“Es kommt vor, dass der Ort, an dem du dich befindest, und die Zeit, die du lesend verbringst, dir auf einmal abhanden kommen. Dein Körper fühlt plötzlich nicht mehr, dass der Ellbogen sich am Holztisch abstützt. Die Maserungen an der gegenüberliegenden Wand, ansonsten ein für die Augen wundersames Labyrinth, in dem sich leicht verfangen, lösen sich auf, sind wie ausgewischt. Der unbequeme Stuhl, die Schuhe an den Füßen, der Pullover um die Schultern, alles ist fortgeweht. […] Lesend verlierst du deine unmittelbare Lebenswelt, um in eine andere einzudringen. Vom fliegenden Teppich der Erzählung mitgetragen, bist du auf einmal in…”
Die Klassiker der Literatur sind dies nicht allein geworden, weil sie innovativ waren oder gegen die Zeit standen. Nein, Klassiker sind sie meist, weil sie in ihrem Thema derart präzise und in ihrem Wesen trotzdem derart unerschöpflich sind, sodass sich in der Geschichte ihrer Lektüre nie ein Ende abzuzeichnen beginnt, weil keine Generation sie vollständig erledigen kann (andere Bücher werden dagegen schon am ersten Veröffentlichungstag auf irgendeiner Zeitungsseite erledigt.)
“Lesen gilt als einsames Geschäft. Doch kaum steigt man in ein Buch ein wird man zum Komplizen fremder Geschichten. Zuerst fühlt man sich als der Angesprochene, dann als der Mitbetroffene, schließlich wird man so sehr zu einem Teil der erzählten Geschichte, dass man eingreifen möchte. So ist Lesen eine Tätigkeit, die leise und sacht aus der eigenen Einsamkeit in die fremde Gesellschaft hineinführt.”
Lesen ist vor allem ein Wunder in zwei Teilen: Der Moment des Erlebens und der Moment des Wiedererlebens. Während der erste einem ganz allein gehört, kann der andere in allem erscheinen, einem Gespräch, einem Bild, einer Erinnerung, einem Traums, einem Idee, der ganzen Welt.
“Im Folgenden tue ich nichts anderes, als wozu Dante jeden Leser ermuntert:
Bleib sitzen, Leser, auf der Bank und denke,
was ich dir aufgegeben, nochmals durch,
damit du Freude hast, statt müd zu werden.
Ich hab dir vorgelegt, nun stärke dich allein.”
Das “Folgende” ist eine wunderbare Handreichung zu wunderbaren Büchern. In 12 vielschichtigen Essays erkundet Iso Camartin seine Lektüren, gelesen während seines Aufenthalts in der Stadt Pila. Fast alle sind sie “Klassiker”, Bücher voller Hochgenuss und Zauber. Ganz persönlich und doch wieder allumfassend führt er uns an diese bedeutenden Bücher heran und zeigt uns ihren Witz, ihre Magie und die ihnen innewohnende Glückseligkeit.
“Klassiker sind Bücher der fernen und nahen Vergangenheit, deren Geheimnisse noch nicht ausgeplaudert sind. […] Es sind Bücher zu denen der Leser im Verlauf seines Lebens zurückkehrt, weil etwas, das er meistens selbst nur schlecht begreift, ihn wieder in sie hineinruft.”
Die Bibliothek von Pila ist ein heimisches Buch, ein Buch, das einen gelehrten oder freudigen Leser in sich selbst und seine Lieblingswerke zurückversetzt. Es ist zwar ein wenig intellektuell und wort- und stilgewandt, doch kommt es dabei (meistens) ohne große Psychologie oder akademische Ausflüchte aus. Die meisten Texte sind Essays, die sich an das wahre Credo ihrer Gattung halten: Erzähle und Beschreibe gleichermaßen, sei in deiner Form möglichst frei, sodass sich auch der Leser frei fühlt, und liefere viele Anregungen. Was diese Texte vorführen, sind, könnte man sagen, die kolorierten Landkarten der Bücher, die sie zum Thema haben.
“Es gibt Bücher, bei denen du es nicht verhindern kannst, mit in eine Affäre hineingezogen zu werden. Sie setzen dich an einem Ort ab, wo du niemals ohne sie hingelangt wärst. Und bald einmal begreifst du: Die glücklichen und schönen Einsätze deines Lebens verdankst du den Figuren deiner Lieblingsbücher”
Ich empfehle dieses Buch jedem, der noch einmal in der Welt träumen will, die er sich einst erlas oder die er in ihrer Vielfalt erst an der Hand eines begeisterten Lesers erkunden will – und auch allen Lesern, die gerne Bücher und Autoren, an die sie sich wegen ihres Rufs und ihrem Status als Klassiker bisher nicht gewagt haben, für sich entdecken möchten.
“Nur ein Bruchteil der Menschen braucht Bücher um erträglich zu leben. Wer Bücher als wichtigste Wegzehrung seiner Lebensreise ansieht, wird nur schwer begreifen, wie es ohne sie gehen könnte. […] Die Bibliothek von Pila ist jenes minimale Buchgepäck, mit dem einer sich auf eine Reise machen könnte, von der er nicht weiß, ob er je zurückkehren will.”
Inhalt:
1. Der Lebensbaum (Die Bibel)
Zitat: “Jeder kann die trockenen Belehrungen der Schule und die lästigen Verkürzungen des Religionsunterrichts heil überstehen, der die Bibel als einen riesigen Wörterbaum ansieht, unter den man sich legt, um tausend Zweige und Triebe bei ihrem Wachstum und ihrem Wildwuchs zu verfolgen. […] Auf jedem Ast, in jedem Zweig schimmert etwas im Licht der eigenen Neugierde.”
2. Die Weisheit und das Lächeln (Dante)
Zitat: “Kann dem Leser von Dante verborgen bleiben, wie häufig in der Commedia gelächelt wird?”
3. Eine Geschichte über Laura (Petraca)
4. Zwiegespräch (Denis Diderot)
5. Gefragt ist Charakter (Nikolai Gogol)
6. Die wahre Herzenskunde (Flaubert)
Zitat: “Wenn es in der Literatur irgendwo erfahrbar ist, was Stilsicherheit inmitten von Lachen und Weinen bedeutet, dann in dieser kurzen Erzählung (“Ein schlichtes Herz” – siehe: Drei Erzählungen) von Flaubert. […] Nie hat einer gleichzeitig so warmherzig geschrieben über die Kreatur und so blasphemisch über das, was wir aus ihr machen.”
7. Eine Dame und ein Frauenzimmer dazu (Theodor Fontane)
8. Die Augenlehre der Madame Chauchat (Thomas Mann)
9. Josefine oder der Freiraum einer Närrin (Franz Kafka)
10. Labil (Virginia Woolf)
11. DIe Einsamkeit des Arciprete don Trajella (Carlo Levi)
12. Kollege Pnin und die Konspiration (Nabokov)
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*diese Rezension ist bereits in Teilen auf Amazon.de erschienen.