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Zu “Frankenstein” von Mary Shelley


Frankenstein Wer glaubt in diesem Buch lediglich einem Monster und seinem Schöpfer zu begegnen, der wird schnell eines Besseren belehrt werden. Vielmehr ist Mary Shelleys Klassiker ein Buch über eine zutiefst von ihrer ausweglosen Existenz gepeinigte und von dieser Ausweglosigkeit getriebene Seele – und damit auch eine Geschichte des Menschen. Frankensteins Geschöpf ist ein Prototyp, ein Stellvertreter für das Dilemma des homo sapiens, einer zum Denken und komplexeren Empfinden verdammten Kreatur.

„Frankenstein“ gehört zu den Büchern, die in der Literaturgeschichte mehr durch ihre Bezüge verankert sind und weniger, weil viele Leute sie noch lesen. Das ist traurig, denn dieses Werk (das die Autorin mit 19 Jahren schrieb, in jenem Jahr, in dem wegen eines Vulkanausbruchs der Himmel verdunkelt blieb) ist ein exzellentes Beispiel für jene Variante des Roman, in dem komplexe Fragen erschlossen werden, aber im Zuge eines konstanten, mit Elementen der Spannung vorangetriebenen Narratives und nicht, wie später in den Romanen der Moderne, durch Verfremdungen und Modifikationen dieses Narratives.

Natürlich gibt es jede Menge spannende Kontexte, bei denen das Buch nach wie vor regelmäßig herbeizitiert wird: von den Gefahren der künstlichen Intelligenz, über die Frage nach dem Zusammenhang von Glück und Schönheit/Attraktivität und Fragen der Willensfreiheit, bis zur generellen Frage, ob der Mensch sich erdreisten kann, schöpferisch in die Natur einzugreifen, ohne möglicherweise etwas zu erschaffen, das ihn zu zerstören vermag.

Die neue Edition bei Manesse enthält ein gutes Anmerkungsverzeichnis und ein kluges, wenn auch mitunter etwas zu determinierendes Nachwort von Georg Klein. Das kleine, gebundene Format lädt darüber hinaus dazu ein, das Buch mit sich herumzutragen und den Bericht des Dr. Frankenstein bei allen kleinen Gelegenheiten hervorzuziehen und ihm weiter zu folgen.

Zur neuen Edition des “Kopfkissenbuch”s von Sei Shōnagon


Kopfkissenbuch

Jemand ist zu mir nach Hause gekommen und unterhält sich mit mir. Währenddessen reden meine Familienangehörigen im Nachbarzimmer laut und offen über die privatesten Angelegenheiten, und ich muss das mit anhören, ohne es unterbinden zu können. Ebenso peinlich ist es, wenn mein Geliebter im Vollrausch das Gleiche tut.

Die japanische Literatur kennt zwei frühe Werke, die von Autorinnen verfasst wurden und zur Weltliteratur gezählt werden müssen: Einmal „Genji Monogatari“ (Die Geschichte des Prinzen Genji) von Murasaki Shikibu, ein nach wie vor großartiger Roman, und das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon. Es gibt einige Parallelen zwischen den beiden Büchern, aber natürlich auch entscheidende Unterschiede.

Beide Autorinnen waren um etwa 1000 n.Chr. (eine Zeit lang auch gleichzeitig) Hofdamen am Kaiser*innenhof und ihre beiden Werke „spielen“ ebendort, berichten vom Leben, Lieben und den sonstigen Beschäftigungen der Elite des Landes. In ihren beiden Werken ist es hauptsächlich eine Mischung aus Klatsch, Intrigen und Nebensächlichem, welche die Handlung bestimmt.

Während sich Shikibu mehr auf die Geschichte ihres Prinzen konzentriert (dabei allerdings auch allerlei andere Geschichten und Blickwinkel einbindet, oft sehr geschickt), erhalten wir bei Shōnagon mehr Einblicke in die Welt und die privaten Momente eines damaligen Frauenlebens bei Hof. In ihrem Kopfkissenbuch hat sie nämlich alles notiert, von Befindlichkeiten und erotischen Details bis zu Anekdoten, Gerüchten und Vorgängen in den ihr bekannten Familien und Institutionen. Kurze, fast dem Haiku ähnliche Sentenzen und Notizen kommen ebenso vor wie längere Beschreibungen, Erzählungen.

Insgesamt sind es über 300 Einträge, zu denen sich in dieser Ausgabe ein umfassendes Anmerkungsverzeichnis, plus Nachwort und Begriffsregister, gesellt. Damit ist dieses Manessebuch, übersetzt und herausgegeben von Michael Stein, vermutlich die umfangreichste Edition auf dem Markt und somit auch die beste Art, sich diesem spannenden Werk und Meilenstein der autobiographischen Literatur zu nähern. Enthalten ist auch der ein oder andere Ratschlag, die ein oder andere philosophische Betrachtung, oft irgendwo zwischen Naivität und Weisheit liegend.

In unserer Welt verhält es sich doch so, dass unleidliche Dinge den Menschen grundsätzlich verhasst sind. Selbst der Verrückteste sollte eigentlich Wert darauf legen, sich nicht unbeliebt zu machen.

 

 

Zu dem Band “Suchers Welt – Literatur, 49 leidenschaftliche Empfehlungen”


Suchers Welt, Literatur Ich frage mich, ob es noch andere Leute gibt, die diese Art von Empfehlungsbüchern in großer Anzahl kaufen und lesen; ich jedenfalls habe ein Faible dafür. Vielleicht, weil ich Begeisterung mag, vielleicht, weil man in jedem dieser Bücher mindestens eine Entdeckung macht (sonst taugen sie nichts) oder vielleicht, weil sie einem immer wieder längst bekannte Werke nahelegen; manchmal so überzeugend, dass man sie direkt im Anschluss zur Hand nehmen will.

C. Bernd Suchers neunundvierzig Empfehlungen beherbergen allerhand Bekanntes, viel Erfreuliches und ein paar ungewöhnliche (und mitunter ebenfalls erfreuliche) Spezialitäten. Die Texte zu den einzelnen Büchern füllen 3-4 Seiten und haben leicht unterschiedliche Gewichtungen (auch je nachdem, welches Genre der Text hat), verlaufen dennoch meist auf ähnliche Weise.

Zu Anfang erzählt Sucher in der Regel, wie er mit dem Buch oder dem Autor in Berührung kam, gibt eine kurze Auskunft über den Inhalt und/oder den Verfasser. Im weiteren Verlauf schildert er dann, was er aus dem Buch für Erkenntnisse gewonnen hat, zitiert und verknüpft es nicht selten mit seiner eigenen Entwicklung. Leidenschaftlich sind diese Empfehlungen tatsächlich, dennoch auch behutsam und filigran, manchmal etwas beliebig, aber mit einem Zug zum Wesentlichen.

Ärgerlich ist allerdings eine Bemerkung aus dem Vorwort: „Dass unter den 49 nur zwei Autorinnen sind, beweist keineswegs eine misogyne Haltung. Allein, ich kann mit vielen, vor allem zeitgenössischen Autorinnen nicht allzu viel anfangen. Da ich aber nicht den Ehrgeiz habe, politisch korrekt zu lavieren, sondern wirklich nur jene Bücher nennen möchte, die ich auf jede unbewohnte Insel mitnehmen würde, sind eben nur die zwei geblieben.“

Diese halbseidene Rechtfertigung hätte mir fast das ganze Buch vermiest. Entweder man hinterfragt als Autor(*in) eines solchen Buches seine Lesegewohnheiten und handelt entsprechend oder man lässt es bleiben und setzt sich der rechtmäßigen Kritik an seiner Sammlung aus. Sich aber präventiv dazu zu äußern und so zu tun, als würden sämtliche Vorwürfe von vorneherein nicht zutreffen (weil: eh bemerkt, aber halt Geschmack, etc., da kann man nichts machen), das wirkt etwas armselig.

Auch an anderen Stellen beweist Sucher wenig Taktgefühl, zum Beispiel, wenn er das teilweise erniedrigende Frauenbild in James Joyce‘ „Ulysses“ schlicht zum Bereich der notwendigen Grenzüberschreitungen zählt, es zum Tabubruch stilisiert. „Ulysses“ ist in vielerlei Hinsicht ein tolles, innovatives Werk und Sucher schafft es, viele Vorzüge gut herauszuarbeiten. Aber man sollte auch als begeisterter Freund eines Werkes, nicht blind für dessen Fehler und Zeitgeisterscheinungen sein oder sie retuschieren, wegerklären.

Auf jeden Fall sollte man derlei nicht in Nebenbemerkungen verhandeln, sondern umfassender Stellung zu den Themen beziehen oder es gleich bleiben lassen. Es wirkt sonst, als wäre das ganze Thema für den Autor nur eine Lappalie, was ich nicht glaube. In seinem Text zu „Malina“ setzt sich Sucher jedenfalls sehr viel genauer und sensibler mit dem Stoff auseinander und weist vortrefflich nach, warum „Malina“ auch ein Buch über die Gewalt ist, die Männer an Frauen verüben. Solcherlei versöhnt, macht die anderen Schnitzer aber nicht wett.

Man kann in diesem Buch viele Entdeckungen machen und wer eine breite Palette erwartet, wird nicht enttäuscht werden. Es finden sich zwar keine Werke jüngeren Datums (nach 1970), aber die Spannweite ist ansonsten groß und reicht von Dantes „Die göttliche Komödie“ über Hans Henny Jahnns „Perrudja“ bis zu Pasolinis „Raggazi di vita“.

Überhaupt sei das Buch besonders denen ans Herz gelegt, die sich für Literatur interessieren, die homosexuelle Aspekte und Geschichten beinhaltet und behandelt – hier präsentiert Sucher ein paar wunderbare Beispiele und wagt sich unter anderem an eine Auseinandersetzung mit Shakespeares Sonetten.

Zu Eudora Weltys “Die Tochter des Optimisten”


Die Tochter des OptimistenHauptsächlich wegen ihrer Kurzgeschichten (aber auch wegen diesem, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman) gilt Eudora Welty als eine der wichtigsten US-Amerikanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, als Chronistin der Südstaaten und als weibliches Pendant zu William Faulkner. Zeit ihres Lebens wurde sie mit vielen Ehrungen bedacht und ihre Geschichten sind in manchen Südstaaten sogar Schullektüre.

Ihr letzter Roman (sie brachte danach nur noch Kurzgeschichten heraus) „Die Tochter des Optimisten“ spielt in Mississippi. Darin reist die Tochter des über 70jährigen Richters Judge McKelva, Laurel, aus Chicago an, um ihren Vater und dessen stets semi-hysterische, junge Gattin (sie ist wenige Jahre jünger als die Mitte 40jährige Tochter) zu einem Arzttermin zu begleiten. Es stellt sich heraus, dass die Netzhaut auf dem einen Auge eingerissen ist. Der Arzt führt eine Operation durch, nach der sich das Auge lange erholen muss, während der Patient ebenfalls ruhen und möglichst durchgehend stillliegen soll. Man richtet sich also im Krankenhaus ein.

Zwischen der Frau Fay und der Tochter Laurel geht es von Anfang an nicht heiter zu – Fay empfindet die Behandlung ihres Mannes und die Auflagen des Arztes als eine Zumutung und hat immer und überall etwas zu meckern, gleichzeitig ist sie ausgenommen weinerlich und neigt zu Ausfällen jeglicher Art. Laurel versucht die Verbindung zu ihrem Vater zu stärken, liest ihm vor und versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass sie einen kleineren Kulturschock durchmacht. Stoisch erträgt der Richter, seit jeher ein stichelnder Optimist, seine Genesungsauflagen. Doch allmählich scheint er auf dem Krankenbett in sich zusammenzufallen, in seinem Schweigen und Ruhen zu versinken …

Welty zeichnet in dem Buch ein minimalistisches, aber dennoch bestechendes Bild einer Südstaatengesellschaft, die sich in mitgehörten Gesprächen ausbreitet und die auch sonst überall subtil mitschwingt, ohne genau umrissen zu werden; wie bei William Faulkner ist ihre Darstellung dabei ungeschönt, aber auch ohne jede hinzugemischte Kritik. Sie lässt die Leute sprechen und man selbst denkt sich seinen Teil.

„Die Tochter des Optimisten“ ist ein langsames, sehr unspektakulär verfahrendes Buch, das vor allem in seinen Beobachtungen, seiner Präzision in den Dialogen glänzt. Für europäische Leser*innen erscheint es möglicherweise etwas weltfremd. Doch wer gerne Zwischentöne heraushört und bei einem Buch die unaufdringliche und unspektakuläre Entfaltung schätzt, der wird wohl kein besseres Buch finden als Weltys Roman.

NACHTRAG: Der Roman gehört zur rowohlt repertoire-Reihe, im Zuge derer der Verlag viele alte & vergriffene Titel neu auflegt. Darunter auch viele Titel von Autorinnen wie Susan George, Daniela Dahn, Ann Fairbairn, Ricarda Huch u.v.a.

Zu Italo Calvinos “Warum Klassiker lesen?”


Warum Klassiker lesen Italo Calvino war eine mannigfaltige und einzigartige Autorenpersönlichkeit. Man begegnet ihm an den unterschiedlichsten Orten – etwa in einem Buch über italienische Comickultur und in einer Agentenserie, in der ein männlicher Protagonist eines seiner Bücher im Flugzeug liest, dann aber auch in Studien zum metaexperimentellen und postmodernen Roman – und seine Werke stehen in den unterschiedlichsten Kontexten – in der Tradition von Oulipo, aber auch in der Tradition des italienischen Furioso und des magischen Realismus borgesker Prägung, der Widerstandsliteratur und einigen anderen – und aufgrund seines frühen Todes wird er gerne als verhinderter Nobelpreisträger genannt.

Viele seiner Bücher sind heute in Italien Volksgut und Schullektüre und erfreuen sich einer breiten Leser*innenschaft. Gleichzeitig sind sie oft unendlich komplex, was mit ihrer spielerischen Art auf einzigartig-verfängliche Weise in Zusammenhang steht. Calvino war ein großartiger Romancier und ein heiter-melancholischer Geschichtenerzähler, ein Tüftler und ein Metaphysiker.

Über sein eigenes Werk hinaus hat sich Calvino als Leser und Theoretiker einen Namen gemacht. Sein nur wenige Jahre vor seinem Tod publiziertes Werk „Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft“ legt davon ebenso Zeugnis ab wie die nach seinem Tod publizierten Harvard-Vorlesungen, die er nicht mehr halten konnte („Sechs Vorschläge für das nächste Jahrhundert“) und dieses Buch „Warum Klassiker lesen?“ mit Aufsätzen und Essays zu Büchern und Autoren.

Wer glaubt mit diesem Buch einfach nur auf eine weitere Leseanleitungssammlung zu den klassischen Texten gestoßen zu sein, der/die wird womöglich eine Überraschung erleben, wenn er/sie ein paar Seiten darin gelesen hat. Vielleicht wird er/ sie auch frustriert sein.
Denn zum einen Kreisen Calvinos Betrachtungen oft um Texte, die man als Klassiker nicht unbedingt auf dem Zettel hat (oder zumindest nicht als klassische Bücher von durchaus klassischen Autoren (leider sind es auch nur Bücher von männlichen Autoren)) und zum anderen kann man seine Ausführungen nur als „sprunghaft“ bezeichnen, so schnell saust er manchmal von Motiv zu Motiv oder klappt mit einem Mal eine ganze Gedankenpalette zu einem Gegenstand auf, die einem durch ihr dringliches Auftrumpfen mit allerlei Begriffen und Ideen schnell entgleitet und davonzurollen droht.

Dies klingt zunächst nach einer mühsamen Lektüre und es wäre auch ein Akt des Beschönigens, würde man Calvinos Essays als zugänglich und wohlstrukturiert bezeichnen. Dafür haben sie aber andere, furiose Qualitäten, die teilweise ihrem Chaos entspringen.
Zum einen zeigen sie auf nachhaltige Weise, wie komplex die Plots, Figuren und Motive von so unterschiedlichen Klassikern wie der Odyssee, Candide oder den Werken Raymond Queneaus sind, wie weit man sie in viele Richtungen denken kann. Er schildert diese Bücher nicht nur als große Geschichten, die man kennen sollte, sondern als Zugänge zur Welt, in denen Archetypen, wertvolle Vorstellungen und Problematiken das Licht der Welt erblickten, die uns jetzt, hier und heute, mehr denn je um die Ohren fliegen, sich in manchen Konflikterscheinungen und in vielen Darstellungen festgesetzt haben. Es gelingt ihm die ganze Besonderheit von vielen Autoren und ihren (oft unbekannteren) Werken hervorzukehren, umständlich manchmal, aber letztlich bestechend.

Denn die Texte sprühen zum anderen vor Begeisterung. Manchmal ein bisschen zu viel und hoch, das man fast die Augen abwenden muss. Aber das Gute daran ist: es geht ja auch nicht darum, ein Buch wirklich erklärt zu bekommen (dazu reichte ein Essay ja nicht aus), sondern darum, einen Eindruck zu bekommen und im besten Fall einen Initiationsmoment zu erleben, der einen dazu bringt, das Buch selbst zu lesen. Und dafür sind diese Texte mehr als geeignet, gerade weil sie vielleicht nach ein paar Sätzen schon übersprudeln und man sie nicht zu Ende liest – derweil man trotzdem fasziniert ist von dem Bild des Buches, das Calvino schon in den wenigen Zeilen skizziert und illuminiert hat.

Nicht alle Texte aus diesem Buch sind lesenswert. Manche sind bestimmten Lieblingsbüchern von Calvino gewidmet, die wohl kein/e andere/r Leser*in, vor allem nicht ohne Kenntnis des Italienischen, so begeistert lesen wird. Dafür gibt es Texte (bspw. zur Odyssee, zu Denis Diderot, zu Charles Dickens und Mark Twain), die wirklich großartig sind, ungeordnet und überladen, aber eine Reise wert, die vielleicht keinen Ursprungsgedanken verfolgt oder ein klares Ziel vor Augen hat, aber die pure Freude am Entdecken und Beobachten der vielen Stärken und Einzigartigkeiten der Bücher zum Ausdruck bringt und damit die Bedeutung und Schönheit dieser Facetten hervorhebt.

Keines von Calvinos Büchern ist leichte Kost, aus unterschiedlichen Gründen. Aber wer Bücher sucht, die einen etwas aufhalten, aber dabei auch zu ganz vielen Anregungen führen, zu Rätseln und kleinen Offenbarungen, denen Aberwitz und Nachdenklichkeit innewohnen und die einem vieles im gleichen Moment erzählen, der wird hier fündig werden – in diesem Buch und im ganzen Werk von Italo Calvino.

 

Kleine Empfehlung zu Iso Camartin: “Die Bibliothek von Pila”


“Es kommt vor, dass der Ort, an dem du dich befindest, und die Zeit, die du lesend verbringst, dir auf einmal abhanden kommen. Dein Körper fühlt plötzlich nicht mehr, dass der Ellbogen sich am Holztisch abstützt. Die Maserungen an der gegenüberliegenden Wand, ansonsten ein für die Augen wundersames Labyrinth, in dem sich leicht verfangen, lösen sich auf, sind wie ausgewischt. Der unbequeme Stuhl, die Schuhe an den Füßen, der Pullover um die Schultern, alles ist fortgeweht. […] Lesend verlierst du deine unmittelbare Lebenswelt, um in eine andere einzudringen. Vom fliegenden Teppich der Erzählung mitgetragen, bist du auf einmal in…”

Die Klassiker der Literatur sind dies nicht allein geworden, weil sie innovativ waren oder gegen die Zeit standen. Nein, Klassiker sind sie meist, weil sie in ihrem Thema derart präzise und in ihrem Wesen trotzdem derart unerschöpflich sind, sodass sich in der Geschichte ihrer Lektüre nie ein Ende abzuzeichnen beginnt, weil keine Generation sie vollständig erledigen kann (andere Bücher werden dagegen schon am ersten Veröffentlichungstag auf irgendeiner Zeitungsseite erledigt.)

“Lesen gilt als einsames Geschäft. Doch kaum steigt man in ein Buch ein wird man zum Komplizen fremder Geschichten. Zuerst fühlt man sich als der Angesprochene, dann als der Mitbetroffene, schließlich wird man so sehr zu einem Teil der erzählten Geschichte, dass man eingreifen möchte. So ist Lesen eine Tätigkeit, die leise und sacht aus der eigenen Einsamkeit in die fremde Gesellschaft hineinführt.”

Lesen ist vor allem ein Wunder in zwei Teilen: Der Moment des Erlebens und der Moment des Wiedererlebens. Während der erste einem ganz allein gehört, kann der andere in allem erscheinen, einem Gespräch, einem Bild, einer Erinnerung, einem Traums, einem Idee, der ganzen Welt.

“Im Folgenden tue ich nichts anderes, als wozu Dante jeden Leser ermuntert:
Bleib sitzen, Leser, auf der Bank und denke,
was ich dir aufgegeben, nochmals durch,
damit du Freude hast, statt müd zu werden.
Ich hab dir vorgelegt, nun stärke dich allein.”

Das “Folgende” ist eine wunderbare Handreichung zu wunderbaren Büchern. In 12 vielschichtigen Essays erkundet Iso Camartin seine Lektüren, gelesen während seines Aufenthalts in der Stadt Pila. Fast alle sind sie “Klassiker”, Bücher voller Hochgenuss und Zauber. Ganz persönlich und doch wieder allumfassend führt er uns an diese bedeutenden Bücher heran und zeigt uns ihren Witz, ihre Magie und die ihnen innewohnende Glückseligkeit.

“Klassiker sind Bücher der fernen und nahen Vergangenheit, deren Geheimnisse noch nicht ausgeplaudert sind. […] Es sind Bücher zu denen der Leser im Verlauf seines Lebens zurückkehrt, weil etwas, das er meistens selbst nur schlecht begreift, ihn wieder in sie hineinruft.”

Die Bibliothek von Pila ist ein heimisches Buch, ein Buch, das einen gelehrten oder freudigen Leser in sich selbst und seine Lieblingswerke zurückversetzt. Es ist zwar ein wenig intellektuell und wort- und stilgewandt, doch kommt es dabei (meistens) ohne große Psychologie oder akademische Ausflüchte aus. Die meisten Texte sind Essays, die sich an das wahre Credo ihrer Gattung halten: Erzähle und Beschreibe gleichermaßen, sei in deiner Form möglichst frei, sodass sich auch der Leser frei fühlt, und liefere viele Anregungen. Was diese Texte vorführen, sind, könnte man sagen, die kolorierten Landkarten der Bücher, die sie zum Thema haben.

“Es gibt Bücher, bei denen du es nicht verhindern kannst, mit in eine Affäre hineingezogen zu werden. Sie setzen dich an einem Ort ab, wo du niemals ohne sie hingelangt wärst. Und bald einmal begreifst du: Die glücklichen und schönen Einsätze deines Lebens verdankst du den Figuren deiner Lieblingsbücher”

Ich empfehle dieses Buch jedem, der noch einmal in der Welt träumen will, die er sich einst erlas oder die er in ihrer Vielfalt erst an der Hand eines begeisterten Lesers erkunden will – und auch allen Lesern, die gerne Bücher und Autoren, an die sie sich wegen ihres Rufs und ihrem Status als Klassiker bisher nicht gewagt haben, für sich entdecken möchten.

“Nur ein Bruchteil der Menschen braucht Bücher um erträglich zu leben. Wer Bücher als wichtigste Wegzehrung seiner Lebensreise ansieht, wird nur schwer begreifen, wie es ohne sie gehen könnte. […] Die Bibliothek von Pila ist jenes minimale Buchgepäck, mit dem einer sich auf eine Reise machen könnte, von der er nicht weiß, ob er je zurückkehren will.”

Inhalt:

1. Der Lebensbaum (Die Bibel)

Zitat: “Jeder kann die trockenen Belehrungen der Schule und die lästigen Verkürzungen des Religionsunterrichts heil überstehen, der die Bibel als einen riesigen Wörterbaum ansieht, unter den man sich legt, um tausend Zweige und Triebe bei ihrem Wachstum und ihrem Wildwuchs zu verfolgen. […] Auf jedem Ast, in jedem Zweig schimmert etwas im Licht der eigenen Neugierde.”
2. Die Weisheit und das Lächeln (Dante)

Zitat: “Kann dem Leser von Dante verborgen bleiben, wie häufig in der Commedia gelächelt wird?”
3. Eine Geschichte über Laura (Petraca)
4. Zwiegespräch (Denis Diderot)
5. Gefragt ist Charakter (Nikolai Gogol)
6. Die wahre Herzenskunde (Flaubert)

Zitat: “Wenn es in der Literatur irgendwo erfahrbar ist, was Stilsicherheit inmitten von Lachen und Weinen bedeutet, dann in dieser kurzen Erzählung (“Ein schlichtes Herz” – siehe: Drei Erzählungen) von Flaubert. […] Nie hat einer gleichzeitig so warmherzig geschrieben über die Kreatur und so blasphemisch über das, was wir aus ihr machen.”
7. Eine Dame und ein Frauenzimmer dazu (Theodor Fontane)
8. Die Augenlehre der Madame Chauchat (Thomas Mann)
9. Josefine oder der Freiraum einer Närrin (Franz Kafka)
10. Labil (Virginia Woolf)
11. DIe Einsamkeit des Arciprete don Trajella (Carlo Levi)
12. Kollege Pnin und die Konspiration (Nabokov)

Link zum Buch

*diese Rezension ist bereits in Teilen auf Amazon.de erschienen.

Etwas zu Flauberts: “Madame Bovary”


Wann immer das Gespräch auf große, durchkomponierte Romane kommt, wann immer man über den modernen Roman und seine Geschichte redet, gibt es einige Werke, um die man nicht herumzukommen scheint. Madame Bovary von Gustave Flaubert ist so ein Roman, ja, er wird sogar einvernehmlich in literarischen Kreisen als “erster” moderner Roman bezeichnet, sein Aufbau wird gerühmt, Flauberts Sprache und Psychologie gepriesen.

In der Tat kann man in verschiedenen Werken von Milan Kundera bis zu Mario Vargas Llosa diesen Roman behandelt finden – dort wird er natürlich auseinander genommen, eingefügt in einen Zusammenhang, sozusagen “instrumentalisiert”. Jeder, der wie ich vor der Lektüre des Romans zahlreiche Schriften über ihn gelesen hat, sieht ihn natürlich mit “anders definierten Augen”, wie André Gide sagen würde.

Neben der Größe und Auslegungsbreite des Buchs im Feuilleton und der Essayistik, schwingt immer wieder die Kraft der verruchten Aura mit, die diesem Roman von allen Seiten angetragen wird. Doch ähnlich wie Lady Chatterley ist auch “Madame Bovary” natürlich kein wirklich erotischer Roman, sondern eine psychologisch-menschliche Konflikt- und Lebensgeschichte, die tatsächlich in dieser Form nicht unbedingt das erste Mal (siehe z.B.: Balzac “Das Haus zur »Ballspielenden Katze«”), aber auf jeden Fall das erste Mal in so eindringlicher Klarheit, Tiefe und Nähe beschrieben wurde.

Die Handlung soll hier nicht genau unter die Lupe genommen werden, sie ist hinlänglich wohl bekannt und wenn nicht ist sie umso mehr und besser überraschend zu genießen; der Dreh und Angelpunkt sind sowieso die Charaktere, die so zweideutig sind, (ja geradezu eigensinnig) dass sie dem Ideal der Romanfigur, einer richtigen Person mit ambivalentem Selbst- und Weltverständnis und allerlei plötzlichen Regungen trotz eines festen Charakters, sehr nahe kommen. Flaubert mischt sich, so bemerkt man, so selten wie möglich als Erzähler wertend ein und dann auch nur wenn es um seine Hauptperson Emma Bovary geht, der noch am meisten definierten Person im ganzen Buch; ihre Figur schreitet wie durchleuchtet durch die Welt.

Mit stilistischer Bravour und Eleganz, weiß Flaubert immer genau wo er (physisch und blicktechnisch) als Erzähler zu stehen hat, um die beste Einstellung zu bekommen; so ist er zwar den größten Teil der Zeit bei Emma, in ihr, um sie, als wäre sie ein altes Ich (Flaubert meinte immer wieder: “Emma Bovary – das bin ich!”) um doch wieder (und eigentlich immer) allwissend über allem zu schweben und seine Blicke auch hier- und dorthin zu werfen, wo gerade etwas Interessantes einzufügen ist. Nebenbei finden sich natürlich unvergessliche Szenen und Beschreibungen in diesem Buch; eine der berühmtesten hat mir der Überschrift und einer sehr langen Kutschenfahrt zu tun.

Flaubert schrieb 5 Jahre an seinem Werk; lange haderte er mit den Sätzen und versuchte die (wir würden sagen ultimativen) Worte zu finden, die alles genau und möglichst poetisch, aber nicht schwülstig, beschreiben würden – man kann mit großer Sicherheit sagen, dass “Madame Bovary” den Roman auf alle Zeiten beeinflusst hat und ihn vielleicht auch dort hin gebracht hat, wo er heute ist. Vielleicht war es die konsequente Weiterentwicklung der Balzacschen Realistik, die wiederum eine Weiterentwicklung von Sternes (Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman) und Rabelais (Gargantua und Pantagruel) Romanabschweifungen war, die wiederum vom Urroman, dem Don Quijote des Cervantes herrühren; ja, vielleicht ist die Formstärke doch die größte Stärke der Literatur… zweifelsfrei ist eins: Flauberts 5 jährige Arbeit haben sich in dieser Prosa niedergeschlagen und gleichsam einen Spiegel UND ein Fenster geschaffen, dass Lesegenuss und Reflexion im gleichen Maße vereint.

Zur Übersetzung: Meine Übersetzung ist die von Maria Dessauer aus der Insel Verlag Zusammenstellung Romane und Erzählungen und hat mir persönlich hervorragend gefallen; sie ist flüssig, gekonnt, nicht übertrieben ältlich, nicht übertrieben modern und fängt die Sonnenstrahlen der Flaubertschen Prosa ein.

*diese Rezension ist teilweise bereits auf Amazon.de erschienen.

Das vergebliche Herz… Kleine Rezension zu Goethes Werther


“Ach so gewiss ist’s, dass unser Herz allein sein Glück macht.”

Ein anderer Rezensent sprach von diesem Buch als einem “Freund fürs Leben” und hat mir damit die Worte aus Mund und Herz genommen. Denn obgleich es (wie so oft bei Klassikern) beim Werther sicherlich in jedem von uns eine Vorstellung und sogar grundsätzliche Kenntnis über die “Story” gibt, ist der Werther ein reicheres und tieferes Buch, als je eine Studie aus zweiter Hand beleuchten könnte. Es hat eine ganz eigenwillige Tragik, als wären darin Drama und Empfindung ineinandergerauscht, um dann umeinander herumzuirren.

Die Geschichte, die Goethe in Briefen und am Ende mit kurzen Passagen des freien Erzählens aufrollt, ist in der Tat eine simple und doch hält sie zwei ewig reizende Themen bereit: unerwiderte Liebe und eine sensible, intelligente, sehnsüchtige Hauptfigur, ein Mensch “so gut wie die Sonne und meist so traurig wie der Regen”(Thomas Hardy) . Wie auch schon ein anderer Rezensent sagte, ist die Idee der Briefform eine wahre Meisterleistung Goethes (wenngleich er sie nicht erfand, hat er doch erkannt, dass sie den besten Rahmen für seine Geschichte bildet); durch diesen Kunstgriff kommt die Sehnsucht nach Transzendenz, nach Mitteilung, beinahe überbordend zum Ausdruck und doch ebenso die tiefe, umsichtige Erkenntnis, dass das Unsagbare ewig dem Einfühlen jedes Einzelnen überlassen bleibt:

“[…] die Flüsse strömten unter mir, und Wald und Gebirge erklang; und ich sah sie wirken und schaffen ineinander in den Tiefen der Erde, alle die unergründlichen Kräfte; […] Vom unzugänglichen Gebirge über die Einöde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der Wind weht der Geist des Ewigschaffenden, und freut sich jedes Staubes, der ihn vernimmt und lebt. […]”

Nun ist der Werther nicht nur ein schönes, sondern auch ein wirklich anrührendes und beinahe wandelndes Werk. Während man es liest vollzieht sich vor dem Auge eine Art freudigtrauriger Kurve. Denn obgleich Werther ein intelligenter und liebender, sehnsüchtiger Mensch ist, findet sich schon zu Anfang in den Tiefen des Romans eine vollendete Vergeblichkeit (- die sich übrigens durch Goethes ganzes belletristisches Werk, vom Faust bis zum Wilhelm Meister ziehen wird, mal schwächer, mal stärker ausgeprägt). Werther führt sie in aller unnostalgischen Klarheit in sein Herz:

“Ich kehre in mich selbst zurück und finde die Welt. Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft.”

“Musste denn das so sein, dass das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elends würde?”

“Dass ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müsst: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das heißen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wisst ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickelnn, warum sie geschah, warum sie geschehen musste? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein.”

Man könnte, wenn man die letzte Seite umschlägt, meinen, dass eine umfassende, beiderseitige Dankbarkeit in der Luft liegt, wenn man dieses Buch schließt. Das Buch ist dankbar und man selbst ist dankbar. Ganz natürlich fühlt sich das Buch in den Händen an…

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen

Kleine Empfehlung in Richtung Shakespeares “Romeo und Julia” in der Übersetzung Schlegel und Tieck


“Zwei Häuser, beid im Ansehen gleich, im schönen
Verona, unserm Schauplatz, feindlich wecken
Verjährten Hass in stolzgemuten Söhnen,
Die ihre Hand mit Bürgerblut beflecken.
Aus den zwei Feindeshäusern sehn wir sprießen,
Ein liebend Paar, das glühend sich erstrebt,
Um sternlos jung sein Leben zu beschließen,
Das seiner Väter Hass mit sich begräbt.
Des jungen Paars Liebesglück und Not,
Der Eltern grimmen Hass und schwere Sühne,
Die nichts versöhnte als der Kinder Tod,
Entrollt nun in zwei Stunden unsre Bühne.
Wollt ihr ein hold geduldig Ohr uns leihn,
Soll, was noch mangelhaft, bald besser sein.
(Nichts von dem Spiele sei euch eitler Schein:
Ein Werdender wird immer dankbar sein).”
-Prolog, der Satz in Klammern stammt aus dem Faust von Goethe-


William Shakespeare, der englische Poet, der die Dichtung universell machte, der sie schön klingen ließ und ihr dennoch vollkommene Gedanken eingab, der sie zur Dramatik, zum Erzählen und zum Lyrischen nutzte und der Literatur ewige Symbole sowie ewige Verse eingab – Ihn zu rühmen ist fast schon so etwas wie eine Tautologie; aber eine schöne Tautologie.

-Benvolio: “Beschwor sie der Enthaltsamkeit Gesetze?”
Romeo: “Sie tat’s und dieser Geiz vergeudet Schätze.
Denn Schönheit, die der Lust sich streng enthält,
Bringt um ihr Erb die ungeborne Welt
[…]
Sie schwor zu lieben ab und dies Gelübd
Ist Tod für den, der lebt, nur weil er liebt.”-

So finden wir Romeo vor, Sohn des Hauses Montague – der junge liebende Mensch schlechthin. Und wie jeder junge Mann seines Alters voller Verlangen nach Liebelust und voller Angst sie nicht zu erleben. Und wankelmütig ist sein Sehnen; liebt er am Anfang noch Rosalinde, ist er dann mit einem Mal, nur wegen eines Blick durch den Saal, von Julia bezaubert: “Liebt ich wohl je? Nein, schwör es ab, Gesicht!/ Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht.”
Julia ist ebenso angetan; wie Romeo erfährt sie jedoch bald, sie, die Tochter seines Vaters Erzfeindes Capulet, wem ihre Liebe gilt: “So ein’ge Lieb aus großem Hass entbrannt!/ Ich sah zu früh, den ich zu spät erkannt./ O Wunderwerk! ich fühle mich getrieben,/ Den ärgsten Feind aufs Zärtlichste zu lieben.”

Kann uns ein Stück das wahre Wesen der Liebe zeigen? Wohl kaum, denn wäre sie nicht unbestimmt, wäre sie nicht immer neu.
Aber es kann uns dennoch zeigen wie wirr und schön und schrecklich die Liebe in den Menschen walten kann und wie im Anfang viel in jeder einzelnen Liebe der großen Idee der Liebe gleicht. Sprache, gerade ältere, steht immer in Verdacht das gleiche zu meinen, wenn es auch anders gekleidet wird. Das dem einerseits so ist, aber andererseits dies gerade das ist, was Herz und Verstand zum Erinnern, Verstehen und Fassen brauchen, das kann man vielleicht nirgendwo so trefflich erkennen und begreifen wie bei “Romeo und Julia“. Wer kennt nicht Trennung und spürt was gemeint ist, wenn Julia sagt: “Nun gute Nacht. So süß ist Trennungswehe,/ Ich rief wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe.”
oder wenn sie am Morgen, um den Liebsten zu halten spricht:
“Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern.
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang;
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub, Lieber, mir: es war die Nachtigall.”

Das Stück ist von August Wilhelm von Schlegel, dem zumindest ich ewig dafür dankbar bin, wunderbar ins Deutsche übersetzt worden, mit Reim, Bildern, ja sogar mit etwas Witz. Niemand sollte sich schämen oder scheuen, Shakespeare ruhig, wenn er will, in (dieser) Übersetzung zu lesen. Der großartige Emerson schrieb auf einer Seite seiner Beobachtungen (Von der Schönheit des Guten): “Ich nehme gar keinen Anstand, alle guten Bücher in Übersetzungen zu lesen. Alles, was an einem Buch wirklich hervorragend ist, das ist auch übersetzbar: – jede tiefe Einsicht, jedes menschliche Gefühl.”

Dies alles zusammen, es ergibt ein wunderbares Leseerlebnis – und fern jeder modernen Furcht, Vernunft oder Vorbehalte kann man es auch lesen, einfach um der Schönheit, der Tragik und der Geschichte willen; dann ist es nicht mal eine schwere Lektüre, man muss nur einfach für sich die Schönheit bergen und nicht lesen, was man glaubt lesen zu sollen. Wie sagte Mercutio doch (und dies sei gleichsam Maxime für das Stück und diese kleine Hommage, wie auch das Schlusswort):

“Nehmt meine Meinung nach dem guten Sinn,
Und sucht nicht Spiele des Verstandes drin.”