Oberfläche, springt von einer Erfahrung, von einem Reiz zum nächsten, anstatt einen voll auszuloten.

Es ist faszinierend, spannend und, wie gesagt, sehr unterhaltsam, mit Baricco eine Reise durch diese Aspekte kultureller Veränderungen zu unternehmen und dabei die eigene Wahrnehmung ein bisschen aufzuspalten, zu reflektieren. Baricco plaudert oft bescheiden vor sich hin, um dann doch wieder, mit Wucht, zum Kern seiner Überlegungen vorzustoßen.

Es gibt interessante Anekdoten in diesem Buch, tolle Formulierungen. Einige Abschnitte beschäftigen sich mit Walter Benjamin und Baricco gelingt, nebenbei, ein tolles Portrait dieses bahnbrechenden und unverzichtbaren Denkers.

Was ihn an der Gegenwart faszinierte, waren die Anzeichen für Mutationen, die diese Gegenwart auflösen würden. Ihn interessierten Verwandlungsprozesse; Zeiten, in denen die Welt in sich selbst ruhte, waren ihm völlig egal. Von Baudelaire bis zur Reklame – alles, worüber er sich beugte, wurde zur Prophezeiung einer zukünftigen Welt und zur Ankündigung einer neuen Kultur. […] Verstehen bedeutet für ihn nicht, den Untersuchungsgegenstand durch eine Definition auf der bekannten Landkarte der Wirklichkeit unterzubringen, sondern zu erahnen, wodurch dieser Gegenstand die Landkarte so verändern würde, dass sie nicht wiederzuerkennen ist.

„Die Barbaren“ kann einem vieles vor Augen führen, u.a. dass unsere Wahrnehmung von Geschichte, von Verlauf, meist stark gefärbt ist durch die Umstände und Einrichtung unserer derzeitigen Lebenswelt und den darin propagierten Vorstellungen der Vergangenheit; wir nehmen sie durch das Okular unseres Erfahrungsstandes wahr. Kultur ist nichts Starres, sondern immer im Fluss, und auch wenn hier und da Dämme gebaut werden, groß wie die chinesische Mauer – sie können nur die Illusion von Kontrolle erzeugen und auf die Dauer die Mutation der Kultur nicht aufhalten, ihre flüssige Konsistenz nicht leugnen. Mit ihr lässt sich nichts in Stein meißeln, nur manches über lange Strecken dahintragen.

In jedem Fall: ein tolles, fesselndes, kluges Buch, dabei selten schwerfällig oder verkopft, sondern immer auch ein bisschen leichtsinnig, fröhlich, Haken schlagend. Wer ein bisschen fasziniert werden will, der greife zu.

Zu “Das Buch der klassischen Haiku”


Das Buch der klassischen Haiku „Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“

So heißt es bei Johann Wolfgang von Goethe. Lyrik allgemein, aber das Haiku im Besonderen, hat sich dieser Kostbarkeit des Augenblicks verschrieben, des unverfänglichen Eindrucks, der aus Millionen sich ausdrückenden Lebendigkeiten eine Facette ausgewählt, einfängt.

„Den roten Nelken
Scheint auf die Stengelknoten
Die Abendsonne“
(Seibi)

Die hier vorliegende Sammlung wurde zusammengestellt und übersetzt von dem im Jahr 2000 verstorbenen Jan Ulenbrook. Vom ihm stammt auch das erfreulich ausführliche Nachwort, in welchem er auch freimütig die Vor- und Nachteile seiner Übersetzungsmethoden anführt und viele Aspekte von Auswahl und der Idee des Haiku erläutert.

Die Sammlung ist unterteilt in fünf Kapitel: eines zum Neujahr und jeweils eines zu einer der vier Jahreszeiten. Innerhalb der Kapitel finden sich wiederum – nicht extra separierte, sondern lediglich durch das Aufeinanderfolgen gruppierte – Sammlungen zu Themen und Motiven der jeweiligen Jahreszeit.

„Vom grauen Himmel
Fällt Schnee auf Schnee herab:
Ein Schmuck den Häusern!“
(Kigô)

Die Haikus sind, wie es der Titel schon ausdrückt, klassisch und auch möglichst formgetreu übersetzt (Silbenanzahl, Wortstellung). Das kann man bemängeln, auch mit guten Argumenten. Aber letztlich muss man bei Gedichtübersetzungen immer Abstriche machen. Manche von Ulenbrooks Übertragungen wirken etwas hölzern, aber die meisten seiner Haikus sind immer noch schöne, gelungene Verdichtungen.

Obgleich es hauptsächlich klassische Haikus sind, stammen auch einige von Dichter*innen, die im 20. Jahrhundert lebten. Im Anhang kann man zu allen Verfasser*innen zumindest die Lebensdaten nachschlagen, Kurzbiographien von einem Satz sind nur wenigen vorbehalten.

„Für alle Türen
ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.“
(Issa)

Man wird schwerlich eine umfangreichere Sammlung finden: über tausend Haikus hat Ulenbrook zusammengetragen. Das heißt natürlich auch, dass man sich seine Lieblinge erst herauspicken muss. Wenn man sich damit zeitlassen will, was zu empfehlen ist, begleitet einen das Buch vermutlich eine ganze Weile. Es ist auch möglich, erst in der jeweiligen Jahreszeit zu dem Band zu greifen.

So oder so: ein Bändchen, das in keiner Büchersammlung fehlen sollte.

„Der Frühlingswind, horch,
Läuft durch die Weizenfelder
Wie Wasserrauschen.“
(Mokudô)

Nachdrückliche Hommage an das Werk des Musikers und Erzählers Billy Joel, in zwei Teilen.


I. Teil – Greates Hits I & II

Es ist diese Stunde in der Nacht, wenn alles möglich ist… die blaue Stunde um drei Uhr morgens, wenn die Welt sich nur noch um sich selbst zu drehen scheint und um nichts anderes mehr. Die richtige Zeit für Selbstreflexion wie William Blake gesagt haben soll.

Aber auch eine gute Stunde für (die Berührung der) Musik, wie es auch eine lange Autofahrt oder eine frühere Abendstunde wäre – der Dialog zwischen Popmusik und Zuhörer kann letztendlich überall und dann immer unwillkürlich stattfinden, das macht sie so einzigartig und der Lyrik manchmal verwandter als man gemeinhin annimmt. Doch in dieser späten Stunde scheint die Begegnung mit ihr beinahe unverstellt, face to face abzulaufen.

“Saturday night and you’re still hangin’ around
Tired of living in your    one horse town
you’d like to find a little hole in the ground,
for awhile..

So you go to the village in your tie dyed jeans
And you stare at the junkies and the closet queens
It’s like some pornographic magazine
And you smile”

Englische Songtexte sind oftmals etwas Wunderbares und geradezu Magisches, wenn man sie als dergleichen zu schätzen weiß. Sie enträtseln sich niemals sofort, stattdessen erklimmen sie unser Bewusstsein in seltsamen Stufen, angefangen bei der bloßen Gesangsuntermalung, über diese und jene herausgehörte Zeile und jener missverstandenen, über den schon nebulös begriffenen Kontext, der sich herausbildet und der am Ende, wenn man den Text zur Hand nimmt, noch einmal ganz anders ausgerichtet sein kann.

Bei den Songtexten von Bob Dylan fühle ich mich oft wie auf einem Wanderweg der Zeilen, um mich herum das Chaos der Welt; bei Springsteen ist es die wiegende Sehnsucht und gleichzeitig die unterschwellige Symphonie des Lebens, der Dreck unter den Fingernägeln, die dünnen, mächtigen Texte, zusammen mit dem beinahe unnahbaren Sound; bei vielen anderen Songs sprechen mich vor allem die inhärenten kleinen Wahrheiten, Ironien und allgemein die besonders gelungenen Wendungen an.
Bei Billy Joel ist es die tiefe, unspektakuläre Nostalgie und Kraft, die in fast jedem seiner Songs, auch in fetzigeren wie “Only the good die young” oder “We didn’t start the fire” steckt (zumindest, wenn man sie im Licht des Gesamtwerkes betrachtet), die mich seine Songs immer und immer wieder hören lässt, manchmal nur um mich wieder und wieder in diese ganz speziellen Glanzmomente des Versuchs, des Scheiterns und des Trosts zu begeben, von denen er singt; so wie etwa die musikalisch unglaublich rasante Schilderung der Ehe einer Abschlussballkönigin und ihres Königs, die dann wie jede andere verläuft, in “Scenes from an Italian Restaurant“.

“Brenda and Eddie were the
Popular steadies
And the king and the queen
Of the prom
Riding around with the car top down
and the radio on
Nobody looked any finer
Or was more of a hit at the Parkway Diner
We never knew we could want more Than that

out of life
Surely Brenda and Eddie would always know how to survive.”

Der Glaube, geboren aus dem Augenblick, in dem man ins Leben aufbricht; dieser Glaube, dass gerade sie es immer schaffen würden und wie dieser Glaube dann aussieht nach einigen Jahren, wie die Nostalgie aufsteht, wenn man sich die Geschichten erzählt und den Glauben nochmal heraufbeschwört, als etwas jetzt Unmögliches (“They lived for a while/ in a Very nice style/ But it’s always the same in the end/ They got a divorce/ as a matter of course/ And they parted the closest/ Of friends/ Then the king and the queen/ went Back to the green/ But you can never go back there again.”) – ich kann es nicht besser sagen, als dass es einen wirklich packt. Diese “you can never go back there again”, ist musikalisch selten so versiert (außer vielleicht noch von Neil Young in einem wesentlich größeren Kontext) aufbereit worden wie in einigen Songs von Billy Joel. Ebenso die wunderbare Schönheit die in der Vergänglichkeit liegt.

“So come on Virginia, show me a sign.
Send up a signal, I’ll throw you the line.
The stained-glass curtain you’re hiding behind
never lets in the sun.
Darlin’, only the good die young.
[…]
They say there’s a heaven for those who will wait.
Some say it’s better, but I say it ain’t.
I’d rather laugh with the sinners than cry with the saints,
the sinners are much more fun.

You know that only the good die young.”

(Aus dem Song “Only the good die young”)

Joels musikalisches Lebenswerk, das immerhin seit 1993 keine neuen Alben (nur ein paar wenige Singles) mehr umfasst, kann eigentlich nicht in Worte gefasst werden. Dieser Wanderer zwischen Klassik und Pop, dessen Songs immer wieder andere Seiten des variablen Genres Rock’n’Roll ansprachen, es mit Jazz, Soul, World und Klassik mischten – er ist in der Tat einer der vielseitigsten Rock-Musiker des 20. Jahrhunderts und hat bei dieser Auszeichnung doch nie sein positive Entertainerimage verloren.

Da ist das Furiose in seinem Werk und das Stille – Songs wie “She’s Always a woman” sind fast besser als jedes Gedicht und “Only the good die young” kann mit seiner Handlung und der dazu passenden unbändigen Euphorie einen ganzen Teenagerfilm ersetzen. Und da ist diese ganz besondere große Kraft in seiner Musik, z.B. in “Captain Jack”, diesem Abgesang auf das Leben schlechthin, die (wie bei jeder guten Popmusik) von Zeit zu Zeit beim Anhören hervortritt, in die Stille, um sie mehr als auszufüllen, um sie tatsächlich zu überwiegen, auszublenden, einzuschenken.

“She can kill with a smile
She can wound with her eyes
She can ruin your faith with her casual lies
[…]
And she’ll promise you more
Than the Garden of Eden
Then she’ll carelessly cut you
And laugh while you’re bleedin’
But she’ll bring out the best
And the worst you can be
Blame it all on yourself
Cause she’s always a woman to me”

Es ist wahrlich wirklich unmöglich gerade die musikalische Seite von Billy Joels Werk gebührend in einem Text zu besprechen, hervorzuheben, ohne sich nachher in Einflussheranziehungen und Bezeichnungen von Musikrichtungen zu verirren. Am besten traf Joel es wohl selbst als er sang: “Everybody’s talkin’ ’bout the new sound/ Funny, but it’s still rock and roll to me.” Rock’n’Roll, im Kern (und in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes, kombiniert mit Elementen von Klassik) ist er das Gebiet, auf dem Billy Joel brilliert; ein Rock’n’Roll, der mit dem Klavier Auf- und Untergeht, Rock’n’Roll als Entertainment, als ein Sound, der sich immer aufschwingt, egal in welcher Form – und, nicht zuletzt: Rock’n’Roll, als der Erzähler von den Mondscheinseiten des Lebens.

“There are people who have lost
every trace of human kindness
There are many who have fallen
there are some who still survive
[…]
Who’s standing now and who’s standing tomorrow
You’ve got to be hard
As hard as the rock in that old rock’n’roll
But that’s only part, you know in your heart
It’s all about soul”
(Aus dem Song “All about soul” von der Greatest Hits III)

II. Teil – Greates Hits III

“In the middle of the night
I go walking in my sleep
From the mountains of faith
To a river so deep
I must be looking for something
Something sacred I lost
But the river is wide
And it’s too hard to cross

And even though I know the river is wide
I walk down every evening and I stand on the shore
And try to cross to the opposite side
So I can finally find out what I’ve been looking for”
(River of Dreams)

Seit “River of Dreams” (1993) also seit mittlerweile 20 Jahren, hat Billy Joel keine Studioalben mehr veröffentlicht. Diese letzte Album liefert zusammen mit dem genialen Storm Front (1989) und dem ebenfalls guten The Bridge (1986) den Hauptanteil der Songs dieser dritten und wohl letzten Greatest Hits Sammlung, zuzüglich einiger Singles, die seither entstanden sind.

In dieser letzten Periode seines Schaffens gelang es Joel noch weiter zum Popstar zu avancieren und trotzdem hier und da seinen sehr verschiedenen musikalischen Einflüssen und thematischen Ausformungen treu zu bleiben. Dessen ungeachtet überwiegen vor allem die leiseren und ruhigere Töne, ohne dass die instrumentale Brillanz darunter leiden würde.

“Harry Truman, Doris Day, Red China, Johnny Ray
South Pacific, Walter Winchell, Joe DiMaggio

Joe McCarthy, Richard Nixon, Studebaker, Television
North Korea, South Korea, Marilyn Monroe

Rosenbergs, H Bomb, Sugar Ray, Panmunjom
Brando, The King And I, and The Catcher In The Rye

Eisenhower, Vaccine, England’s got a new queen
Maciano, Liberace, Santayana goodbye

We didn’t start the fire
It was always burning
Since the world’s been turning
We didn’t start the fire
No we didn’t light it
But we tried to fight it”

(We didn’t start the fire)

Nicht nur Joels rasante Aufarbeitung der amerikanischen Geschichte zwischen 1949-89, die vielen als großer Hit des Jahres 1989 bekannt ist, hat einen Supertext; auch in seinen letzten Singer-Songwriter Jahren schrieb Joel fast nur filigrane Texte, die er mit einer meist hypnotischen, das Thema auch tonal umreißenden/wiedergebenden Musik verband. Besonders deutlich wird das in Stücken wie dem düster-rhythmisch-opulenten “Downeaster Alexa”, wo es um die Fischer von Long Island geht, eine aussterbende Zunft und in dessen Musik man förmlich das Auf und Ab, Hin und Her der Wellen spüren kann – das Boot, den Windpfiff, die Segel, die Gezeiten. Bei Endzeilen wie “There ain’t much future for a man who works the sea/ But there ain’t no islands left for islanders like me” läuft einem dann ein echter Schauder über den Rücken, als wäre man im Auge des Orkans.

“This is the time to remember
‘Cause it will not last forever
These are the days to hold on to
‘Cause we won’t, although we’ll want to
This is the time,
But time is gonna change
You’ve given me the best of you

But now I need the rest of you”
(This is the Time)

Das Elegische und der Drang sind die größten Komponenten, die musikalisch hervorstechen, zusammen mit einer allseits gekonnten Symbiose aus Rock- und Klassikelementen. Die Universalität von Joels Stimme und Aufbereitung ist dabei wie immer unvergleichlich. Eigentlich ist es ein weiter Weg von dem Leonhard Cohen Cover von “Light as a breeze”, einem Song so voller Poesie, Blues und behäbiger, sparsamer Kraft bis zu dem stürmisch, klanggepuschten Sound von “I go to Extremes” – doch Joel schafft es, dass sie alle über Genregrenzen hinweg etwas gemeinsam haben, dass kein Stück aus der Sammlung heraus fällt und stattdessen jedes seine eigene Berechtigung hat, weil Musik, Text und Thema sich gegenseitig zu bedingen scheinen; anders gesagt: man hört irgendwann auf seine Songs in Genres einzuteilen und nach Klangfarben und Richtungen seine Vorlieben zu bestimmen und hört stattdessen jeden Song in der Sprache, die ihm mitgegeben ist, die er spricht, damit man ihn spüren kann.

Eine der intensivsten und dabei zugleich schlichtesten Erfahrungen ist dabei das Lied “And so it goes”, welches wohl jeder Liebende einmal auf einem Schild in die Höhe halten könnte, mit der Endzeile:

“So I would choose to be with you
That’s if the choice were mine to make
But you can make decisions too
And you can have this heart to break”

Es gibt tausend Gründe, gute Musik zu hören. Oft ist eine CD dabei ein berauschendes, erhebendes Erlebnis, aber selten ist es ein so durchgehend positives, vielfältiges Erleben, wie man es Stück für Stück bei diesem dritten Greatest Hits Album erfahren kann. Vom ryhthmusgetragenen “Keeping the faith” über das mitreißende “Matter of Trust”, welches ebenso wie “This is the time” von wesentlichen und mächtigen Erfahrungen in der Liebe spricht, über das unglaublich bewegende Stück einer Geschichte zwischen dem Aufwachsen in USA und Russland in “Leningrad”, dem Knaller “We didn’t start the fire”, dem beschwingten “I go to extremes”, dem Gedicht “And so it goes”, den beiden sehr großflächigen Stücken “Downeaster Alexa” und “All about soul” bis zum “River of dreams”, der irgendwie den Kreis mit “Keeping the faith schließt” und den drei Coverversionen von Dylan, Cohen und King ist es eine reichhaltige, bewegende und teilweise sehr lyrische Geschichte, die Joel für uns bereithält. Die Geschichte einer Werkauswahl, die ihresgleichen sucht.

Ja, bei Billy Joel kann ich sagen: Es ist eine Musik, durch die ich gelebt habe.

“And you’re weak and you’re harmless
and you’re sleeping in your harness
and the wind going wild
in the trees,
and it ain’t exactly prison
but you’ll never be forgiven
for whatever you’ve done
with the keys.

O baby I waited
so long for your kiss
for something to happen,
oh something like this.”

(Light as a breeze)

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen